Judith Butler über den Terror der Hamas und die Geschichte der Gewalt
Essay Die Philosophin Judith Butler fragt, wie wir die Entstehung der Gewalt der Hamas verstehen können, ohne ihre Gräuel zu relativieren. Gibt es einen Weg, alle Leben im Nahen Osten gleichermaßen wertzuschätzen – und alle Opfer zu betrauern?
Judith Butler fragt, wie wir die Entstehung der Gewalt der Hamas verstehen können, ohne ihre Gräueltaten dabei zu relativieren
Foto: Imago / ZUMA Wire
Gerade die Themen, die am dringendsten einer öffentlichen Diskussion bedürfen, sind diejenigen, die innerhalb des uns jetzt zur Verfügung stehenden Denkrahmens schwer diskutierbar sind. Auch wenn man direkt zur Sache vorstoßen möchte, stößt man gegen die Grenzen eines Diskussionsrahmens, der es fast unmöglich macht, das zu sagen, was man zu sagen hat.
Ich möchte über die Gewalt sprechen, über die gegenwärtige Gewalt, über die Geschichte der Gewalt und ihre vielen Formen. Wenn man aber die Gewalt dokumentieren will, was bedeutet, den massiven Raketenbeschuss und die Morde in Israel durch die Hamas als Teil dieser Geschichte der Gewalt zu verstehen, kann man der „Relativierung“ oder „Kontextualisierung“ b
n, kann man der „Relativierung“ oder „Kontextualisierung“ beschuldigt werden. Wir sind angehalten, zu verurteilen oder gutzuheißen, und das ergibt Sinn, aber ist das alles, was ethisch von uns zu verlangen ist? Tatsächlich verurteile ich die von der Hamas verübte Gewalt ohne Einschränkung. Es war ein schreckliches und abscheuliches Massaker. Das war meine erste Reaktion, und sie bleibt bestehen.Aber es gibt auch noch andere Reaktionen.Sag: Auf welcher Seite stehst du, auf der Israels oder auf der Palästinas?Fast sofort wollen die Leute wissen, auf welcher „Seite“ du stehst, und die einzig mögliche Reaktion auf solche Morde ist eine unmissverständliche Verurteilung. Aber warum denken wir manchmal, dass die Frage, ob wir die richtige Sprache dafür verwenden oder ob wir die historische Situation richtig verstehen, einer starken moralischen Verurteilung im Wege steht? Ist es wirklich relativierend zu fragen, was genau wir verurteilen, welche Tragweite diese Verurteilung haben sollte und wie wir die politische Formation, oder: die politischen Formationen, die wir ablehnen, am besten beschreiben können?Es wäre merkwürdig, etwas zu verurteilen, ohne es zu verstehen oder angemessen zu beschreiben. Und es wäre besonders merkürdig zu glauben, dass die Verurteilung eine Weigerung erfordert, zu verstehen, weil man befürchtet, dass Wissen nur eine relativierende Funktion haben kann, dass es unsere Urteilsfähigkeit nur untergraben kann. Und was ist, wenn es moralisch geboten ist, unsere Verurteilung auf Verbrechen auszudehnen, die ebenso abscheulich sind wie die, die wiederholt von den Medien in den Fokus gerückt werden? Wann und wo beginnt und endet unsere Verurteilung? Brauchen wir keine kritische und informierte Einschätzung der Lage, um die moralische und politische Verurteilung zu begleiten – ohne zu befürchten, dass diese Einschätzung, dieses Wissen uns in den Augen anderer zu moralischen Versagern macht, zu Komplizen abscheulicher Verbrechen?Die Verantwortung der Hamas in GazaEs gibt sie: Diejenigen, die die Geschichte der israelischen Gewalt in der Region nutzen, um die Hamas zu rechtfertigen. Sie nutzen dabei aber eine korrupte Form der moralischen Argumentation, um dieses Ziel zu erreichen. Um es einmal klar zu sagen: Die israelische Gewalt gegen die Palästinenser ist überwältigend: unerbittliche Bombardierungen, die Tötung von Menschen jeden Alters in ihren Häusern und auf den Straßen, Folter in ihren Gefängnissen, Techniken des Aushungerns in Gaza und die Enteignung von Häusern. Und diese Gewalt in ihren vielen Formen wird gegen eine Bevölkerung ausgeübt, die apartheidsähnlichen Regeln, der Kolonialherrschaft der Staatenlosigkeit unterworfen ist.Wenn das Harvard Palestine