Euthanasie als Krankenmord ging während der NS-Diktatur einher mit der Erprobung von Methoden zur systematischen und massenhaften Vernichtung von Menschenleben. Ausgelöscht wurden Heterogenität, Diversität, Individualität. Das Töten von Kranken brach mit einem Tabu und sorgte für eine Zäsur. Sie wirkt bis heute nach und zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit der historischen Verantwortung einst involvierter Anstalten.
Die Fokussierung auf einen bestimmten Menschentypus zwischen 1933 und 1945 kann als bekannt vorausgesetzt werden. Die Ärztin Johanna Haarer schrieb in ihrem „Erziehungsratgeber“, der erstmals im Jahr 1934 erschien: „Wir erleben heute einen groß angelegten Feldzug unserer Staatsführung mit, in dem das gesu
m das gesunde Erbgut und das rassisch Wertvolle zäh verteidigt werden gegen alles Krankhafte und Niedergehende.“ Nach den Aussagen von Karl Brandt, 1947 Hauptangeklagter beim Nürnberger NS-Ärzteprozess, war bereits 1935 Euthanasie für den Fall eines Krieges geplant. Hintergrund hierfür sei gewesen, dass „offenbare Widerstände, die von kirchlicher Seite zu erwarten wären, in dem allgemeinen Kriegsgeschehen nicht diese Rolle spielen würden wie sonst“.So unterzeichnete Adolf Hitler im Oktober 1939 auf privatem Briefpapier die Ermächtigung dazu. Reichsleiter Philipp Bouhler und Brandt wurden beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, „dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“. Diesem Erlass folgte kein Euthanasie-Gesetz. Gleichwohl sagte der Stellvertreter Bouhlers während des Ärzteprozesses in Nürnberg aus: „Das hat aber nichts damit zu tun, dass der Erlass selbst uns trotzdem allen als völlig rechtsverbindlich erschien.“Die Vernichtung von Patienten in Psychiatrien, in Pflege- und Heilanstalten war gleichsam ein „Vorlauf“ für die Maschinerie einer NS-Massenvernichtung. Und das in doppelter Weise. Wie der Publizist Ernst Klee notierte, waren „Gaswagen“ zur Ermordung Kranker „seit Oktober 1939 im Einsatz“. Bereits im Frühjahr 1940 sei die „planmäßige Vernichtung aller jüdischen Psychiatriepatienten“ durch Vergasung oder andere Ermordungstechniken verfügt und betrieben worden. Allerdings kam es verschiedentlich zu öffentlichem Protest gegen diese Mordpraxis. Als der zunahm, wurde die Euthanasie offiziell für beendet erklärt; tatsächlich lediglich die zentrale Lenkung aufgegeben. Weitergeführt wurde die massenhafte Ermordung Kranker in Kinderfachabteilungen von Heil- und Pflegeanstalten wie in Kliniken.Viele Täter entgingen der BestrafungDie beiden in Hitlers Euthanasie-Erlass benannten Hauptakteure überlebten die Nachkriegszeit nicht. Bouhler, Chef der Kanzlei Hitlers, wurde am 19. Mai 1945 von US-Truppen verhaftet. Auf der Fahrt in das Internierungslager Dachau beging er Selbstmord. Brandt wurde am 20. August 1947 im Ärzteprozess vor dem US-Militärgerichtshof zum Tod durch den Strang verurteilt und am 2. Juni 1948 im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg hingerichtet. Viele der Täter entgingen jedoch – trotz einer Anklage wegen Mordes – ihrer Bestrafung und verließen den Gerichtssaal ohne Urteil.Ihnen wurde attestiert, „verhandlungsunfähig“ zu sein, oder bescheinigt, dass ein „Verbotsirrtum“ vorliege. Was darunter zu verstehen war, veranschaulichten drei Kernsätze, wie sie beim ersten von der bundesdeutschen Justiz getragenen Frankfurter Euthanasie-Prozess 1967 formuliert wurden. Dort hieß es: Die im Rahmen von Euthanasie „durchgeführten Massentötungen (…) erfüllen den Tatbestand des Mordes im Sinne des § 211 StGB in der zur Tatzeit und in der heute gültigen Fassung“. Die Angeklagten hätten aber nicht schuldhaft gehandelt. „Es fehlte ihnen das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit.