Was ist eigentlich aus der Identitätspolitik geworden? Nach zig Kämpfen (deren Anlass man oft schon vergessen hat) scheint derzeit nicht ihre Verteidigung zu gewinnen, sondern die Kritik daran. In Buchform machte zuletzt der schwarze Linguist John McWhorter mit seinem Pamphlet Die Erwählten gegen selbstgerechte Anti-Rassismus-Aktivist*innen (der Freitag 6/2022) von sich reden, und dass Fridays-for-Future-Aktivist*innen die Musikerin Ronja Maltzahn wegen ihrer Dreadlocks „cancelten“ – das sei kulturelle Aneignung, so der Vorwurf –, war der letzte Twitter-Aufreger. In diese Gemengelage nun fügt sich Helen Pluckroses und James Lindsays Streitschrift Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt.
Die Buchthese als Titel. Ein Verdacht kommt auf. Wurde hier wieder einmal ein Thema aufgebläht, weil es gerade „trendet“? Die Autor*innen sind zudem nicht unbekannt. Furore machten Pluckrose und Lindsay mit einem „Wissenschafts-Scoop“. Vor vier Jahren hatten die beiden absurde Forschungsbeiträge in angesehenen Zeitungsjournalen in den Bereichen Gendertheorie oder Kritische Theorie lanciert. Einer der Fake-Aufsätze trug den Titel Sexismus in der Astronomie, ein anderer Aufsatz behandelte die Möglichkeit der Heilung von Homophobie durch den Einsatz von Dildos, der nicht etwa abgelehnt, sondern von einer Redaktion zur Überarbeitung zurückgegeben worden war.
Das Buch ist also die Fortsetzung der Desavouierung dieser Forschungsfelder mit anderen Mitteln. Das Original erschien 2020 und wurde schnell zum Bestseller. War es der Ruf, der den beiden vorauseilte, die Lust des „Durchschnittsbürgers“, sich darin bestätigt zu fühlen, dass hier Pseudowissenschaften endlich als das entlarvt werden, was sie angeblich sind, nämlich Pseudowissenschaften? Das sagen zumindest die Verkaufszahlen in Großbritannien und den USA. Und hierzulande? Der Verlag zumindest scheint davon auszugehen, dass das Thema Identitätspolitik den Leser*innen auf den Nägeln brennt, vergisst dabei aber, dass die Polemiken des Buchs auf eine gänzlich andere Debattenkultur und Universitätslandschaft treffen und teilweise auch nur in diesen Kontexten funktionieren beziehungsweise außerhalb dieser Kontexte nicht verstanden werden. Zum Beispiel das Forschungsfeld „Critical Race Studies“. Man hat schon davon gehört, aber „Fat Studies“? Intersektionalität ist ja bekannt, aber ist sie denn als Theorie und Paradigma so wirkmächtig?
Dualismus von Gut und Böse
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen die Universitäten. An diesen sei die Wissenschaftsfreiheit kassiert worden, die ergebnisoffene Forschung sei einer Orthodoxie der Meinungen und Haltungen gewichen. Die Behauptung der beiden, dass sich die Universitäten von Institutionen der kritischen Gelehrsamkeit zu aktivistischen Organisationen gewandelt hätten, wird durch ein konspiratives Narrativ zusammengehalten. Narrative unterscheiden sich von einzelnen Geschichten dadurch, dass sie, wie der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke es formuliert, „erzählerische Generalisierungen“ ermöglichen. Das Narrativ der Konspiration wiederum kann man als Generalisierung des Verdachts beschreiben, dem zufolge nichts ist, wie es offiziell zu sein scheint. Es wird von der Überzeugung getragen, dass es eine klandestin operierende Gruppe gibt, in diesem Fall Aktivist*innen für „Social Justice“ und Identitätspolitik, die ein Komplott gegen die Institution und die Idee der freien und rationalen Wissenschaft schmieden, um so die Forschung, die Universität und ganze Fächer zu kontrollieren. Die Trias „Heimlichkeit, Intentionalismus und der Dualismus von Gut und Böse“ ist dem Experten Michael Butter zufolge das Erkennungszeichen von Verschwörungstheorien. In den Institutionen und Disziplinen soll also eine verborgene Agenda existieren.
Nun ersetzt aber Verfolgungswahn nicht die Suche nach der Erkenntnis. Die Kritik der Autor*innen mischt Populismus mit Polemik und Alarmismus auf eine oft schwer erträgliche Art und Weise. „Wir hingegen, die Durchschnittsbürger, fragen uns zunehmend, was eigentlich mit der Gesellschaft passiert ...“ Das Buch ist eine einzige Anklage gegen das, was die beiden Autor*innen als „Postmodernismus“ verstehen. Was war das noch mal? Unter „Postmodernismus“ wird ja bekanntlich so einiges rubriziert. Verknappt gesagt hat die Postmoderne geglaubt, die Aufklärung sei vorbei und führe zu nichts. Postmoderne ist Theorie der Trauer. Die Sprache spricht nur noch über sich selbst, Identität und Subjektivität sind keine Kategorien mehr, sondern Spielzeug. Auch hierzulande wird sie von den üblichen Verdächtigen gern verantwortlich gemacht für den „überschießenden moralischen Eifer an den Universitäten“ (siehe der Freitag 12/2022). An einer Geschichte der Postmoderne hat sich jüngst der Publizist Daniel-Pascal Zorn versucht.
