Von wegen Asyltourismus

Kafkaesk Im Jahr 2029 werden abgelehnte Asylbewerber*innen in Boxen gesteckt und ausgeflogen. Doch dann sitzt ein ganz anderer Mann darin. Steffen Menschings Roman „Hausers Ausflug“ entwickelt daraus ein gewitztes Kammerspiel über Migration
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 34/2022

In seinem vielbeachteten und von der Kritik hochgelobten Roman Schermanns Augen von 2018 erzählt Steffen Mensching in beeindruckender und intensiver Art und Weise von einem Wiener namens Rafael Schermann, der in den Gulag gerät. Hannah Arendt hat diese Logik des Ausschlusses und die Kappung aller sozialen Bezüge menschlichen Handelns als Elemente totalitärer Herrschaft analysiert. Der Mensch, heißt es bei Arendt, wird in der Gulag-Situation aller „Spontaneität“ beraubt, zu der ganz wesentlich die Freiheit des Handelns im sozialen Raum gehört.

In eine ähnliche Situation, wenn auch eine ganz anders gelagerte und eher zeitgeschichtlich codierte Situation, bringt Mensching seinen Protagonisten in seinem neuem Roman Hausers Ausflug. Der „Ausflug“, von dem der Titel spricht, ist in Wahrheit eine Deportation, die den Protagonisten aller bisherigen sozialen Bezüge beraubt und in eine isolierte, ja geradezu klaustrophobische Situation bringt. Der Titel verarbeitet Markus Söders unglaubliches Wort des „Asyltourismus“. Eine Flucht unternimmt man nicht aus touristischen Gründen: Ein Schlauchboot auf dem Mittelmeer ist kein AIDA-Kreuzfahrtschiff.

David Hauser, so der Name des Protagonisten der in der Er-Form erzählten Geschichte, ist Geschäftsführer einer Firma namens AIRDROP. Ihr Geschäftsmodell ist die Rückführung von abgelehnten Asylbewerber*innen. Wenn die Heimatländer der Bewerber*innen die Aufnahme ihrer Staatsbürger verweigern, werden diese in eine Box gesteckt, mit Medikamenten und Sauerstoff versorgt und dann zurückgeführt. AIRDROP macht also im Jahre 2029, in dem der Roman spielt, das, was die britische Regierung heute bereits mit abgelehnten Asylbewerber*innen macht: Sie fliegt sie aus. Nun also sitzt – so beginnt der Roman – der Gründer in einer Box seines Unternehmens und weiß nicht, was los ist. Kurz vor dem Abwurf der Box aus einem selbstfliegenden Flugzeug kommt er zu sich und fühlt sich wie Josef K. in Kafkas Process: Wo bin ich? In Syrien? In Afghanistan? Was ist mit mir geschehen? Warum bin ich hier und nicht woanders? Wie ist es dazu gekommen? Wer hat mir die Klamotten angezogen, die ich trage?

Interessanterweise klären sich diese Fragen im Laufe des Romans nicht. Vielmehr nimmt Mensching den*die Leser*in zunächst mit in die klaustrophobische Welt des inneren Monologs. Erst ganz spät im Text wird das Kammerspiel im Wortsinn zu einem Dialog mit seinem Entführer. Der Grund für seine Entführung beziehungsweise die Interessen des Entführers an der Entführung von Hauser bleiben unklar.

In Hanau, hochsymbolisch

Der Entführer, offenbar kurdischer Herkunft, entpuppt sich als abgelehnter Asylbewerber, der, natürlich hochsymbolisch, in Hanau gearbeitet hat. Rizgar Demirok ist sein Name, der erst ganz spät im Roman auftaucht. Er fungiert, so kann man vielleicht sagen, in mehrfacher Hinsicht als Zeuge der jüngsten Zeitgeschichte. Mensching verleiht dieser Figur eine hohe Authentizität, die noch dadurch verstärkt wird, dass der Text die Figur ein gebrochenes Deutsch sprechen lässt. In Bezug auf seine Asylverfahren sagt Demirok: „Erst Gericht, Misstrauen, nicht geglaubt, gefragt, wieso nach Militär gleich auf Schule. Ich ohne Dokument und Papier.“

Man merkt der Dramaturgie des Textes deutlich die Nähe zu den Formen des Theaters an, die Mensching als Intendant des Theaters Rudolfstadt meisterhaft beherrscht. Haben wir es nun mit einem Kammerspiel in Romanform zu tun, mit einer Art postbürgerlichem Trauerspiel der Migrationsgesellschaft in Prosa? Es gibt gute Gründe, den Text so zu lesen. Aber für Leser*innen fällt noch viel mehr die schon angesprochene Parallele zu Franz Kafka ins Auge. Dessen Poetik der Aussichtslosigkeit und der Vergeblichkeit zieht sich durch den Text. Parallelen zu Kafkas Romanfragment Der Process liegen daher auf der Hand. Noch viel mehr aber ist eine nicht so bekannte Erzählung Kafkas, die unter dem Titel Der Jäger Gracchus 1917 geschrieben und erst posthum veröffentlicht wurde, ein Referenztext der Geschichte. Ähnlich wie Mensching in seinem Text von der Erosion zivilisatorischer Sicherungssysteme erzählt, weil dem Protagonisten Hauser in seiner Situation weder sein Geld noch sein Netzwerk von Nutzen sind, erzählt Kafka vom armen Jäger Gracchus, dem die Überführung ins Jenseits verweigert wurde: „Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, daß ich auf der Erde blieb und daß mein Kahn seither die irdischen Gewässer befährt. So reise ich, der nur in seinen Bergen leben wollte, nach meinem Tode durch alle Länder der Erde.“

War Hauser in seiner Heimat abgesichert, sein Schicksal notwendigerweise dadurch gekennzeichnet, dass solche Dinge, wie er sie geschäftlich tut, ihm auf gar keinen Fall passieren, so erzählt Menschings Text eben am Beispiel Hauser davon, dass Abschiebung als normiertes Verfahren jedem jederzeit widerfahren kann. Die zynische Routine einer technisch durchgeführten und human sterilen Abschiebepraxis wird dadurch umso deutlicher, dass es einen trifft, der niemals damit gerechnet hätte, ein Objekt seines Geschäfts zu sein. Der letzte Satz des Romans lautet dementsprechend: „Dann machte sich David Hauser auf den Weg in den Westen.“

Hausers Ausflug ist ein politischer Roman, der tiefgründig und doch unterhaltsam von unserer Migrationsgesellschaft erzählt. Mensching tut dies empathisch und gewitzt, indem er einen Profiteur der Migrationsindustrie in ein Opfer derselben verwandelt. Vielleicht, so kann man sagen, ist Migration unser Schicksal. Sich dagegen erheben zu wollen, erscheint sinnlos, weil Migration jederzeit auch uns treffen kann. Hauser sind wir alle.

Info

Hausers Ausflug Steffen Mensching Wallstein 2022, 249 S., 22 €

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