Fien Veldmans Roman „Xerox“: Die Wirklichkeit der Arbeiterklasse erzeugt schwitzige Hände
Rezension Fien Veldmans namenlose Protagonistin hat den sozialen Aufstieg geschafft und hasst ihre Kollegen. Verbundenheit empfindet sie im phänomenalen Roman „Xerox“ nur mit ihrem Drucker
Die Protagonistin in „Xerox“ fühlt sich niemandem verbunden – nur ihrem Drucker
Als Siegfried Kracauer die Recherchen für seine berühmte Studie Die Angestellten (1929) beginnt, stößt er auf Unverständnis. Zu hören bekommt er: „Das steht doch schon alles in den Romanen.“ Dank kommunistischer Kulturpolitik gab es in der Tat eine Zeit, in der schreibende Arbeiter Arbeitswelten realistisch schilderten und so kritisierten. Die gut betuchten Protagonisten der Literatur der Jahrtausendwende schienen wiederum überhaupt keiner Arbeit mehr nachgehen zu müssen. Erst im Ergebnis der globalen Finanzkrise wurde gelegentlich wieder gearbeitet, doch meist nur als „Tragödie der Leistungsträger“, in der sich die Angst der studierten Mittelklassen vor dem Abstieg ausdrückt.
In diesem Kontext ist ein Roman, der
Roman, der die Arbeitswelt von unten erzählt, ein Ereignis. Fien Veldmans namenlose Protagonistin ist eine Arbeiterin um die 30, aus proletarischen Verhältnissen in der holländischen Provinz. „Wir lebten am Rand der Gesellschaft“: falsche Postleitzahl, falsche Sprache, falsche Kleidung, falsches Leben. Xerox ist der erste Roman der 1990 in Leeuwarden geborenen Journalistin und Kritikerin.Aber es gibt stets noch Ärmere, den Teil der Klasse, der sich selbst aufgegeben hat. Der Aufstiegswille führt die Protagonistin durchs Gymnasium. Sie studiert. Auf der Arbeit durchleidet sie die Heimatlosigkeit der Sozialaufsteigerin, die dort, wo sie herkommt, nicht mehr hingehört, aber dort, wo sie hinwollte, nicht hineingehört.Sie arbeitet in einem nicht mehr taufrischen Start-up mit insgesamt 30 Beschäftigten als Poststelle, dem „am schlechtesten bezahlten Job (vom Putzpersonal abgesehen)“. Als eine Kollegin über einen längeren Zeitraum verreist, übernimmt sie auch den digitalen Kundenservice: „Verdopplung meiner Aufgaben“ ohne „mehr Geld“.Die Angst frisst ihre Seele aufIhre Arbeit empfindet sie als „extrem eintönig“ und „geisttötend“. Es existiert nicht einmal der Schein der Selbstverwirklichung durch Arbeit. Und wie es sich für ein ordentliches Start-up gehört, sollen freilich Hierarchien flach erscheinen. „Mein Chef hat mich höflich gebeten, dabei hätte ich sowieso nicht nein sagen können.“Die Wirklichkeit der Arbeiterklasse ist durch routinisierte und zahlenoptimierte Arbeit unter ständiger Kontrolle geprägt, getrieben von Angst. Die Erfahrung des Bürgerkinds ist: Fällst du einmal, hebt dich deine Familie mit ihrem ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital wieder auf. Die Erfahrung des Arbeiterkinds: Fällst du einmal, stehst du nie wieder auf.Der Leser bekommt schwitzige Hände, weil die Angst der Protagonistin mit denselben zu greifen ist: Panik wallt auf, wenn nur „langsam Schritte auf dem weichen Teppich vor der Tür“ zu hören sind. Die Angst frisst ihre Seele auf. Sie perlt als Schweiß aus ihrer Achselhöhle, wenn ihr Büroleben mit Drucker in Gefahr gerät. Überall lauert die Katastrophe: ein neues 9/11, Krieg, Klimakatastrophe, Einbrecher. Und der Femizid, den das Konfrontieren von Männern mit sich bringen kann.Die Angst ist jedoch nicht individuelles, sie ist Kollektivschicksal. Sie wurzelt in der Arbeit, den Geschlechterverhältnissen und Machtstrukturen in Gesellschaft und Staat. Ein „stählernes Gehäuse der Hörigkeit“ sperrt die Arbeiter in eine kafkaesk undurchschaubare Welt: der Chef, die Personalabteilung, die behauptet, auch nur Vorschriften zu exekutieren, der Arzt, der ihr in einer lebensbedrohlichen Situation Unterstützung verweigert, der Hausmeister, der ein womöglich bedrohliches Post-it an die Tür klebt, der Zwangsvollstrecker, der die wenigen Habseligkeiten des Vaters aus dem Haus schleppt, weil der eine Rate für die Krankenversicherung nicht zahlen kann.Historisch wurde die Angst der Arbeiter immer wieder durch ihre Solidarität aufgehoben. Davon findet sich hier keine Spur. Die Protagonistin mag Menschen nicht. Ihre Kollegen hasst sie. Soziale Situationen meidet sie. Verbundenheit empfindet sie nur mit ihrem Drucker. Er erscheint ihr als verständiger Partner, der Chef hingegen als Roboter. „Wenn irgendjemand weiß, wer ich bin, dann dieser Drucker.