„Ohne Fleiß, kein Preis“: Die große Lüge des Kapitalismus
Essay Das kapitalistische Märchen, jeder Verdienst sei verdient und Glück notwendige Folge von Fleiß, führt ins Elend. Doch der Wunsch, sich einzubringen, steckt im Menschen – was nun?
In der Leistungsgesellschaft verrenken sich alle, das tut nicht jedem gut. Manchen hilft es, sich auf den Kopf zu stellen
Foto: Melissa Schriek
Die Leistungsgesellschaft ist eine noch recht junge und ziemlich geniale Erfindung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Sie verschafft der allgegenwärtigen Ungleichheit ausreichend Akzeptanz und stiftet Vertrauen. Dieses Vertrauen baut darauf, dass alle, die etwas leisten, dafür belohnt werden. Der Glaube, der Lohn sei die Bezahlung für eine erbrachte Leistung, sitzt tief und ist schlecht zu erschüttern. Er ist für Gesellschaften so wichtig, wie für die Katholische Kirche das unerschütterliche Vertrauen auf Gott. Davon abzufallen wäre Frevel oder Anarchie.
Da nützt auch nicht die Erkenntnis, dass sich die Vorstellung von Leistung erst um 1900 zu wandeln begann. Noch im 18. Jahrhundert spielte der Begriff kaum eine normative Rolle. D
e Rolle. Das bürgerliche Bildungsideal zielte zuerst einmal auf „umfassende Selbstvervollkommnung und harmonische Entwicklung hin zum ‚ganzen Menschen“‘, wie die Autorin Nina Verheyen in ihrem 2018 erschienenen Buch Die Erfindung der Leistung schrieb.Die Physik hat nach der Entdeckung der linearen Zeit Leistung als Quotienten aus Arbeit und Zeit definier. Karl Marx verdanken wir den Begriff der abstrakten Arbeit, der es ermöglicht, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Frederick Winslow Taylor verwarf mit seinen Zeitstudien und Rationalisierungsvorschlägen die Vorstellung von der Subjektivität der Arbeit – er unterwarf das Subjekt den gesetzten Standards und der Taktung von Produktionsprozessen. Die Psychotechnik stellte dem Ganzen die Psychologie der Lohnarbeit zur Seite und erfand unter anderem die Eignungstests, um die gemietete Arbeitskraft optimal ausnutzen zu können.Eine unscharfe Angelegenheit wie „Lebensleistung“ bleibt populär – bis ins GrabDer Formel „Arbeit pro Zeiteinheit“ lag ein mechanisch-technisches Verständnis von Leistung zugrunde, und über allem schwebte die Vorstellung, dass jeder Mensch sein Glück schmieden kann. Denn irgendetwas brauchen wir ja, um uns für die tägliche Müh der Lohnarbeit zu motivieren.Wer sich dem anheimstellt, trägt dazu bei, dass eine so unscharfe Angelegenheit wie „Lebensleistung“ ungebrochen populär bleibt und es sogar als Inschrift bis auf die Grabsteine schafft. Die Konkurrenzlogik hat sich in unsere Hirne gegraben und prägt – in Allianz mit der Herrschaft der Zählbarkeit – unser Bewusstsein. Wie verdreht das ist, hat die Satireseite Postillon im Jahr 2016 mit dem schönen Satz beschrieben: „62 fleißigste Menschen sind genauso reich, wie 3,7 Milliarden faulste Menschen zusammen.“Angesichts der absurden, ganz und gar nicht leistungsgerechten Verteilung von Vermögen gerät der Kapitalismus in Erklärungsnot. Zur Verteidigung wollen dessen Anhänger, gewissermaßen in einer Parallelwirklichkeit festhängend, beweisen, dass Leistung regelmäßig, systematisch und gerecht belohnt würde. Und nehmen Widersprüche in Kauf, etwa den, dass einer der neoliberalen Vordenker, Friedrich August von Hayek, das Wirken des Marktes als einen unpersönlichen Prozess beschrieb, weshalb er auf keinen Fall Rücksicht auf die Bedürfnisse und Verdienste nehmen könne. Gerade weil er dies nicht tue und Leistung ignoriere, sei er so effizient. Das klingt verrückt angesichts der regelmäßig aufploppenden Wahlsprüche, dass Leistung sich lohnen müsse, wieder lohnen müsse, nicht mehr lohne, wenn die sozialen Hängematten zur Faulheit einlüden.Was macht die Pflegekraft im Vergleich zum Fondsmanager falsch?Warum sollte das so sein in einer warenförmigen Gesellschaft, ließe sich fragen. Und offensichtlich beantworten sich viele diese Frage mit wachsendem Zweifel an der Deutungshoheit meritokratischer Ordnung, die verspricht, dass Leistung letztlich das ist, was zählt, und zugleich wesentliche Voraussetzung für Erfolg. Zu Beginn der 1980er Jahre bejahte laut Befragungen eine überwiegende Mehrheit, dass tatsächlich jede und jeder ihres oder seines Glückes Schmied sei. Nur ein Viertel fand das nicht. 