Solidarity Committee jedoch eine Erklärung abgibt, in der es behauptet, dass „das Apartheidregime allein die Schuld“ an den tödlichen Angriffen der Hamas auf israelische Ziele trägt, dann macht es einen Fehler. Es ist falsch, die Verantwortung auf diese Weise zuzuordnen, und nichts sollte die Hamas von der Verantwortung für die grausamen Morde, die sie verübt hat, freisprechen. Gleichzeitig hat dieses Komitee und seine Mitglieder es nicht verdient, auf eine schwarze Liste gesetzt oder bedroht zu werden. Sie haben sicherlich Recht, wenn sie auf die Geschichte der Gewalt in der Region hinweisen: „Von systematischen Landnahmen bis zu routinemäßigen Luftangriffen, von willkürlichen Verhaftungen bis zu militärischen Kontrollpunkten, von erzwungenen Familientrennungen bis zu gezielten Tötungen wurden die Palästinenser gezwungen, in einem Zustand des Todes zu leben – des langsamen und plötzlichen Todes gleichermaßen.“ Das ist eine zutreffende Beschreibung, aber das bedeutet nicht, dass die Gewalt der Hamas nur israelische Gewalt unter einem anderen Namen ist.Es stimmt, dass wir ein gewisses Verständnis dafür entwickeln sollten, warum Gruppen wie die Hamas angesichts der gebrochenen Versprechen von Oslo und des „Zustands eines langsamen und plötzlichen Todes“, der das Leben vieler unter der Besatzung lebender Palästinenser beschreibt, erstarkt sind, sei es die ständige Überwachung und die Androhung von Haft („administrative detention“) ohne ordnungsgemäßes Verfahren oder die sich verschärfende Belagerung, die den Menschen im Gazastreifen Medikamente, Nahrung und Wasser verweigert. Und trotzdem führt der Verweis auf ihre Geschichte zu keiner moralischen oder politischen Rechtfertigung der Aktionen der Hamas. Wenn wir dazu aufgefordert werden, die palästinensische Gewalt als Fortsetzung der israelischen Gewalt zu verstehen, wie es das Harvard Palestine Solidarity Committee von uns verlangt, dann gibt es nur eine Quelle moralischer Schuld, und selbst die Palästinenser erkennen ihre eigenen Gewalttaten nicht als ihre eigenen an. Auf diese Weise wird die Autonomie palästinensischen Handelns nicht anerkannt.Der israelische Siedler-KolonialismusDie Notwendigkeit, das Verständnis für die tiefgreifende und unerbittliche Gewalt des israelischen Staates von jeglicher Rechtfertigung der Gewalt zu trennen, ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir darüber nachdenken wollen, welche anderen Wege es gibt, um die koloniale Herrschaft abzuschütteln, willkürliche Verhaftungen und Folterungen in israelischen Gefängnissen zu beenden und der Belagerung des Gazastreifens ein Ende zu setzen, wo Wasser und Lebensmittel durch den Nationalstaat, der seine Grenzen kontrolliert, rationiert werden. Mit anderen Worten: Die Frage, welche Welt für alle Bewohner dieser Region noch möglich ist, hängt davon ab, wie der Siedler-Kolonialismus beendet werden kann. Die Hamas hat eine erschreckende und entsetzliche Antwort auf diese Frage, aber es gibt noch viele andere.Placeholder image-1Wenn es uns jedoch verboten ist, von „der Besatzung“ zu sprechen (was Teil des heutigen deutschen Denkverbots ist), wenn wir nicht einmal die Debatte darüber führen können, ob die israelische Militärherrschaft im Westjordanland oder Gazastreifen Züge von Apartheid oder Kolonialismus trägt, dann haben wir keine Hoffnung, die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft zu verstehen. So viele Menschen, die das Gemetzel über die Medien verfolgen, fühlen sich so hoffnungslos. Aber ein Grund für ihre Hoffnungslosigkeit liegt darin, dass sie über die Medien zusehen und in der flüchtigen Welt der hoffnungslosen moralischen Empörung leben. Eine andere politische Moral braucht Zeit, einen geduldigen und mutigen Weg des Lernens und Benennens, damit wir die moralische Verurteilung mit einer moralischen Vision begleiten können.Wir können nicht alle Historikerinnen und Soziologen