“ Entsprechend wunderlich wird sie und verliert ob ihrer Gespräche mit dem Gerät ihren Job, wird zu halbem Gehalt „freigestellt“.Die Kollegen geben auch wenig Anlass zu Solidarität. Obwohl allen klar sei, dass sie nicht zurückkehrt, sagt niemand ein Wort. Die Arbeiter sind Marx’sche „Charaktermasken“. Sie erscheinen nur als „Chef“, „Partnerships“, „Projekt“, „Sales“, „Marketing“, „PR“, „Office Management“, „HR“. Sie verschmelzen mit ihren Funktionen im Produktionsprozess, was sie als Menschen austauschbar macht. Selbst das Unternehmen bleibt namenlos.Nanni Balestrini, der italienische Schriftsteller aus den Reihen der Potere Operaio, gewährte seinen kämpferischen Figuren keinen Subjektstatus jenseits des „Wir“. Veldman erzählt in der Ersten Person Singular; deren Ich aber löst sich, magisch-realistisch erzählt, zunehmend auf: „Eigentlich dachte ich immer, ich sähe die Dinge an, dabei ist es andersherum: Die Dinge sehen mich an!“Herman Melvilles Bartleby, der Bürogehilfe, der als Spiritus Rector über dem Roman schwebt, lehnte am Ende des Tages noch das Kopieren, seine basalste Aufgabe, ab: „I would prefer not to.“ Veldmans Protagonistin hingegen kennt diese Verweigerungsgeste nicht. Sie kopiert, was auch ihre Aufgabe ist, weiter, versendet Briefe. Es gehört zum Witz der Veldman’schen Allegorie: Am Ende weist die Maschine einen größeren subversiven Willen auf als der Mensch. Sie betreibt Sabotage, indem sie im Druckvorgang das Papier aufraut. Sie streikt: „Fehlercode 001, Papierstau.“ Der Techniker beschreibt ihre Produktionsmacht: „Wenn das Papier einmal im Gerät ist, ist es ihm ausgeliefert.“Mancher mag Veldman vorwerfen, Wasser auf die Mühlen derer zu geben, die, wie Precht, Lanz und Fleischhauer, gerne aus ihrem bequemen Lehnsessel die Gen Z für ihre mangelnde Arbeitsmoral und die IG Metall für die Viertagewoche-Forderung schelten, weil sie am Flughafen mal wieder zu lange auf ihren Koffer warten mussten. Veldmans Protagonistin agiert neurotisch, hat keine „social skills“. Eines aber kann man ihr gewiss nicht vorwerfen: eine gute Work-Life-Balance anzustreben. Sie schildert eine Welt, wie sie Thatcher erträumte: „There is no such thing as society.“ An die Leerstelle der Solidarität, die nur als verblasster Jugendtraum fortlebt, tritt die Krankheit. Die Allergie wird zur Allegorie. Dass die Protagonistin mit einer Herzattacke buchstäblich in der Gosse landet, sei „eine Autoimmunreaktion. Mein Körper entscheidet darüber, was ich verkraften kann, sagt der Arzt“. Die Bedrängungen des Ichs führen zur Sehnsucht nach Regression. Immer wieder zieht die Protagonistin sich in Gefahr und größter Not in die „Fötushaltung“ zurück.In der zweiten Hälfte wird der Drucker zum allwissenden Ich-Erzähler, der unbequeme Wahrheiten verkündet: „Jeder Mensch möchte mehr sein als ein Rädchen in einer Maschine … Aber … jeder Mitarbeiter ist eine Marionette, und wenn die Marionette kaputtgeht, entzweibricht oder durch die Zahnräder der Maschine zermalmt wird, ist das für das Bürosystem überhaupt nicht schlimm.“ Während der Mensch sich fügt, ist es die Maschine, die mehr vom „Leben“ will. Sie denkt: „Jenseits meiner Sehnsucht nach Selbsterhaltung gibt es da noch etwas … Leben sollte mehr sein als einfach nur Fortbestehen.“Die Protagonistin reagiert auf eine kranke Gesellschaft mit Krankheit. Sie will sich gar nicht selbst optimieren. Sie begehrt nur ihren Drucker zurück. Im Versuch, ihn wiederaufzutreiben, kehrt eine Spur Handlungsfähigkeit zurück. Vielleicht ist dies genau die Botschaft des Romans, eine Letztlich-doch-Verweigerung. Und doch muss, wenn Leiden enden soll, einst der Tag kommen, an dem an die Stelle des verschämten, ängstlichen Abweichens, Ausweichens, Nichthinreichens auch wieder das machtvolle kollektive Dagegenhalten tritt, das die Weichen neu auf besser, menschlicher stellt, der Tag, an dem die Arbeiterklasse in Literatur und Politik und auch im Bild von sich selbst nicht mehr nur das Opfer ist, sondern wieder „das Bauvolk der kommenden Welt“.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.