Das Tragen ihrer schweren, schwarzen Kleidung und ihres Schleiers fiel Khatera Sadat* besonders im Sommer schwer. Kein Wunder, denn in Mazar-e Sharif in der Provinz Balkh im Norden Afghanistans herrschten im August meist weit über vierzig Grad. „In Mazar-e Sharif gibt es nur zwei Jahreszeiten, Sommer und Winter“, sagt Sadat.
Der Klimawandel macht auch vor Afghanistan, das im Vergleich zu anderen Ländern in der Region kaum CO2 produziert, nicht halt. Sadat, 48, ist Lehrerin – und trotz der erdrückenden Hitze, die die Gesundheit vieler Afghanen gefährdete, ging der Schulbetrieb weiter. „Hitzeferien würden den Unterricht zurückwerfen, meinten die Taliban“, so Sadat. Dabei sind die Hürden für Bildung in diesen Tagen gänz
gänzlich andere. Seit nun mehr als zwei Jahren regieren die militant-islamistischen Taliban ganz Afghanistan. Seitdem dürfen Mädchen nicht mehr die Oberstufe von der 7. bis zur 12. Klasse besuchen.Bis heute hat kein Staat der Welt das Taliban-Regime anerkannt. Aufgrund der Repressalien der neuen Machthaber bestehen Wirtschaftssanktionen, die hauptsächlich die afghanische Bevölkerung treffen. Die ausländischen Devisenreserven des Landes in Höhe von fast zehn Milliarden US-Dollar sind weiterhin eingefroren. Aus Sicht vieler Afghanen ist das unfair. Sie werden für das Versagen des westlichen Militäreinsatzes und der Rückkehr der Taliban im Kollektiv bestraft. Dass überhaupt noch so etwas wie eine afghanische Wirtschaft steht und die Landeswährung nicht eingekracht ist, grenzt an ein Wunder.In Mazar-e Sharif war einst die Bundeswehr stationiertSadat unterrichtet Unterstufen, die noch geöffnet sind. Seit Ende 2023 besteht außerdem ein Universitätsverbot für Afghaninnen. In manchen Regionen des Landes, die in den vergangenen zwanzig Jahren des Krieges vernachlässigt wurden, spielen die Verbote der Taliban allerdings teils gar keine Rolle. Mädchenschulen oder Universitäten gab es dort auch damals nicht, während korrupte Beamte ausländische Gelder akquirierten, sich persönlich bereicherten und vorgaben, sie errichtet zu haben. Die sogenannten „Geisterschulen“ gehören bis heute zu den größten Schandflecken der westlichen Intervention in Afghanistan. Doch in Balkh war das anders. „Hier wird schon lange Wert auf Bildung gelegt“, meint Khatera Sadat und erinnert an historische Persönlichkeiten wie die Dichterin Rabia Balkhi aus dem 10. Jahrhundert.In den ersten zwei Jahren des wiedergeborenen Taliban-Emirats hat sich vieles im Land verändert. Mazar-e Sharif gehört zu jenen Städten, in denen das besonders deutlich wird. Einst waren hier NATO-Truppen einschließlich der deutschen Bundeswehr stationiert, während vom Westen subventionierte Warlords in ihren Palästen residierten und mittels fragwürdiger Deals, Korruption und mafiaähnlicher Netzwerke zu Multimillionären wurden. Mittlerweile sind nur noch die Taliban präsent.Online-Kurse bei der Afghan University of Medical SciencesDer neue Bürgermeister der Stadt lebt mit seiner vierzehnköpfigen Familie in einem modernen Hochhaus. Er und einige andere lokale Taliban-Köpfe sind die neuen Nachbarn von Khatera Sadat und ihrer Familie. „Es gibt viele Probleme, doch niemand traut sich, etwas zu sagen“, erzählt einer ihrer Söhne. Während der gesamte Block Angst vor den neuen Nachbarn hat, versucht Samira*, Sadats Tochter, in ihren vier Wänden weiterhin zu studieren. Ihr Medizinstudium musste sie nach dem Universitätsverbot der Taliban abbrechen. „Es war der schlimmste Tag in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, dass meine Zukunft mit einem Schlag zerstört wurde“, erinnert sich Samira Sadat heute. Viele ihrer Freundinnen würden seitdem an Depressionen und Angststörungen leiden. Das Gefühl der Ungewissheit und Hilflosigkeit sei allgegenwärtig.Doch dann stieß Samira auf die Afghan University of Medical Sciences (AUMS), eine afghanisch-schweizerische Initiative, die das Medizinstudium für Afghaninnen wieder ermöglichen soll. AUMS findet online statt. Experten und Expertinnen