Für Pluckrose und Lindsay ist die Postmoderne jedenfalls die Wurzel allen Übels. Sie firmiert an amerikanischen Universitäten als „French Theory“ und ist die Inkarnation einer zynischen Denkweise, die immer schon weiß, was wahr ist, und den Diskurs verweigert. Mit Denkern wie Foucault und Derrida hat dieser Import wenig zu tun. Was als French Theory gelehrt wird, ist böse gesagt die Readers-Digest-Version des Poststrukturalismus. Anders formuliert: Es handelt sich um eine kulturelle Aneignung kontinentaleuropäischer Philosophie und Historiografie, die die Identität dieses Denkens ignoriert und seine Wurzeln in der europäischen Philosophie und Theorietradition kappt. Das gilt aber leider auch für die Adaption postmoderner Theorie durch die Autor*innen. Foucault, dessen Studien zur Geschichte der Sexualität ja gerade sagen, dass über die Thematisierung des Begehrens die Wahrheit über die Subjekte hergestellt werden soll, ist nur sehr bedingt als identitätspolitischer Denker beschreibbar. Ihn und andere (wie zum Beispiel Judith Butler) mit einer Polemik zu überziehen, offenbart nur, wie wenig die beiden Autor*innen von dem, was sie angreifen, tatsächlich gelesen (oder gar verstanden) haben. Insofern gilt der Vorwurf, den die beiden der identitätspolitischen Fraktion machen, auch für sie selbst. Lesen hilft auch hier. Aktivismus ersetzt keine Lektüre. Das gilt für beide Seiten, die Kritiker*innen und die Kritisierten.
Info
Zynische Theorien. Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt James Lindsay, Helen Pluckrose Helmut Dierlamm, Sabine Reinhardus (Übers.), C. H. Beck 2022, 380 S., 22 €
Kommentare 10
Eine Selbsterziehung mit Selfies, wie auch als und über Influencer und Fotofilterungen, um sein Aussehen wunschgemäß zu formen und was auch die Identitätsvorstellung anregt, läuft da schon irgendwie aus dem Ruder und spiegelt sich auf andere Bereiche weiter.
Eigentlich kann sich keiner+*innen mehr ausstehen, so wie er in natürlicher herangewachsener Erscheinung ist, da Erwartungshaltungen dies natürliche nicht mehr zulassen werden.
Für die Postmoderne gilt, genau wie für die Vormoderne und Moderne, die jeweiligen Errungenschaften auszudifferenzieren und zu integrieren. Und die Fehlentwicklungen eben dieser auszudifferenzieren und zu verwerfen.
Bezieht der Autor die Aussage im letzten Absatz auch auf sich selbst?
Weisheit braucht nicht viele Zeilen!
Metropolis der Emanzipation
"Was als French Theory gelehrt wird, ist böse gesagt die Readers-Digest-Version des Poststrukturalismus...kulturelle Aneignung kontinentaleuropäischer Philosophie und Historiografie, die die Identität dieses Denkens ignoriert und seine Wurzeln in der europäischen Philosophie und Theorietradition kappt. Das gilt aber leider auch für die Adaption postmoderner Theorie durch die Autor*innen."
1. Und dann soll der Leser das hier raffen?!
Der "Durschnittsbürger" ist also überfordert. Außerhalb und innerhalb akademischer Diskurse. Das eine bedingt vielleicht auch das andere. Gerade jene, die sich dem Thema besonders annehmen wollen, misslingt bereits deren Bemächtung, um voller Irrtümer auch noch jede intellektuelle Distanz zu verlieren. So dass ihre Narretei dem Unbefangen sofort evident wird. Was woke Erleuchtete nicht irritiert oder gar hindert, sich im Rahmen des sektenhaft erfuschten und mit Fachsprache gespickten Dunning-Kruger-Effekts zum Zuchtmeister universeller Sittenlehre aufzuspielen und mit autoritären Verhaltensmustern zu verbinden.
Hehre Ansprüche an die totale Gerechtigkeit durch scheinbare pingelige Sprachkritik, die den verweigerten Realitäten enthoben zunächst schlicht kitschige Esoterik ist, scheitern am ganz und gar unpingeligen Unvermögen. Derart delegitimiert, kehrt sich vorgebliche Liberalisierung in illiberale Bevormundung durch den Versuch einer Faschisierung des Denkens per Sprach- und Kulturverbote. Undurchdachte und damit abenteuerliche Theorie wurde Ideologie, der alles unterworfen wird.
