Im Jahr 2015 führte ich Regie bei der amerikanischen Erstaufführung eines israelischen Theaterstücks, das sich mit Gaza beschäftigt. Heute finde ich keinen Ort mehr, wo ich das Stück auf die Bühne bringen könnte. Gilad Evrons Ulysses on Bottles („Ulysses auf dem Flaschenfloß“) erzählt von Izakov, einem jüdisch-israelischen Rechtsanwalt, der zwei Mandanten vertritt. Der eine ist ein palästinensischer Literaturprofessor in Israel mit dem Spitznamen Ulysses. Er wurde von den Israelis verhaftet, als er auf einem Floß aus Plastikflaschen Gaza erreichen wollte, um russische Literatur dorthin zu bringen. Der andere ist ein Beamter des israelischen Verteidigungsministeriums, der bei ihm juristischen Rat sucht bezüglich de
Israelisches Theaterstück über Gaza: Traut sich wer, „Ulysses on Bottles“ heute zu zeigen?
Kunst Der Regisseur Guy Ben-Aharon hat das israelische Theaterstück „Ulysses on Bottles“, das von Gaza handelt, inszeniert. Es wirkt heute prophetisch. Trotzdem findet er kein Theater, das es inszeniert – dabei wäre das gerade jetzt richtig
Foto: Paul Marotta, courtesy of Israeli Stage/ArtsEmerson
te ich Regie bei der amerikanischen Erstaufführung eines israelischen Theaterstücks, das sich mit Gaza beschäftigt. Heute finde ich keinen Ort mehr, wo ich das Stück auf die Bühne bringen könnte. Gilad Evrons Ulysses on Bottles („Ulysses auf dem Flaschenfloß“) erzählt von Izakov, einem jüdisch-israelischen Rechtsanwalt, der zwei Mandanten vertritt. Der eine ist ein palästinensischer Literaturprofessor in Israel mit dem Spitznamen Ulysses. Er wurde von den Israelis verhaftet, als er auf einem Floß aus Plastikflaschen Gaza erreichen wollte, um russische Literatur dorthin zu bringen. Der andere ist ein Beamter des israelischen Verteidigungsministeriums, der bei ihm juristischen Rat sucht bezXX-replace-me-XXX252;glich der Frage, ob Israel wegen seiner Blockade des Gazastreifens des Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt werden könnte. Das Stück setzt sich mit Menschen auseinander, die in völlig verschiedenen Realitäten leben: ein Leben voller Privilegien hier, ein Leben voller Benachteiligungen dort.Es war alles andere als einfach, dieses Stück in Israel uraufzuführen. Von mindestens einem jüdischen Schauspieler weiß man, dass er die Hauptrolle nicht spielen wollte; er fürchtete, auf der schwarzen Liste für die Werbespots im israelischen Fernsehen zu landen. Schließlich wurde die Rolle mit einem palästinensischen Israeli besetzt. Doch immerhin, es kamen mehr als 80 Aufführungen zustande und das Stück gewann 2012 Israels wichtigsten Theaterpreis für die beste Uraufführung. Der Autor Gilad Evron erzählte mir, er habe einmal neben einem Palästinenser im Publikum gesessen, der ihm nach dem Ende der Aufführung lange die Hand gedrückt und „Danke“ gesagt habe. Ulysses hatte seinem Schrei eine Stimme gegeben.Wir schauen zu und ringen mit uns selbstAls ich drei Jahre später in Boston bei dem Stück Regie führte, wusste ich, dass mein Publikum erschüttert sein würde. Auch für mich waren die präsentierten Ansichten und Fakten eine Herausforderung: die alltägliche Gleichgültigkeit der Israelis gegenüber der Blockade des Gazastreifens, von der unsere Regierung gehofft hatte, sie würde die herrschende Hamas schwächen, die jedoch zu einer grausamen Politik kollektiver Bestrafung führte.Mein eigenes Unwohlsein war genau der Grund, warum ich das Stück auf die Bühne bringen wollte. Das Theater bietet die Möglichkeit, uns mit der Welt auf eine Art und Weise zu konfrontieren, die provokant und mehrdeutig bleibt. Es macht die politische Realität greifbar, ohne dass man sich für etwas entscheiden muss: Wir schauen zu und ringen mit uns selbst.Beim Generalkonsul in BostonDie Reaktion auf meine Produktion könnte man so zusammenfassen: „Künstlerisch toll, aber wohl fühle ich mich dabei nicht.