„Was ist denn mit den palästinensischen Zivilisten, die interessieren doch auch keinen“, sagt Momo trotzig. Er hat feuchte Augen. Der Rest meiner neunten Klasse ist still oder nickt zustimmend, die meisten sind Muslime und solidarisieren sich mehr oder weniger stark mit dem Jungen palästinensischer Herkunft.
Ich kenne Momo seit über zwei Jahren. Er ist intelligent, etwas hyperaktiv und verquatscht, aber mit dem Herz auf dem richtigen Fleck. Ich habe ihn erst zwei Mal mit Tränen in den Augen erlebt. Beide Male war es, wenn er ausnahmsweise mal zu Unrecht gerügt wurde. Sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn hat ihn zum dritten Jahr in Folge zum Klassensprecher gemacht.
Der Senat lässt die Schulen mal wieder alleine
Ich hole tief Luft. Hier nutzt mir
tief Luft. Hier nutzt mir die Handlungsempfehlung des Berliner Senats überhaupt nichts. Jenes weltfremde Schreiben, das die Schulen wieder einmal dann allein lässt, wenn es brenzlig wird. Die Schulen sollen „eigenverantwortlich“ entscheiden, welche Symbole und Äußerungen inakzeptabel sind, weil sie „den Schulfrieden gefährden“.Im Kollegium herrscht Verunsicherung. Der Schock über die extreme Eskalation dieses Konfliktes sitzt tief. Wir spüren, wie es brodelt, und wir merken, dass Schüler und Schülerinnen sehr genau überlegen, was sie sagen können und was sie lieber nur unter sich bereden. Wenn Siebtklässlerinnen kleine Palästinaflaggen im Unterricht malen oder Achtklässlerinnen in der Pause Grüppchen um sich scharen, um davon zu erzählen, wie sie angeblich fast von der deutschen Polizei verhaftet worden wären, weil sie „Freiheit für Palästina“ gerufen haben, dann könnten wir still hoffen, dass es dabei bleibt. Aber wollen wir das?Es bleibt nicht bei der einen Unterrichtsstunde. Auch nicht bei zwei. Ich erzähle vom Restaurant Kanaan, von der Barenboim-Said-Akademie, von den vielen Initiativen weltweit, die vorleben, dass ein Zusammenleben möglich ist. Ich lasse mich auf die Diskussionen ein und merke, wie ich ins Schwitzen komme. Nicht, weil ich nicht wüsste, wie ich argumentieren soll, sondern weil ich spüre, was hier auf dem Spiel steht. Wir Lehrkräfte sind gerade im Begriff, für einen nicht zu vernachlässigenden Anteil unserer Schülerschaft als moralische Instanz auszufallen.Die Jugendlichen bemerken unsere DoppelmoralIch habe das Gefühl, dass in Deutschland lange unterschätzt wurde, wie sensibel der muslimische Bevölkerungsteil gegenüber der Ungleichbehandlung auf vielen Ebenen ist. Es gibt gerade bei den Jugendlichen ein sehr feines Gespür dafür, dass unsere moralischen Maßstäbe von den politischen Begleitumständen abhängig sind. Schon nach den Terroranschlägen in Paris fragten mich Schüler, warum das Brandenburger Tor nicht ein paar Tage vorher in den irakischen Farben erstrahlt ist, als in Bagdad zig Menschen einem Terroranschlag zum Opfer fielen. Die häufig unzutreffende Gleichsetzung von Kritik an Israels Politik mit Antisemitismus wird ebenfalls als politisches Manöver durchschaut.Wenn Deutschland jetzt von allen hier Lebenden ein klares Bekenntnis gegen die Art des Terrors der Hamas erwartet, finde ich das – richtig. Da gibt es kein Aber, denn absolut nichts rechtfertigt das Töten von Zivilisten und vor allem Kindern. Das haben auch alle in meiner Klasse verstanden.Wir müssen uns nur entscheiden. Verlangen wir heute dieses Bekenntnis, werden wir in Zukunft daran gemessen. Entweder dieses Bekenntnis gilt prinzipiell oder eben nicht, dann aber eben auch für alle. Das Übergehen der Verbrechen der jüdischen Siedler im Westjordanland, das Schweigen zu den selbst von der UNO als solche bezeichneten Kriegsverbrechen Israels sind meiner Klasse nicht vermittelbar. Die Doppelmoral ist zu offensichtlich.Die Politik muss sich ehrlich machenWir Lehrkräfte stehen an der wichtigsten Front; was Momo nicht lernt, lernt Mohammad nimmermehr. In den Schulen brauchen wir jetzt die Rückendeckung einer Politik, die sich ehrlich macht. Die Zeit drängt, mit jedem Tag Krieg in Gaza, mit jedem Bild vom dortigen Leid, das ohne politische Konsequenzen bleibt, verfestigt sich der Eindruck, dass wir keinerlei Recht haben, Bekenntnisse einzufordern.