Das generelle Misstrauen gegenüber kollektiver Vernunft genährt. Wo Aphorismen auf Sensationsgeilheit und Bedürfnis nach Empörung sowie Denkfaulheit treffen. Kommerz, Geltungssucht und Instrumentalisierung weiteres besorgen. Wo vorgeblich verletztes Gerechtigkeitsempfinden nicht zur Änderung der Verhältnisse sondern der Umgangformen und zum Never Ending Marktfetisch für Willensschwache mit Einebnungsbedürfnis wird. Also bei Erhalt der Verhältnisse, in denen große Minderheiten geknechtete Wesen sind. Wo das Bedürfnis nach Ersatz abgewirtschafteter Religion bedient wird. Nach Aufrichtung, Orientierung und Sinn als realitätsleugnende Universalheuchelei. Dazu Zeitknappheit. Und wo das alles in einer dröhnenden Kakofonie an Narretei mündet.
Derart reflektiert ein „gesundes“ Maß an Selbstbeschränkung durch Selbsterkenntnis wiedergefunden, könnte sich jene wohl allseits vermisste, aber kaum ausgesprochene Verhältnismäßigkeit wieder finden lassen.
Gelingt es endlich, Emanzipation wieder an realen Missständen zu erden, sie wieder ins Verhältnis mit dem großen Ganzen zu setzen. Wäre dies ein Genesungsprozess, der dringend nötige Debatten vielleicht ermöglicht.
2. Wieso kehrt unsere Gesellschaft positiv belegte Narrative in ihr Gegenteil? Besorgt Degenerierung, bringt Emanzipation und Identität gegen liberale Demokratie in Stellung, verwandelt sie gar in kapitalistische Repression, die sie mit teils totalitärem Anspruch flankiert?
Warum beispielsweise begründet Feminismus moralischen Arbeitszwang für Frauen, für den man nach unten tritt. Z. B. durch Ablehnung einer als Herdprämie verschrienen sozialen Zuwendung. Alleinstehende Mütter sollen nicht nur Kinder erziehen. Not soll sie zur Arbeit als angeblichen emanzipatorischen Beitrag zwingen. Ist das keine Menschenverachtung? Ist das keine Reduzierung des Menschen auf Funktion? Ist das nicht doch schlimmerer Sexismus, im Gegensatz zum Werbeplakat eines Dessous-Anbieters? Wo der Anbieter sich und nicht Frauen auf ein Mittel zum Zweck reduziert, um daran zu verdienen. Ja, man kann Argumente durchs Knie schießen und dreimal um den Hals wickeln, dann durch die Brust. Am besten mit erhabener Nerd-Stimme oder geschwollener Betroffenheit als Gerechtigkeitskämpfer.
Oder am Beispiel des großen Elefanten, der immer im Raum steht. Die rationale Lehre aus Nazideutschland müsste doch heißen: Achte unbedingt die Menschenwürde und handele berechenbar sowie verhältnissmäßig. Nicht aber, dass jemand etwas darf, was andere nicht dürfen, weil er Opfer von schlimmen Verbrechen wurde. Oder dass man Worte nicht benutzen darf, die bei bestimmten Tätergruppen eine bestimmte Bedeutung haben, was diesen erstens Definitionsgewalt, zweitens Alleinvertretung für Narrative und drittens die Macht gäbe, Tabus zu setzen. Will man selber Tabus setzen, indem man Kritik derart pseudowissenschaftlich rechts einsortiert. Stichtwort Finanzkapitalismus. Wenn jemand Finanzkapitalismus sagt, dann sagt er nicht Finanzjude. Dass Rechte manch Sprachspielchen machen, ist doch nicht mein Niveau.
3. Der erst rationale linke Ansatz bei Beantwortung der Frage, warum positive Narrative nicht positiv wirken, sondern in Hierarchie, Repression und Menschenverachtung münden, sie gar legitimieren, ist in der materialistischen Analyse von Interessen zu suchen.
Bis es zu tragfähigen Ergebnissen kommt... Die großen Gedanken kommen aus dem Herzen.
Man kann aber auch nicht hereinkopieren, ohne dass sich viele Fehler einschleichen. Sorry.
Danke!
Der Partikularismus Neoliberalismus liebt alles, was ebenfalls partikularistisch ist.
So wird linkstheoretische Identitätspolitik vom Neoliberalismus natürlich forciert.
Divide et impera!
Von Identitätspolitik zu Identitarismus ist es nur ein Katzensprung.
Wenn Klassen hermetisiert werden sollen, anstatt sie universalistisch zu zersprengen, dann sind diese identitären Kulturlinken irgendwo auf dem Pfad falsch abgebogen und das Ziel liegt ferner denn je.
Ich mag's universalistisch und verbleibe so antimodern.
Einverstanden. Jede Theorie soll man an Universitäten verfolgen können, solange man ihre Wahrheit nicht schon voraussetzt und solange man Wissenschaft und Aktivismus sauber trennt.
Dort, wo das nicht geschieht, liegt das Problem. Im anglosächsischen Raum ist dieses Wo in den Sozialwissenschaften nicht eine Menge von einzelnen Punkten, sondern eine grosse, zusammenhängende Fläche, fast schon flächendeckend.
Also ich muss sagen, abgesehen von ein bisschen gender und Inklusion ist meine Uni dermaßen entpolitisiert, ich glaube wenn es so wenig Engagement gibt, kann es auch keine gescheite Forschung.