für Israel und Palästina sein – oder?Ich lehne die von der Hamas ausgeübte Gewalt ab und habe kein Alibi zu bieten. Wenn ich das sage, dann vertrete ich eine klare moralische und politische Position. Ich lasse keine Zweideutigkeit zu, wenn ich darüber nachdenke, was diese Verurteilung voraussetzt und impliziert. Jeder, der sich dieser Verurteilung anschließt, könnte sich fragen, ob eine moralische Verurteilung auf einem gewissen Verständnis dessen beruhen sollte, wogegen sie gerichtet ist. Man könnte sagen: Nein, ich muss nichts über Palästina oder die Hamas wissen, um zu wissen, dass das, was sie getan haben, falsch ist, und um es zu verurteilen. Und wenn man es dabei belässt und sich auf die aktuellen Medienberichterstattungen verlässt, ohne jemals zu fragen, ob sie tatsächlich richtig und nützlich sind, ob sie die Geschichten erzählen lassen, dann nimmt man eine gewisse Unwissenheit in Kauf und vertraut auf den zur Verfügung gestellten Diskursrahmen. Schließlich sind wir alle sehr beschäftigt, und wir können nicht alle Historikerinnen oder Soziologinnen sein. Das ist eine mögliche Art zu denken und zu leben, und viele wohlmeinende Menschen leben auch so. Aber zu welchem Preis?Was wäre, wenn unsere Moral und unsere Politik nicht mit dem Akt der Verurteilung enden würden? Was wäre, wenn wir darauf bestehen würden zu fragen, welche Form des Lebens die Region von einer Gewalt wie dieser erlösen würde? Was wäre, wenn wir nicht nur die mutwilligen Verbrechen verurteilen, sondern eine Zukunft schaffen wollten, in der diese Art von Gewalt ein Ende hat? Dies ist ein normativer Anspruch, der über eine kurzfristige Verurteilung hinausgeht. Um dies zu erreichen, müssen wir die Geschichte der Situation kennen, das Erstarken der Hamas als militante Gruppe in der katastrophalen Post-Oslo-Phase für diejenigen im Gazastreifen, bei denen das Versprechen einer Selbstverwaltung nie eingelöst wurde; die Bildung anderer palästinensischer Gruppen mit anderen Taktiken und Zielen; und die Geschichte der Palästinenser und ihres Strebens nach Freiheit und dem Recht auf politische Selbstbestimmung, nach Befreiung von kolonialer Herrschaft und durchdringender militärischer Gewalt. Dann könnten wir Teil des Kampfes für ein freies Palästina sein, in dem die Hamas aufgelöst oder durch Gruppen mit gewaltfreien Bestrebungen für ein Zusammenleben abgelöst wird.Wer bei Empörung stehen bleibt, kann nicht aus Geschichte lernenDiejenigen, deren moralische Position sich allein auf die Verurteilung beschränkt, haben gar nicht zum Ziel, die Situation zu verstehen. Moralische Empörung dieser Art ist gleichermaßen anti-intellektuell und beschränkt auf die Gegenwart. Empörung kann aber auch dazu führen, dass man sich in die Geschichtsbücher vertieft, um herauszufinden, wie es zu solchen Ereignissen kommen konnte und ob sich die Bedingungen nicht so ändern könnten, dass eine Zukunft voller Gewalt nicht die einzig mögliche Zukunft ist. Es kann nicht sein, dass die eine „Kontextualisierung“ als moralisch problematische Tätigkeit angesehen wird, auch wenn es Formen der Kontextualisierung gibt, die dazu dienen können, die Schuld auf andere zu schieben – oder von Verantwortung zu entlasten.Können wir zwischen diesen beiden Formen der Kontextualisierung unterscheiden? Nur weil einige der Meinung sind, dass die Kontextualisierung abscheulicher Gewalt von der Gewalt ablenke oder, schlimmer noch, sie rationalisiere, bedeutet das nicht, dass wir vor der Behauptung kapitulieren sollen, alle Formen der Kontextualisierung seien auf diese Weise moralisch relativierend. Wenn das Harvard Palestine Solidarity Committee behauptet, dass „das Apartheid-Regime die alleinige Schuld“ an den Angriffen der Hamas trage, dann folgt es einer inakzeptablen Version der Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeiten. Es scheint, dass wir, um zu verstehen, wie ein Ereignis zustande