Afghanistan: Nach 44 Jahren in Pakistan wird Daftar Khan in eine fremde Heimat abgeschoben
Exodus Pakistans Regierung will fast zwei Millionen afghanische Flüchtlinge in eine Heimat abschieben, aus der sie teils vor Jahrzehnten geflohen sind. Reporter Julian Busch hat die Familie Daftar Khans bei der Rückkehr nach Afghanistan begleitet
Daftar Khan war 40 Jahre alt, als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte und er mit seiner Familie fünf Tage lang im Dunkeln über die Berge nach Pakistan floh.
Foto: Julian Busch
In einer kalten Winternacht, 44 Jahre nach seiner Flucht über die schneebedeckten Berge des Hindukusch, läuft der 84-jährige Daftar Khan durch ein kleines Grenzhäuschen, unterwegs von Pakistan nach Afghanistan. Neben ihm tragen seine beiden Enkelkinder schwere Pappkartons in den Händen. Es ist das erste Mal, dass sie ihr Heimatland sehen werden. Khan, ein kleiner Mann mit langem weißen Bart, stellt seinen kakifarbenen Rucksack auf den vereisten Boden und stützt sich auf seinen Gehstock aus Bambus. Sein altes Nokia-Telefon klingelt. Am anderen Ende, fast hundert Kilometer entfernt, im pakistanischen Charsada, meldet sich sein jüngster Neffe. Er weint. „Du brauchst keine Angst mehr zu haben“, sagt Khan beruhigend. „Wir sind jetzt in S
n Sicherheit in unserem eigenen Land.“Die größte afghanische Diaspora weltweitHunderttausende Afghanen mussten Pakistan in den vergangenen Wochen verlassen. Die dortige Regierung will rund 1,7 Millionen Menschen zurückschicken, die ohne gültige Papiere sind. Pakistan beherbergt mit fast vier Millionen die größte afghanische Diaspora weltweit. Während der zurückliegenden vier Jahrzehnte, in denen das Land fast ununterbrochen im Kriegszustand war, flohen immer wieder Afghanen in den östlichen Nachbarstaat.Vor Wochen schon hatte die Regierung in Islamabad Afghanen ohne legalen Aufenthaltsstatus dazu aufgerufen, das Land bis zum 1. November freiwillig zu verlassen. Viele von ihnen berichten seither von Zwangsabschiebungen und Festnahmen. Mehr als 300.000 Menschen sind davon bisher betroffen. Hunderttausende könnten noch folgen.An der Grenze in TorkhamAn der afghanisch-pakistanischen Grenze in Torkham, fast 230 Kilometer östlich von Kabul, steigt Daftar Khan in dieser Nacht mit seiner Familie – zweien der vier Söhne, seinen Schwiegertöchtern und deren Kindern – in einen weißen Autobus, der sie in ein temporäres Flüchtlingslager bringen soll. Am Nachmittag zuvor hatte die Familie ihr Haus in Pakistan leer geräumt und sich auf den Weg zur Grenze gemacht. Am Busfenster rauschen die dunklen Umrisse des Hindukusch-Gebirges vorbei, bunte Lastkraftwagen stehen mit Kohle beladen am Straßenrand. Die Stimmung im Bus ist gedrückt. Khan starrt schweigend nach vorn.Er war vierzig Jahre alt, als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte. Mit seiner Familie lebte Khan danach in einem kleinen Ort in der Nähe der Stadt Dschalalabad im Osten Afghanistans. Der Krieg zwischen den sowjetischen Truppen und dem afghanischen Widerstand, den Mudschahedin, breitete sich immer mehr aus, vor allem die Zivilbevölkerung hatte darunter zu leiden. Schließlich rang sich Khans Familie dazu durch, nach Pakistan zu fliehen. Sie marschierte fünf Tage lang im Dunkeln über die Berge, immer mit der Angst im Rücken, entdeckt und verfolgt zu werden. Khan erzählt, dass seine Beine nach diesem Gewaltmarsch noch wochenlang schmerzten.