“ Die Karten waren meist ausverkauft – in den letzten beiden Wochen mussten wir eine weitere Stuhlreihe aufstellen. Meine damalige Theaterkompanie, deren Ziel es war, in den USA israelische Theaterstücke bekannt zu machen, verprellte damit aber auch einen Teil des Publikums – und finanzielle Unterstützer. Der Leiter der Jewish Federation von Boston bezeichnete das Stück als anti-israelisch und kam nie wieder zu meinen Aufführungen. Seine Organisation hatte die Produktion des Stücks finanziert, kürzte aber in der Folge die Unterstützung meiner Kompanie. Der israelische Generalkonsul in Boston rief mich in sein Büro und sagte, ich solle andere Stücke aufführen.Am Morgen nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober fühlte ich mich hilflos und voller Angst und las das Stück ein weiteres Mal.Die problematischste SzeneHier eine Kurzfassung seiner problematischsten Szene: Seinfeld, der israelische Beamte des Verteidigungsministeriums, beichtet seinem Anwalt Izakov seine tiefsten Ängste: Die Bevölkerung in Gaza wächst stark an, Krankheiten brechen aus, unsere Blockade Gazas fliegt uns um die Ohren.Seinfeld: „Wir riegeln Gaza von allen Seiten ab und dennoch wird es nie verschwinden. Es wird nicht im Meer versinken. Stell dir zehn Millionen Menschen vor, die nicht herauskönnen, die sich kaum rühren können, infiziert sind, in ihrem Schweiß schmoren, hungern, dahinsiechen, kopulieren, sich aneinanderdrängen, bis die Haut des einen zur Haut des anderen wird und sie zu einem Fleischbrei verschmelzen, der weder Anfang noch Ende hat, stell dir vor, wie ihre Exkremente in reißenden Strömen fließen ... Stell dir vor, wie dieser Menschenbrei bis an den Rand der Schüssel quillt, bis an den Trennzaun, an die Grenze und dann zu uns herüberschwappt. Ihre Angst wird sie nicht mehr aufhalten. Ob sie leben oder sterben, macht für sie keinen Unterschied mehr. Und sie kommen und überrennen uns, und was dann, Rechtsanwalt? An der Grenze schieße ich auf sie, dass es nur so ballert, und vielleicht stehen meine Kinder mir zur Seite, und vielleicht auch deine, und wir schießen, und immer mehr von ihnen kommen und überwältigen uns, und wir feuern immer weiter unsere Schüsse ab. Stell dir die Massen vor, Rechtsanwalt. Hunderte, Tausende, Millionen? Wie viele? Wie lange?“Heute wirkt das Stück prophetisch. Seit 17 Jahren riegelt Israel den Gazastreifen ab, und er ist nicht im Meer versunken. Die Angst vor dem Tod hielt die Hamas nicht davon ab, am 7. Oktober nach Israel zu strömen, 1.200 Menschen zu töten und über 240 Menschen als Geiseln zu nehmen. Jetzt, da fast zwei Millionen Palästinenser auf der Flucht vor israelischen Bombardements Vertriebene innerhalb des Gazastreifens sind, grassieren Krankheiten und Mangelernährung ist ein größeres Problem denn je.Angst um die FinanzierungUnd wie im Stück vorhergesagt, schießen unsere Väter und Söhne weiter. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden in Gaza hat das israelische Militär mehr als 25.000 Palästinenser getötet, darunter 10.000 Kinder. Wer weiß, wie viele weitere getötet sein werden, wenn dieser Artikel erscheint? „Tausende? Millionen? Wie viele?