gekommen ist oder welche Bedeutung es hat, etwas Geschichte lernen müssen.Die Macht der Sprache und der historischen EinordnungDas bedeutet, dass wir den Blick über die entsetzliche Gegenwart hinaus weiten müssen, ohne ihren Schrecken zu leugnen, und uns gleichzeitig weigern müssen, dieses Grauen als das gesamte Grauen zu betrachten, das es zu repräsentieren, zu kennen und zu bekämpfen gibt. Die zeitgenössischen Medien berichten größtenteils nicht über den Horror, den die palästinensische Bevölkerung seit Jahrzehnten in Form von Bombardments, willkürlichen Angriffen, Verhaftungen und Tötungen erlebt hat. Wenn die Schrecken der letzten Tage für die Medien eine größere moralische Bedeutung haben als die Schrecken der letzten siebzig Jahre, dann droht die moralische Reaktion des Augenblicks das Verständnis für die radikalen Ungerechtigkeiten, die das besetzte Palästina und die gewaltsam vertriebenen Palästinenser erdulden müssen, in den Hintergrund zu drängen – ebenso wie die humanitäre Katastrophe und die Verluste an Menschenleben in diesem Augenblick in Gaza.Manche Menschen befürchten zu Recht, dass jede Kontextualisierung der Gewalttaten der Hamas dazu benutzt wird, die Hamas zu rechtfertigen, oder dass die Kontextualisierung von dem Grauen ihrer Taten ablenkt. Was aber, wenn es das Grauen selbst ist, das uns dazu bringt, es in einen Kontext zu stellen? Wo fängt das Grauen an, und wo hört es auf? Wenn die Presse von einem „Krieg“ zwischen der Hamas und Israel spricht, bietet sie einen Rahmen für das Verständnis der Situation. Sie hat, in Wahrheit, die Situation schon im Voraus verstanden. Wenn der Gazastreifen als besetztes Gebiet verstanden oder als „Freiluftgefängnis“ bezeichnet wird, dann wird eine andere Interpretation angeboten.Es erscheint wie eine Beschreibung, aber die Sprache schränkt ein oder erleichtert, was wir sagen können, wie wir beschreiben können und was wir wissen können. Ja, die Sprache kann beschreiben, aber sie erhält nur dann die Macht, dies zu tun, wenn sie sich an die Grenzen dessen hält, was sagbar ist. Wenn entschieden wird, dass wir nicht wissen müssen, wie viele palästinensische Kinder und Jugendliche in diesem Jahr oder in den Jahren der Besatzung sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen getötet wurden, dass diese Information nicht wichtig ist, um von den Angriffen auf Israel und die Tötung von Israelis zu erfahren oder sie zu bewerten, dann haben wir entschieden, dass wir die Geschichte der Gewalt, der Trauer und der Empörung nicht kennen wollen, wie sie von Palästinensern gelebt wird. Wir wollen nur die Geschichte der Gewalt, der Trauer und der Empörung kennen, wie sie von Israelis gelebt wird.Auch ich als Jüdin lebe mit dem generationenübergreifenden Trauma der GräueltatenEine israelische Freundin, die sich selbst als „Antizionistin“ bezeichnet, schreibt im Internet, dass sie Angst um ihre Familie und Freunde hat, dass sie Menschen verloren hat. Und wir sollten mit ihr fühlen, ich tue es. Es ist ohne jeden Zweifel schrecklich. Doch gibt es keinen Moment, in dem ihre eigene Erfahrung des Schreckens und des Verlusts ihrer Freunde und Familie als das gesehen wird, was eine Palästinenserin auf der anderen Seite fühlen könnte, oder was sie nach den Jahren der Bombardierung, der Inhaftierung und der militärischen Gewalt fühlt? Ich bin Jüdin, die mit einem generationenübergreifenden Trauma infolge der Gräueltaten lebt, die an Menschen wie mir begangen wurden. Aber sie wurden auch an Menschen begangen, die nicht wie ich sind. Ich muss mich nicht mit diesem Gesicht oder diesem Namen identifizieren, um die Gräueltaten zu benennen, die ich sehe. Oder ich kämpfe zumindest darum, dass es nicht so ist.Letztlich ist das Problem aber nicht einfach ein Versagen der Empathie. Denn Empathie entsteht vor allem innerhalb eines Rahmens, der eine Identifikation oder eine Übersetzung zwischen der