Die „Nationale Sicherheitsstrategie“ soll Deutschland auf den Notstand vorbereiten
Bedrohung Nach Ressortstreitigkeiten und Eifersüchteleien hat die Bundesregierung der Republik nun eine Nationale Sicherheitsstrategie gegeben. Ihre Botschaft: Stellt euch auf Zumutungen ein, der Feind lauert überall
Der „Chief Risk Officer“, hier noch nicht im Spannungsfall, sondern beim Air-Defender-Manöver, auf dem Fliegerhorst Schleswig
Foto: Christian Ender/Imago Images
Es ist ein leidiges Problem von Regierungen, Unternehmen, Verwaltungen und Armeen, dass die linke Hand oft nicht weiß, was die rechte tut. Die Folge solcher Abstimmungsmängel ist, dass entweder alle gleichzeitig handeln und sich dabei in die Quere kommen oder dass nichts getan wird, weil man davon ausgeht, dass „die anderen“ es schon machen werden.
So kam es Anfang 2020 trotz mehrerer Übungen, in denen eine Pandemielage simuliert worden war, zu chaotischen Beschaffungsorgien von medizinischem Material, weil Bund, Länder und Gemeinden die dringend empfohlenen Vorräte nicht angelegt hatten. Auch beim überstürzten Afghanistan-Abzug der Bundeswehr im Sommer 2021 führte der Mangel an Problembewusstsein und Koordination dazu, dass trotz der im A
beim überstürzten Afghanistan-Abzug der Bundeswehr im Sommer 2021 führte der Mangel an Problembewusstsein und Koordination dazu, dass trotz der im Auswärtigen Amt vorliegenden Informationen über den baldigen Fall Kabuls zu spät mit den Evakuierungsmaßnahmen begonnen wurde. Und trotz des bereits im Juni 2022 eingegangenen Geheimdienst-Hinweises, dass ein Sprengstoffanschlag auf die Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee geplant sei, trafen weder Regierung noch Behörden Vorkehrungen, um die Energieversorgung des eigenen Landes zu schützen.Überall Strategien und ExpertenräteDrei Beispiele, die belegen, wie notwendig eine „Nationale Sicherheitsstrategie“ ist. Weil das dreifache Staatsversagen zeigt, dass Risiken und Gefahren, die einem Land und seiner Bevölkerung drohen, stets gemeinsam erkannt und bekämpft werden müssen, und zwar von Bund, Ländern, Kommunen, Wirtschaft, Zivilverteidigung, Bundeswehr, Bevölkerungs- und Katastrophenschutz.Doch genau das wird nicht geschehen. Denn schon der zögerliche Prozess, der zur Präsentation der 76-seitigen Hochglanzbroschüre „Integrierte Sicherheit für Deutschland“ führte, war von Ressortstreitigkeiten und Eifersüchteleien geprägt. Das lässt sich zwar mit einer Vielzahl von Integrations- und Vernetzungsphrasen überdecken, aber in der Praxis ändert sich dadurch erst mal nichts. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob es tatsächlich noch eine weitere Strategie braucht, wenn die Regierenden doch schon jetzt in „Strategien“ und „Expertenräten“ ertrinken.So gibt es eine deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, eine Rohstoffstrategie, eine Wasserstrategie, eine nationale Gesundheitsstrategie, eine Ernährungsstrategie, eine Hightech-Strategie, eine KI-Strategie, eine Cybersicherheitsstrategie, eine Start-up-Strategie, eine Jugendstrategie, eine Zukunftsstrategie, eine Gleichstellungsstrategie, eine Strategie zur Extremismusprävention, eine nationale Bioökonomiestrategie, eine Klimaaußenpolitikstrategie, eine Strategie für feministische Entwicklungspolitik, eine Sahelstrategie und bald auch eine Chinastrategie, eine Wasserstoffimportstrategie, eine Gesamtstrategie für eine wehrhafte Demokratie und eine Strategie zur Steigerung unserer Handlungsfähigkeit gegenüber hybriden Bedrohungen.Annalena Baerbocks PlagiatDie jetzt federführend vom Auswärtigen Amt vorgelegte „Nationale Sicherheitsstrategie“ könnte man, mit etwas bösem Willen, als typisches Plagiat aus dem Hause Annalena Baerbock bezeichnen. Das Papier ähnelt bis in die Wortwahl hinein der neuen US-amerikanischen Sicherheitsstrategie vom Oktober 2022. Anleihen holt es sich aber auch beim „Strategischen Konzept der NATO“ und beim „Strategischen Kompass für Sicherheit und Verteidigung“ der EU. Das heißt, die nationalen Interessen sind stets eingebettet in den Rahmen, den „die einzige Weltmacht“ vorgibt.Beklommen macht, dass der Sicherheitsbegriff hüben wie drüben inzwischen so überdehnt wird, dass er praktisch alles umfasst und alles durchdringt. Äußere und innere Bedrohungen, heißt es, machten es erforderlich, dass sich alle, nicht nur Militär und Diplomatie, mit Sicherheitsfragen befassen. Denn der Feind lauert überall. Seine Waffen sind vielfältig. Mal sind es Raketen, mal Narrative, mal zeigt er sich in Schadsoftware, mal in Desinformation und Wahlbeeinflussung. Mal infiziert er die Köpfe, mal die kritische Infrastruktur.Von der Bedrohungsangst zur „Resilienz“Überhaupt scheint die „kritische Infrastruktur“ das neue Mantra „verletzlicher“ Industriegesellschaften zu werden. Zählten früher nur Energie- und Wasserversorgung, Ernährung und Gesundheit dazu, werden nun auch Transport und Verkehr, Banken und Versicherungen, IT und Telekommunikation, Bildung und Betreuung, Medien und Kultur sowie die öffentliche Verwaltung mit einbezogen und müssen entsprechend gesichert, überwacht, zertifiziert und geprüft, also „gestärkt“ werden.Auch die Bürger sollen ihre Bedrohungsängste in „Resilienz“ umwandeln, in wehrhafte Widerstandsfähigkeit, nicht nur gegenüber den Schurkenstaaten Russland, China, Iran und Nordkorea, sondern auch gegenüber katastrophalen, nicht mehr zu verhindernden Auswirkungen von Klimawandel und Pandemien. Um „unsere Freiheit“ gegen „die Feinde der Freiheit“ zu verteidigen, soll die Gesellschaft zu ständiger Abwehr- und Anpassungsbereitschaft erzogen werden. Das ist das Kernmotiv dieser „Nationalen Sicherheitsstrategie“. Sie versteht sich als Ansage ans breite Publikum („Jetzt ist Schluss mit lustig. Stellt euch auf Zumutungen und Belastungen ein“), nicht als Anleitung für effektiveres Regierungshandeln.Von BND bis BBKDenn Sicherheitsgesetze und -behörden, deren Zuständigkeiten ohnehin laufend erweitert wurden, gibt es genug. Neben Bundeswehr, Polizei und Geheimdiensten gibt es das mittlerweile stark aufgeblähte Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), hervorgegangen übrigens aus dem BND, es gibt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), die Bundesnetzagentur (BNetzA) und die Bundesanstalt für Finanzdienstaufsicht (BaFin). Es gibt das nationale Cyber-Abwehrzentrum und den nationalen Cyber-Sicherheitsrat, das Sicherheitskabinett und den Bundessicherheitsrat. Und nicht zuletzt gibt es – im Spannungs- und Verteidigungsfall – die 1968 gegen heftigen Widerstand durchgeboxte Notstandsverfassung mit ihren zahlreichen Sicherstellungsgesetzen für Wirtschaft, Ernährung, Energie, Wasser, Verkehr, Post und Arbeit inklusive aller Einsatz- und Beschaffungsmöglichkeiten der Bundeswehr.Das, was mit der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ auf die bereits existierenden Gesetze und Strukturen aufgepfropft werden soll (die Bundeswehr bezeichnet das Papier schon ehrfürchtig als „oberstes sicherheitspolitisches Dachdokument“), verkompliziert nur den Regelungswust der Regierungsbürokratie. Einen „Mehrwert“ hat das Papier aber doch: Es bereitet schon mal gedanklich den Notstand vor, ohne ihn, wie bei den Notstandsgesetzen erforderlich, vom Parlament extra feststellen lassen zu müssen. Es ist sozusagen eine Vorübung (eine Vorkriegsübung?) im Rahmen der „Zeitenwende“. Erstaunlich nur, dass sich in Politik und Medien so wenig Widerspruch erhebt.Die Sehnsucht nach einem SicherheitsratDer einzige Punkt, der AfD, Union, FDP, dem Seeheimer Kreis der SPD und konservativ-liberalen Medien bislang missfällt, ist der Verzicht auf einen Nationalen Sicherheitsrat. Obwohl die transatlantische Lobby im Vorfeld heftig für die Einrichtung eines solchen Rats nach US-Vorbild getrommelt hat, verhinderten Koalitionsstreit und erfolgreiche Verteidigung des Ressortprinzips eine gütliche Einigung innerhalb der Koalition.Das Kanzleramt wollte dem Außenamt kein Gremium mit weitgehenden Exekutivbefugnissen überlassen, das Außenamt weigerte sich, dem Kanzleramt nach der Europapolitik auch noch diese Domäne abzutreten. In der Deutsch-Atlantischen Gesellschaft verstieg sich die Politologin Christina Moritz daraufhin zu der absurden Feststellung, dass „Deutschland ohne Sicherheitsrat im Spannungs- und Verteidigungsfall nur eingeschränkt abwehrfähig“ sei, „weil Entscheidungs- und Handlungsfäden nicht zentral zusammenlaufen können“. Auch der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, beeilte sich, die eitlen Ressortabgrenzungen in einer Dreierkoalition für den eigentlichen „Hemmschuh“ in einer Krisensituation zu halten und plädierte für die Schaffung eines „Chief Risk Officers“ (CRO) nach dem Vorbild multinationaler Konzerne. Dass der Kanzler im Spannungsfall selbst ein Chief Risk Officer ist, nämlich Oberkommandierender der Streitkräfte, scheint den Kritikern entfallen zu sein.Jetzt soll die „Nationale Sicherheitsstrategie“ aber erst mal mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutiert werden. Das erhoffen die beteiligten Ministerien für Äußeres, Inneres und Verteidigung. In Anbetracht der vielen Phrasen, die das Papier enthält, dürfte es allerdings nicht leicht sein, normale Menschen für eine Strategie-Debatte zu begeistern. In den USA gibt es „sicherheitshalber“ immer zwei Fassungen der „Nationalen Sicherheitsstrategie“: eine geheime für die tatsächlichen Entscheidungsträger und eine öffentliche fürs Wahlvolk.