„Pakistan war unser zweites Zuhause“Millionen von Afghanen begaben sich damals gleichfalls auf diesen Weg und richteten sich in Pakistan ein. Und sie taten gut daran. Nachdem die Sowjetunion im Februar 1989 abgezogen war, brach in Afghanistan ein blutiger Bürgerkrieg aus, bei dem 1996 die Taliban in Kabul einzogen und die Macht übernahmen. 2001 dann intervenierten die Amerikaner nach 9/11. Frieden, sagt Khan, habe in seiner Heimat eigentlich nie geherrscht.In Pakistan lebte die Familie für einige Jahre in einem der vielen Flüchtlingscamps in der Nähe der Stadt Peschawar. Später erwarb Khan ein Grundstück und baute ein Haus. Zwei seiner Söhne heirateten Frauen mit pakistanischer Staatsbürgerschaft. Nur sein Aufenthaltsstatus wurde in all den Jahren von den Behörden nie geklärt. Khan sagt, die Pakistaner seien gute Menschen. Sie hätten ihn seinerzeit herzlich und verständnisvoll aufgenommen. „Es war unser zweites Zuhause.“ Umso mehr schmerze ihn, dass sich die Stimmung gegenüber Afghanen zuletzt immer weiter verschlechtert habe. Schuld seien die Politiker. Über Jahre hinweg habe die Regierung Ressentiments gegenüber Afghanen geschürt und sie stets für alles verantwortlich gemacht, was für alle von Nachteil sei.In den vergangenen Monaten kam mehrmals die Polizei in sein Haus, sie forderte ihn und seine Familie nachdrücklich auf, Pakistan den Rücken zu kehren. „Sie drohten uns offen mit Gewalt, sollten wir nicht verschwinden.“ Seine Söhne seien sogar verhaftet worden und nur dank pakistanischer Freunde wieder freigekommen. Nach der Frist bis zum 1. November habe die Armee Häuser anderer Afghanen in der Nachbarschaft zerstört. „Irgendwann trauten wir uns nicht mehr aus dem Haus“, erzählt Khan. Und dann habe die Familie beschlossen, dass es an der Zeit sei zu gehen. Sie hätten keine Wahl.Premier Anwar ul Haq Kakar macht Afghanen für Anschläge verantwortlichDie Hilfsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International berichten von Übergriffen, Verhaftungen und Deportationen. Das spiele sich in vorwiegend von Afghanen bewohnten Vierteln ab. Am Rand von Islamabad wurden ganze Wohnblocks von Bulldozern beiseitegeräumt. Nach Regierungsangaben sind 34 Abschiebegefängnisse eingerichtet worden, in denen Menschen ohne Papiere festsitzen, bis sie außer Landes gebracht werden und sich damit abfinden müssen, dass die Mitnahme von Bargeld und Nutztieren beschränkt bleibt. Von diesem Exodus kann auch betroffen sein, wer erst nach der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 geflohen ist. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk handelt es sich um gut 600. 000 Menschen. Für offiziell registrierte Flüchtlinge werde es keine Ausnahmen geben, befürchten Menschenrechtsorganisationen.Die pakistanische Regierung begründet ihr Vorgehen mit der angespannten Sicherheitslage an der Grenze zu Afghanistan. Zuletzt verübten Mitglieder der Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) immer wieder Anschläge im ganzen Land. Hunderte, vorzugsweise Polizisten und Soldaten, wurden Opfer von Terroranschlägen. Die Regierung von Premierminister Anwar ul Haq Kakar macht die afghanische Diaspora dafür verantwortlich. Womit sie vermutlich Sympathien in der Bevölkerung sammeln will. Im Februar wird ein neues Parlament gewählt werden. Doch dürften die Ausweisungen auch das Ziel haben, Druck auf die Regierung in Kabul auszuüben. Islamabad wirft ihr vor, den pakistanischen Taliban Schutz zu gewähren, und behauptet, dass Anschläge auf afghanischem Boden geplant würden. In Kabul wird bestritten, dass