Während hoch oben am Himmel die ersten Kampfbomber gen Osten donnerten und die größte Luftwaffen-Übung seit Bestehen der NATO eröffneten, stellten unten auf der Erde die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute ihr neues Jahresgutachten vor. Es trägt den mutlosen Titel Noch lange kein Frieden und soll die Bevölkerung auf einen längeren Krieg einstimmen. Obwohl die Forscher auch andere Weltkonflikte im Auge behielten, band der Ukraine-Krieg doch den Leopardenanteil ihrer Aufmerksamkeit.
Das hat damit zu tun, dass sich die hiesigen Forscher weniger als Globalwissenschaftler verstehen denn als nationale Politikberater: Ihr Fokus liegt nicht auf einer unparteiischen Erforschung von Konfliktursachen, sondern auf der Bereitstellung von „Em
rschung von Konfliktursachen, sondern auf der Bereitstellung von „Empfehlungen“ für die jeweils amtierende Regierung. Diese Anpassung hat den Vorteil, dass Friedensforscher nicht (wie früher) als idealistische oder ideologische Traumtänzer verlacht und verächtlich gemacht werden können, sondern als „Realpolitiker“ Gehör finden, die man kaum von Mitgliedern eines Nationalen Sicherheitsrats unterscheiden kann. Welche Handlungsempfehlungen haben die Friedensforscher 16 Monate nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine zu bieten?Nun, sie plädieren für eine „Doppelstrategie“, die an die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses vor 40 Jahren erinnert: Aufrüsten und Verhandeln, am besten parallel. „Waffenlieferungen bleiben notwendig“, aber „Verhandlungen müssen bereits jetzt vorbereitet werden“. Das klingt nach einer durchdachten Strategie, doch die Forscher knüpfen die Verhandlungsbereitschaft an eine problematische Bedingung: Es müsse zuerst eine robuste Sicherheitsgarantie des Westens für die Ukraine geben.Auf die Nachfrage hin, was damit gemeint sei, verwiesen die Friedensforscher auf das im September 2022 von Andrij Jermak, dem Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, und Anders Fogh Rasmussen, dem ehemaligen NATO-Generalsekretär, vorgelegte Aufrüstungskonzept für die Ukraine.Vorbild Schweden: Der SIPRI-JahresberichtDie Ukraine solle als antirussischer Frontstaat so mit Waffen und gut ausgebildeten Soldaten versorgt werden, dass ein russischer Angriff jederzeit abgewehrt werden kann. Zudem solle eine Gruppe von Garantiestaaten die Ukraine analog zu Artikel 5 des NATO-Vertrags (Beistandsverpflichtung) militärisch einbetten. Man fragt sich angesichts solcher Vorschläge, wozu es besonderer Friedensforschungsinstitute bedarf, wenn diese, wie die NATO, vor allem für Aufrüstung plädieren? Glauben die Wissenschaftler im Ernst, Russland würde eine mehr schlecht als recht getarnte NATO-Integration der Ukraine als Verhandlungsgrundlage akzeptieren? Echte Gespräche sind damit nicht zu erreichen. Und das wissen die Friedensforscher auch ganz genau. Folgerichtig plädieren sie im Weiteren für die Stärkung der nationalen Resilienz (der kritischen Infrastruktur), für die Reduzierung von sicherheitsrelevanten Abhängigkeiten (China!) sowie für das Bekämpfen von „Desinformationen“ im eigenen Land. Das klingt eher nach Kriegs- als nach Friedensgesellschaft.Was Friedensforschung tatsächlich leisten kann, demonstrierte am gleichen Tag das renommierte Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Dessen Jahresbericht stellte die atomare Aufrüstung in den Mittelpunkt. Noch nie gab es so viele gefechtsbereite Atomsprengköpfe wie heute, fast 10.000: „Wir driften in eine der gefährlichsten Perioden der Menschheitsgeschichte.“ Denn mit dem wachsenden Misstrauen der Regierungen untereinander verschwänden auch Transparenz und Kontrolle. Verschärft werde die Gefahr durch eine zunehmend aggressive Rhetorik und das fahrlässige Herbeifantasieren von angeblichen „Entscheidungsschlachten“ zwischen Demokratie und Autokratie.Während die in der Hochzeit der Entspannungspolitik gegründeten deutschen Friedensforschungsinstitute ihr Gründungsmotiv, nämlich Teil der Friedensbewegung zu sein, heute weitgehend unter den Tisch fallen lassen, gibt es immerhin noch einige in den 1970er Jahren sozialisierte Entspannungspolitiker wie Günter Verheugen. Bei einer Buchvorstellung vor wenigen Tagen hielt der 79-jährige ehemalige Staatsminister und EU-Kommissar ein flammendes Plädoyer für eine neue Entspannungspolitik, bekräftigte die Richtigkeit der seinerzeitigen Ostpolitik und kritisierte all die agilen, sich für ihre „illusionäre“ Friedenspolitik entschuldigenden Zeitenwendepolitiker von heute.