“ Da demnach Schuld entfiele, „waren die Angeklagten freizusprechen“.Häufig gelang den involvierten Ärzten und Juristen so der gleitende Übergang vom NS-Staat zu Funktionen in der Bundesrepublik. Ungeachtet dessen blieben die begangenen Verbrechen für die beteiligten Anstalten eine schwere Bürde. Der Umgang mit diesem Erbe konnte ausgesprochen konflikthaft sein, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen. So war die Heil- und Pflegeanstalt Erlangen (Hupfla) in der Weimarer Republik eine über Deutschland hinaus geschätzte Reformanstalt. Während der NS-Zeit beherbergte sie dann eine Kinderfachabteilung, die zum Ort grausamen Tötens wurde. Krankenakten jener Jahre zeugen von hemmungslosem Vernichtungswahn. Ihnen ist zu entnehmen, dass mehr als tausend Säuglinge und Kleinkinder durch eine medizinische Intervention wie die Giftspritze und/oder eine extreme Hungerkost zu Tode gequält wurden. In den 1970er Jahren wurde die Heil- und Pflegeanstalt verlegt, die Gebäude übergab man der Universität Erlangen. Um einen Neubau für medizinische Forschungszwecke zu errichten, war ein Abriss des Hupfla beschlossene Sache, der bereits begann, als noch über ein angemessenes Gedenken an die Euthanasie-Opfer gestritten wurde.Der Medizinethiker Andreas Frewer protestierte öffentlichkeitswirksam mit der Frage: „Würde jemand ein KZ abreißen?“ Zivilgesellschaftliche und antifaschistische Gruppen schlossen sich dem Protest an. Im Vorjahr eskalierte der Streit, weil der Tötungstrakt abgerissen werden sollte. Nur den Gebäudeteil, in dem die NS-Ärzte und das Pflegepersonal untergebracht waren, wollte man als Gedenkort erhalten. Der Widerstand galt dem Beseitigen authentischer Tatorte. Das Auschwitz-Komitee schloss sich den Forderungen an und verlangte den „weitestgehenden Erhalt“ des historischen Schauplatzes. „Besonders wichtig ist uns ein würdevolles Gedenken aller Opfergruppen.“ Susanne Kondoch-Krockow, Vorsitzende des Komitees, kritisierte in einem Interview: „Es muss möglich sein, Baupläne zu ändern.“Die betroffenen Einrichtungen scheuen den Blick in die GeschichteDoch der Freistaat Bayern hielt an seinen Plänen fest. Der Erlanger Bürgermeister insistierte, es müsse ohne Zeitverzug abgerissen werden, um die weitere Planung für den Uni-Neubau nicht zu gefährden. Die Abrissbagger rollten. Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 31. Mai 2023, am Ende habe aller Protest nicht geholfen. „Nicht die gesammelten Unterschriften, nicht die Bitten der ‚Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung‘, nicht die Forderungen von Historikern, Denkmalschützern, Medizinethikern, auch das Ersuchen der Jüdischen Kultusgemeinde nicht. Sogar die Schreiben des Auschwitz-Komitees gingen ins Leere. Sie alle wollten den Erhalt wenigstens eines Flügels der historischen ‚Heil und Pflegeanstalt‘ (Hupfla) in Erlangen. Sie alle hatten keinen Erfolg.“Auch die Historikerin Barbara Degen wehrte sich gegen das Vergessen der NS-Krankenmorde, indem sie an das Massensterben im Kinderhospital „Sonnenschein“ in Bethel/Bielefeld erinnerte. Die Bodelschwinghschen Anstalten waren eine Hochburg der NSDAP. 1938 leisteten die Theologen den Treueeid auf Hitler, zugleich stieg an gleicher Stelle die Zahl toter Säuglinge drastisch. Die Todesursachen wurden verschleiert. Vergeblich bemühte sich Barbara Degen um Zugang zum Hauptarchiv der Anstalt. Im Stadtarchiv Bielefeld stieß sie auf eine hohe Zahl standesamtlicher Sterbeurkunden, die sich auf Todesfälle im Kinderkrankenhaus Bethel nach 1933 bezogen.Als Degen 2014 erste Forschungsergebnisse veröffentlichte, reagierte die Leitung der Bodelschwinghschen Anstalten höchst ungehalten und warf der Historikerin eine nicht wissenschaftliche Arbeitsweise vor. In einer Veröffentlichung wurden deren Erkenntnisse mit den Worten diskreditiert: „voller sachlicher Fehler, haltloser Spekulationen und Missinterpretationen, kann fachwissenschaftlichen Standards nicht genügen.“ Man beauftragte den Historiker Karsten Wilke mit einem Gegengutachten, der freilich quantitativ und qualitativ zu ähnlichen Schlüssen wie Degen kam. Wilke beendete seine Untersuchung mit der Feststellung eines großen Forschungsdesiderats hinsichtlich der Todesursachen in Kinderfachkliniken und Krankenhäusern während der NS-Zeit: „Niemand kann derzeit sagen, ob ‚Sonnenscheins‘ Sterblichkeitsraten hoch, durchschnittlich oder möglicherweise sogar gering gewesen sind.“ Auch Degen hat über gravierende Forschungsdesiderate berichtet.Fest steht, dass die Auseinandersetzung mit der Euthanasie-Praxis betroffener Einrichtungen keineswegs abgeschlossen ist. Während das Betheler Kinderhospital eine Täterschaft leugnet, wird in Bezug auf das Erlanger Hupfla das Ausmaß der Beteiligung verschleiert. Dass Recherchen zu den NS-Krankenmorden behindert werden und der Erhalt authentischer Orte des Mahnens unterbleibt, lässt eine Schlussstrich-Mentalität vermuten. Der Sozialpsychologe und Holocaustforscher Harald Welzer meinte 1997: „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst.“Placeholder authorbio-1