Erfahrung eines anderen und meiner eigenen ermöglicht. Und wenn der vorherrschende Rahmen einige Leben als besser betrauerbar ansieht als andere, dann folgt daraus, dass eine Art von Verlusten entsetzlicher ist als eine andere Art von Verlusten. Die Frage, wessen Leben es wert sind, betrauert zu werden, ist ein wesentlicher Bestandteil der Frage, wessen Leben es wert sind, geachtet zu werden. Und hier kommt auf entscheidende Weise Rassismus ins Spiel. Wenn die Palästinenser „menschliche Tiere“ sind, wie der israelische Verteidigungsminister behauptet, und wenn die Israelis jetzt „das jüdische Volk“ repräsentieren, wie Joe Biden behauptet (und die jüdische Diaspora mit Israel verschmelzen lässt, wie es die Reaktionäre fordern), dann sind die einzigen betrauerbaren Menschen in dieser Szene, die einzigen, die Anspruch auf einer Trauer haben, die Israelis, denn der „Krieg“ spielt sich jetzt zwischen dem jüdischen Volk und den Tieren ab, die es umbringen wollen.Die rassistische Bezeichnung von Palästinensern als „Tiere“Es ist sicher nicht das erste Mal, dass eine Gruppe von Menschen, die sich von kolonialen Fesseln befreien will, von den Kolonisatoren als Tiere dargestellt wird. Sind die Israelis „Tiere“, wenn sie töten? Diese rassistische Einordnung zeitgenössischer Gewalt wiederholt den kolonialen Gegensatz zwischen den „Zivilisierten“ und den „Tieren“, die zurückgedrängt oder vernichtet werden müssen, um die „Zivilisation“ zu schützen. Wenn wir uns diesen Rahmen zu eigen machen, um unseren moralischen Widerstand zu bekunden, finden wir uns verwickelt in eine Form des Rassismus, die über die Äußerung hinausgeht und die Struktur des täglichen Lebens in Palästina betrifft. Und dafür ist sicherlich eine radikale Wiedergutmachung fällig.Wenn wir glauben, dass die moralische Verurteilung ein klarer, punktueller Akt sein muss, ohne Bezug auf irgendeinen Kontext oder ein Wissen, dann akzeptieren wir unweigerlich die Bedingungen, unter denen diese Verurteilung erfolgt, die Bühne, auf der die Alternativen inszeniert werden. In diesem jüngsten Kontext bedeutet das Akzeptieren dieser Bedingungen, Formen des kolonialen Rassismus zu reproduzieren, die Teil des strukturellen Problems sind, das es zu lösen gilt, der anhaltenden Ungerechtigkeit, die überwunden werden muss. Wir können es uns also nicht leisten, im Namen der moralischen Gewissheit von der Geschichte des Unrechts abzusehen, denn damit riskieren wir, weiteres Unrecht zu begehen, und irgendwann wird unsere Gewissheit auf diesem nicht sehr festen Boden ins Wanken geraten. Warum können wir moralisch abscheuliche Taten nicht verurteilen, ohne unsere Fähigkeit zu denken, zu wissen und zu urteilen zu verlieren? Sicher können wir beides, und wir müssen.Wie können wir um die Toten in Israel und in Gaza gleichermaßen trauern?Die Gewalttaten, die wir in den Medien beobachten, sind schrecklich. Und in dieser Zeit der gesteigerten Medienaufmerksamkeit ist die Gewalt, die wir sehen, die einzige Gewalt, die wir kennen. Ich wiederhole: Wir haben Recht, diese Gewalt zu verabscheuen und unser Entsetzen auszudrücken. Mir ist schon seit Tagen übel. Jeder, den ich kenne, lebt in Angst davor, was die israelische Militärmaschinerie als nächstes tun wird, ob Netanjahus völkermordartige Rhetorik sich in der Massentötung von Palästinensern niederschlagen wird. Ich frage mich, ob wir ohne Einschränkung sowohl um die verlorenen Leben in Israel als auch um die in Gaza trauern können, ohne uns in Debatten über Relativismus und Gleichwertigkeit zu verzetteln. Vielleicht dient der breitere Rahmen der Trauer einem substanzielleren Ideal der Gleichheit, einem Ideal, das die gleichwertige Betrauerbarkeit der Leben anerkennt und die Empörung darüber hervorruft, dass diese Leben nicht hätten verloren gehen dürfen, dass die Toten mehr Leben und die gleiche Anerkennung für ihr Leben verdient hätten.Placeholder image-2Wie