die TTP in Afghanistan präsent ist. Das Gros der pakistanischen Taliban operiere auf pakistanischem Gebiet. Wenig überraschend geraten afghanische Geflüchtete in solcher Lage zusehends zwischen die Fronten.Placeholder image-2Am nächsten Tag nach der Fahrt über die Grenze ist Daftar Khan früh aufgestanden. Gleißendes Sonnenlicht erfasst das von der Taliban-Regierung mit Unterstützung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des Welternährungsprogramms (WFP) errichtete Flüchtlingscamp. Khan läuft durch eine Gasse blauer Zelte mit dem China-Aid-Logo. Es geht vorbei an vollgepackten Lastwagen mit den Habseligkeiten der Vertriebenen. Löcher für Trinkwasserbrunnen werden gebohrt. Taliban-Kämpfer errichten einen Telekommunikationsmast, und vor einem großen Bildschirm sitzen Kinder und schauen einen Film auf Persisch.Registratur im Islamischen Emirat AfghanistanAuf einer Anhöhe oberhalb des Lagers hält Khan vier seiner Fingerkuppen auf das neongrün leuchtende Feld eines biometrischen Scanners, seine erste Registratur im Islamischen Emirat Afghanistan. „Kannst du beweisen, dass du Afghane bist?“, wird er gefragt. „Ich habe nur diese Identitätskarte von vor vierzig Jahren“, sagt Khan. Der Beamte schaut prüfend, nickt und füllt dann ein Formular aus. Khan unterschreibt. Er erhält eine afghanische SIM-Karte und ein Startgeld von umgerechnet hundert Schweizer Franken. Willkommen zurück in Afghanistan!„Wir sind auf das Schlimmste vorbereitet“, sagt Mullah Sultan Mutaker, ein kleiner Mann mit dunklem Turban und ruhiger Stimme. Der Koordinator des Camps sitzt etwas abseits in einem Armeezelt, in dem seine Mitarbeiter ein kleines Medienzentrum errichtet haben. Stative und Kameras stehen und liegen am Boden. „Afghanistan ist nicht Europa“, sagt Sultan Mutaker. Fast alle der Ankommenden hätten irgendwo im Land Familie, bei der sie in der ersten Zeit unterkommen könnten, hoffe man zumindest. Gegenwärtig habe sein Camp etwa 15.000 Menschen aufgefangen, täglich würden im Schnitt gut 3.500 eintreffen. Es sei ein Kommen und Gehen. Jene, die nicht wüssten, wohin, müssten bleiben, bis ihnen von der Regierung ein Aufenthaltsort und Land zugesprochen werde. Die Behörden versuchten, die Herkunft der Rückkehrer zu ermitteln und zu klären, wo diese in Zukunft leben können.Eine der größten humanitären Krisen weltweitHilfsorganisationen wie das International Rescue Committee warnen, dass sich die Situation in den nächsten Monaten weiter verschärfen werde, sollte die Zahl der Ankommenden so hoch bleiben wie im Augenblick. Afghanistan durchlebt eine der größten humanitären Krisen weltweit, fast zwei Drittel der Bevölkerung sind auf Versorgungshilfen angewiesen. Die Ökonomie – internationalen Sanktionen und harten Restriktionen ausgesetzt – liegt am Boden und bietet keine Arbeitsplätze. Gleichzeitig hat der Winter begonnen, sodass die Temperaturen nachts deutlich auf unter zehn Grad fallen.Daftar Khan und seine Familie sind an diesem Morgen trotz allem zuversichtlich. Kurz nach Mittag, keine zwölf Stunden nachdem die Familie das Land betreten hat, laden sie ihr Hab und Gut auf einen bunt geschmückten Lkw: Kühlschränke, Betten, Kochgeschirr und Teppiche. Khan will bei Verwandten in der Nähe von Dschalalabad unterkommen und dann nach einem Grundstück suchen. „Du kannst tausend Jahre in einem fremden Haus wohnen, du bleibt immer ein Fremder.“ Und dann fährt der Laster davon.Placeholder authorbio-1
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