aus aller Welt geben Vorlesungen zu verschiedenen medizinischen Bereichen. Hinzu kommt auch ein praktischer Unterricht, der von afghanischen Ärzten vor Ort übernommen wird – und teils im Geheimen stattfindet. „Die Studentinnen geben vor, als Krankenschwestern oder ärztliche Aushilfen zu arbeiten und sammeln ihre Erfahrungen in einer lokalen Praxis. So umgehen wir die Verbote der Taliban“, erzählt Maiwand Ahmadsei. Kurz nach der Schließung der Universitäten vor knapp einem Jahr gründete der deutsch-afghanische Radio-Onkologe AUMS.Mittlerweile steht Ahmadseis Projekt kurz vor einer Akkreditierung. Das heißt, dass die Leistungen der Studentinnen von allen Universitäten der Welt anerkannt werden können. „Uns war es wichtig, etwas Nachhaltiges zu schaffen“, erklärt Ahmadsei, während er in seinem Büro in einem Zürcher Altbau sitzt. Wie die meisten Afghanen und Afghaninnen hat auch der junge Arzt Fluchterfahrung. Ende der 1990er-Jahre flüchtete seine Familie vor den Taliban und landete in Hamburg. Viele seiner Verwandten wurden im Krieg getötet. Ahmadsei ist gegenwärtig als Assistenzarzt am Universitätsspital Zürich tätig. Dass Afghaninnen wie Samira Sadat, der lediglich ein Semester zum Abschluss fehlte, ihren Bildungsweg nicht fortführen können, belastet ihn bis heute. In seiner gegenwärtigen Wahlheimat wurde Ende 2023 beschlossen, Afghaninnen schneller Asyl zu gewähren.Die Taliban bestrafen nicht Frauen, sondern ihre männlichen VerwandtenAuch Rokhshana Noor* aus Kabul musste ihr Informatikstudium aufgrund des Verbots der Taliban abbrechen. Kurz darauf fand sie eine Anstellung bei einer kleinen IT-Firma in Kabul. „Ich fahre jeden Tag allein zur Arbeit. Wie lange ich meine Stelle behalten darf, ist allerdings ungewiss“, erzählt sie. Die Angst vor einem neuen Arbeitsverbot ist stets präsent. Offiziell dürfen Afghaninnen aktuell nicht für NGOs arbeiten oder ohne männliche Begleitung reisen. Letzteres wird am Kabuler Flughafen mittlerweile besonders streng kontrolliert. Ende August verweigerten die Taliban einer Gruppe von sechzig Afghaninnen die Ausreise. Die jungen Frauen hatten Stipendien von den Vereinigten Arabischen Emiraten erhalten, um ihr Studium dort fortzusetzen. „Unsere Freiheiten schwinden von Tag zu Tag. Die Sittenwächter der Taliban suchen regelmäßig unsere Büros auf, um die von ihnen verlangte strikte Geschlechtertrennung zu kontrollieren“, meint Noor. „Sobald die Taliban sich bei meinem Arbeitgeber, einem Mann, beschweren und ihm die Schließung seiner Firma androhen, lässt dieser seinen Frust an uns Frauen aus“, sagt die IT-Angestellte. Es hieße daraufhin, dass Noor und ihre Kolleginnen ihren Job verlieren würden und dass etwaige „Vergehen“ an ihre männlichen Verwandten weitergeleitet werden müssen.Dies ist auch einer der Gründe, warum häusliche Gewalt in Afghanistan laut Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch angestiegen ist. Eine Frau, die sich nicht an die Vorschriften der Taliban hält, wird nicht von ihnen bestraft. Stattdessen trifft die Strafe ihre männlichen Verwandten. Diese wiederum lassen alles an ihrer Frau, Schwester oder Tochter aus. Eindeutige und verlässliche Zahlen gibt es hierzu keine, unter anderem auch aufgrund der bestehenden Taliban-Zensur. Es ist dieses perfide Spiel mit den extremen Seiten des Patriarchats in Afghanistan, das vielen Frauen zu schaffen macht. Die Taliban wissen das und spekulieren darauf.Der Europäische Gerichtshof hat im Januar dieses Jahres entschieden, dass auch häusliche Gewalt Anlass sein kann, Frauen den Flüchtlingsstatus anzuerkennen. Der Schutz sei auch dann zu gewähren, wenn die Bedrohung nicht vom Staat, sondern von Privatpersonen ausgehe. Nur 33 Prozent schutzsuchender Frauen und Mädchen erhielten laut Pro Asyl im Jahr 2022 in einem deutschen Asylverfahren die Flüchtlingseigenschaft. Im vergangenen Jahr waren es 66 Prozent. Wie sich die EU-Regelung nun auf die Verfahren in Deutschland auswirken wird, ist noch nicht absehbar.Placeholder infobox-1