können wir uns überhaupt eine zukünftige Gleichheit der Lebenden vorstellen, wenn wir nicht wissen, dass israelische Streitkräfte und Siedler seit 2008 im Westjordanland und im Gazastreifen fast 3.800 palästinensische Zivilisten getötet haben, noch bevor die gegenwärtigen Kämpfe begannen, wie das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) dokumentiert hat. Wo bleibt die Trauer der Welt um diese Menschen? Hunderte von palästinensischen Kindern sind gestorben, seit Israel seine „Rache“-Militäraktionen gegen die Hamas begonnen hat, und viele weitere werden in den kommenden Tagen und Wochen sterben.Eine gewaltfreie Welt wird durch gewaltfreie Befreiungskämpfe erschaffenEs muss unsere moralische Position nicht bedrohen, wenn wir uns die Zeit nehmen, etwas über die Geschichte der kolonialen Gewalt zu lernen und die Sprache, die Narrative und die Rahmenbedingungen zu untersuchen, die heute verwendet werden, um über die Geschehnisse in dieser Region zu berichten und sie zu erklären – und im Voraus zu interpretieren. Diese Art von Wissen ist von entscheidender Bedeutung, aber nicht, um bestehende Gewalt zu rationalisieren oder weitere Gewalt zu legitimieren. Ihr Ziel ist es, ein wahrheitsgetreueres Verständnis der Situation zu vermitteln, als es eine unbestrittene Darstellung der Gegenwart allein leisten kann. In der Tat kann es weitere Positionen der moralischen Opposition geben, die zu denen hinzukommen, die wir bereits akzeptiert haben, einschließlich einer Ablehnung der militärischen und polizeilichen Gewalt, die das Leben der Palästinenser in der Region durchdringt und ihnen das Recht nimmt, zu trauern, ihre Empörung und Solidarität zu kennen und auszudrücken und ihren eigenen Weg in eine Zukunft in Freiheit zu finden.Ich persönlich vertrete eine Politik der Gewaltlosigkeit, wohl wissend, dass sie unmöglich als absolutes Prinzip funktionieren kann, das bei jeder Gelegenheit anzuwenden ist. Ich behaupte, dass Befreiungskämpfe, die Gewaltfreiheit praktizieren, dazu beitragen, die gewaltfreie Welt zu schaffen, in der wir alle leben wollen. Ich verurteile die Gewalt unmissverständlich und möchte gleichzeitig, wie so viele andere, Teil der Vorstellung und des Kampfes für wahre Gleichheit und Gerechtigkeit in der Region sein, die Gruppen wie die Hamas zum Verschwinden bringen, die Besatzung beenden und neue Formen der politischen Freiheit und Gerechtigkeit zum Blühen bringen würden. Ohne Gleichheit und Gerechtigkeit, ohne ein Ende der staatlichen Gewalt, die von einem Staat, Israel, ausgeübt wird, der selbst in Gewalt gegründet wurde, ist keine Zukunft vorstellbar, keine Zukunft des wahren Friedens – der nicht „Frieden“ als Euphemismus für Normalisierung bedeutet, was heißt, dass Strukturen der Ungleichheit, der Rechtlosigkeit und des Rassismus aufrechterhalten werden. Aber eine solche Zukunft kann nicht entstehen, ohne die Freiheit zu haben, alle Gewalt, einschließlich der israelischen Staatsgewalt in all ihren Formen, zu benennen, zu beschreiben und sich ihr zu widersetzen, und das ohne Angst vor Zensur, Kriminalisierung oder dem böswilligen Vorwurf des Antisemitismus zu tun.Die Welt, die ich mir wünsche, ist eine Welt, die sich der Normalisierung der Kolonialherrschaft widersetzt und die Selbstbestimmung und Freiheit der Palästinenser unterstützt, eine Welt, die tatsächlich den tiefsten Sehnsüchten aller Bewohner dieser Gebiete nach einem Zusammenleben in Freiheit, Gewaltlosigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit entspricht. Diese Hoffnung erscheint vielen zweifellos naiv, ja sogar unmöglich. Dennoch müssen einige von uns wie wild an ihr festhalten, sich weigernd zu glauben, dass die Strukturen, die jetzt bestehen, für immer bestehen werden. Dazu brauchen wir unsere Dichterinnen und Träumer, die ungezähmten Narren, die sich zu organisieren wissen.
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