“Als israelischer Regisseur, der mit dieser schrecklichen Realität konfrontiert ist, möchte ich auf die einzige Art und Weise reagieren, von der ich weiß, wie sie geht: der Welt einen Spiegel vorhalten; die Leute auffordern, ins Theater zu kommen und in sich zu gehen. Ulysses on Bottles würde genau das ermöglichen. Doch wo könnte ich das Stück heute auf die Bühne bringen?In Deutschland wohl kaum. Dort würde man es des Antisemitismus bezichtigen oder zum jetzigen Zeitpunkt für unsensibel halten – so wie eine Woche nach Beginn des Israel-Hamas-Krieges, als das Gorki-Theater eine Aufführung von Yael Ronens Stück The Situation absagte, das sich mit der dritten Generation von Deutschen, Israelis und Palästinensern befasst, deren Familien den Holocaust und die Nakba erlebt haben.Produktionen und Statements zu Gaza untersagtIn den USA ist eine Aufführung auch nicht möglich. Dortige Theater müssten befürchten, die finanzielle Unterstützung jüdischer Geldgeber zu verlieren. Und wer etwas über das Leiden der Palästinenser erfahren will, möchte palästinensische Stimmen zu Wort kommen lassen und nicht sehen, was ein israelischer Dramatiker über Gaza zu sagen hat. Im November fragte ich den Theaterproduzenten einer Uni-Theatergruppe in Boston, ob er eine Lesung des Stücks auf die Bühne bringen würde. Er antwortete, der Universitätspräsident habe dem Theater Produktionen und Statements zu Gaza untersagt.Und in Israel? Ich konnte kein israelisches Theater finden, das es wagen würde, das Stück jetzt aufzuführen. Ich unterhielt mich per SMS mit jemandem von dem Theater, welches das Stück ursprünglich herausgebracht hatte, und fragte, ob sie sich vorstellen könnten, es jetzt aufzuführen. Das Gespräch endete, es gab keine Antwort.Sie mögen sich im Stillen fragen: Wen interessiert Theater, wenn Menschen sterben?Dabei spielt das Theater eine bedeutende Rolle in der israelischen Lebenswelt. Beeindruckende 40 Prozent der Bevölkerung gehen ins Theater. Dennoch weigern sich die großen israelischen Theater, sich mit dem existenziellsten Problem der israelischen Gesellschaft auseinanderzusetzen: der Besatzung.Das ist nicht nur in Zeiten des Krieges so. Gaza ist schon vor langer Zeit aus dem israelischen Theater verschwunden. Ulysses on Bottles war das letzte größere Stück, das Gaza ins Rampenlicht rückte, und das ist zwölf Jahre her. Das israelische Theater wurde schon immer vom Staat gesteuert: Schauspieler gehen aus den Theatergruppen des israelischen Militärs hervor, alle Theater sind von öffentlichen Geldern abhängig. Wenn ein Theater die israelische Politik gegenüber den Palästinensern kritisierte oder sich mit dem Tabuthema der Nakba befasste, der Vertreibung von Palästinensern in Israels Gründungskrieg, kürzten Kulturminister dessen Finanzierung oder knüpften daran Bedingungen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten, in denen Israel nach rechts rückte, zensierten sich die Theatermacher selbst, um zu überleben.Schweigen für die SchauspielschuleSeit Kriegsbeginn ist die Kontrolle noch stärker geworden. Eine befreundete israelische Schauspielerin, die in einer Schauspielschule unterrichtete, wurde entlassen, weil sie im Internet einen Beitrag zum Leiden der Palästinenser vor dem 7. Oktober veröffentlicht hatte. Jetzt schweigt sie, damit sie im nächsten Semester unterrichten kann. Im November setzte Jerusalems Stadttheater das Stück eines afghanisch-britischen Dramatikers über die Verbannung seiner Familie aus Afghanistan wegen Kritik an den Taliban ab, weil er bei Twitter vom „Gaza Genozid“ geschrieben hatte. „Wir können das Werk dieses Autors nicht gutheißen“, erklärte der Manager des Theaters.Nach dem 7. Oktober schlossen die israelischen Theater für einige Wochen, da mehrmals am Tag Raketen auf Tel Aviv niederregneten und sich die Öffentlichkeit im Schockzustand befand. Kurz darauf begannen bekannte Theaterschauspieler, vor den israelischen Truppen an der Grenze zu Gaza aufzutreten.Mittlerweile haben die Theater wieder geöffnet und bieten dem Publikum Ablenkung vom Krieg. Israels größtes Theater, das Cameri, zeigt Angels in America, