Existenzkampf an der Tanke

Streaming Jens Balkenborg stellt nach „The Collapse“ fest, dass es uns vergleichsweise gut geht. Spoiler-Anteil: 13%
Ausgabe 51/2020

Dass es ausgerechnet in einem halb leer geräuberten Supermarkt losgeht, lässt The Collapse fast prophetisch erscheinen. Wo sich im ersten Corona-Lockdown im Frühjahr in Deutschland die Toilettenpapierjäger die Köpfe einschlugen, fehlt es zu Beginn der französischen Miniserie (zu streamen auf Joyn) an Grundnahrungsmitteln und Binden. „2 Tage danach“ erklärt eine Einblendung, und es ist eine der vielen klugen Entscheidungen, dass das Davor nie konkret wird. Mit jeder Folge entfernt sich die Anthologieserie zeitlich weiter weg von dem nicht genauer definierten Kollaps und lässt uns Ausnahmesituationen an verschiedenen Orten erleben: acht Mikrokosmen mit unterschiedlichen Menschen im Eskalationsmodus und einigen personellen Berührungspunkten.

Die Betonung liegt auf dem Erleben, denn die für einen Emmy als beste Miniserie nominierte Produktion geht einen für eine Serie formalästhetisch innovativen Weg: Jede der rund 20-minütigen Folgen wurde in einem einzigen Take abgedreht. Und das fühlt sich, allen Nachteilen dieses Anthologieformats – keine langfristige Charakterentwicklung, sich wiederholende dramaturgische Strukturen etc. – zum Trotz, frisch an. Anstatt einen langen erzählerischen Atem sucht The Collapse die unangenehm-unmittelbare, authentische Konfrontation. Die formale Ausgestaltung steht dabei völlig im Dienste der Erzählung und verkommt nicht zur exponierten Technikschau, wie etwa in Sam Mendes’ Kriegsepos 1917, der zwar geschnitten wurde, aber so tat, als sei er ein One-Take-Film.

Mit haltlosen Bildern (Kamera: Clémence Plaquet) werden wir hineingeworfen in Mikro- und Makrodramen. Etwa in besagte erste Folge, zwischen Supermarktregale, wo eine Frau ihren als Kassierer arbeitenden Freund überreden will, mit ihr und der Clique abzuhauen und vorher noch Binden aus dem Lager zu klauen. Hier, kurz nach dem Kollaps, wehen Zweifel am Zusammenbruch der alten Ordnung mit, die in den kommenden Folgen bereits ad acta gelegt sind. Das übergeordnete Chaos manifestiert sich an den Rändern unserer Wahrnehmung und konkretisiert sich in den Existenzkämpfen an einer Tankstelle, einem kurz vor der Havarie stehenden Atomkraftwerk oder in einem Altersheim.

Dass Produktionen wie The Collapse oder auch die ZDF-Virus-Serie Sløborn in diesem verflixten Jahr starten, stellt sie in ein völlig anderes Licht. Denn wenn die eigene Krise vor der Haustür steht, müssen sich Endzeitszenarien mehr denn je an der Wirklichkeit messen lassen. Unter anderem mag das in der ersten Jahreshälfte dazu geführt haben, dass das Genre eine regelrechte Renaissance feierte. Sicher: Nach acht Monaten Corona-Sitzfleisch und vielen Nerven mag die Faszination am Endzeitmodus mittlerweile Verdruss und Eskapismuswünschen gewichen sein. Lohnenswert ist The Collapse dennoch, denn die Serie setzt sich vom Gros des Genres ab. Und außerdem: Verglichen mit den Zuständen in The Collapse geht’s uns doch echt noch extrem gut!

Die Macher Jérémy Bernard, Guillaume Desjardins und Bastien Ughetto vom Kollektiv Les Parasites drehen den Krisenmodus eine ganze Spur weiter, verorten ihn aber bewusst in einer Welt, die nah dran ist an unserer eigenen. Ins Zentrum rücken sie die Frage, was Krisen mit den Menschen machen (können); mit Menschen aus allen sozialen Schichten, vom Tankstellenwart bis zu jenem stinkreichen Schnösel, der sich ein paar Kunstwerke unter den Arm klemmt und zum Flugplatz hetzt, um den Flieger ins ersehnte Prepper-Paradies zu nehmen. Es geht um Egoismus, um Nächstenliebe und um Selbstlosigkeit, etwa in jener Folge im Altersheim, in der sich ein junger Pfleger 50 Tage nach dem GAU noch liebevoll um die alten Menschen kümmert. Auch er wird zu einer existenziellen Entscheidung genötigt. Es gibt kein einfaches Gut-Böse-Schema in The Collapse, die Moral bleibt von Krisen nicht verschont.

Nicht alle Episoden sind gleich stark und gerade die letzte, zugleich die einzige, die kurz vor dem Kollaps spielt, in einer Live-Fernseh-Talkrunde, verfällt in einen arg politisch-aktivistischen Ton. Das wirkt nach den teils drängenden, dicht inszenierten Folgen plump. Doch es passt ins Bild dieser Serie, die betont umweltfreundlich realisiert wurde und die die produktive politisch-gesellschaftliche Reibung sucht.The Collapse wird damit auch zum Vehikel für die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik.

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