2013 kam eine Mehrheit zu dem Schluss, dass selbst die größten Anstrengungen kein Aufstiegsversprechen einlösen würden.Das Märchen verliert also eine Glaubwürdigkeit. Die ungleiche Verteilung von Reichtum und Armut lässt sich mit dem Leistungsverständnis und -versprechen nicht mehr in Übereinstimmung bringen. Was macht die Pflegerin im Vergleich zum Fondsmanager falsch? Ist der Kassierer im Supermarkt wirklich viel dümmer als die mittlere Führungskraft eines Call-Center-Betreibers und die körperliche (und soziale) Leistung einer Kellnerin auf dem Oktoberfest tatsächlich so viel weniger wert als die eines Spitzenfußballers?Aber man muss ja nicht ausschließlich auf den Kapitalismus in all seinen Ausformungen schauen. Auch in den realen sozialistischen Staaten war das Leistungsprinzip eine fein ausformulierte und durchdeklinierte Angelegenheit. Die arbeiterliche Gesellschaft (Wolfgang Engler) versprach, dass wer etwas leiste, sich etwas leisten könne. In gewisser Weise löste sie dieses Versprechen besser, wenn auch stets in recht bescheidenem Maße ein, als es der Kapitalismus jemals könnte.Im real existierenden Sozialismus war niemand arm, aber auch keiner glücklichDer verehrte hatte Karl Marx gegen das Leistungsprinzip vorgebracht, dass es weder Lebenslage noch Familienstand der Arbeitenden berücksichtige. Zugleich räumte er ein, dass eine Abkehr vom Leistungsprinzip wohl nur einer höheren Phase des Kommunismus vorbehalten sein könne. Da ist man nie hingekommen. Stattdessen blieb es im real existierenden Sozialismus bei einer erträglichen Lohnspreizung, einer für fast alle gleichermaßen geltenden Mangellage bei vielen Gütern und einer auch für fast alle geltenden, sehr schwarzen Pädagogik, die Arbeitsverweigerung drastisch zu bestrafen wusste. Der sogenannte Asozialen-Paragraph war da nur die Spitze des schlimmen Übels.An diesem Punkt wäre die Frage berechtigt, ob Leistung als emanzipatorische Kategorie überhaupt etwas taugt. Und dann wird es schwierig. Denn trotz des und mit Verweis auf den schlimmen Kapitalismus, die elenden Ausbeutungsverhältnisse – egal, wie verschleiert sie daherkommen – und die himmelschreienden Ungerechtigkeiten im gesamten Lohngefüge, lässt sich das Bedürfnis, etwas zu leisten, nicht diskutieren. Es ist auch geboten, skeptisch bei der naheliegenden Behauptung zu sein, dass es fairer wäre, alle unentgeltlich geleistete Tätigkeit (Erziehungs- und Pflegearbeit, ehrenamtliches Engagement und Fürsorge) ins Bruttosozialprodukt einzupreisen, um hier endlich zu einer fairen Anerkennung all dessen zu gelangen, was der Reproduktion der Arbeitskraft und dem Zusammenhalt der Gesellschaft dient. Denn in der Folge unterwürfe man alles genau jenem Leistungsprinzip, das postuliert ist, aber in der Realität gar nicht funktioniert.Da ist es hilfreich, sich noch einmal Paul Lafargues 1880 verfasstes Recht auf Faulheit zu vergegenwärtigen. Der französische Sozialist und Arzt beschäftigte sich darin sarkastisch mit der merkwürdigen Sucht der gerade entstehenden Arbeiterbewegung, die ein Recht auf Arbeit forderte: „Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den Nationalreichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, um, ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion.“Nötig ist ein konstruktiver, linker LeistungsbegriffDennoch ist da der tief verwurzelte Wunsch der Einzelnen, einen Beitrag zu leisten, der über die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hinaus geht. Es gibt offenbar das – Erfüllung schenkende – Bestreben, anderen Menschen von Nutzen zu sein. Wäre es also geboten, sich dem Begriff der Leistung von links zu nähern? Sich die Frage zu stellen, was eine Leistungsgesellschaft in ganz anderer Lesart ausmachen könnte? Ideen zu entwickeln, die über einen Konsumenten-Sozialismus hinausgehen – alles für alle und zwar umsonst?Dazu bedürfte es weitaus mehr – auch wenn diese nicht vernachlässigt werden sollte – als einer ausführlichen Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen, mit dem alle ausreichend mit Geld und Infrastruktur zum würdevollen Leben ausgestattet wären. Die Debatte darüber ist auch deshalb so anstrengend, weil viele damit die Vorstellung eines völlig leistungslosen Lebens verbinden. Was sie mit nutzlos übersetzen, weil ihnen der gesellschaftliche Beitrag, den Menschen, so abgesichert, erbringen können, nicht klar ist.Vielleicht kann über einen anderen, linken Leistungsbegriff erst debattiert werden, wenn die Ordnung wackelt. Guter Zeitpunkt also, denn das tut sie angesichts der großen Krisen durchaus. Wenn die Plünderung des Planeten die bisher gewaltigste Leistung der Menschen ist, ließe sich eine neue gesellschaftliche Übereinkunft über den Begriff diskutieren. Leistung müsste dann anders definiert werden. Was einfacher klingt, als den Wunsch ausmerzen zu wollen, eine Lebensleistung vorweisen zu können.
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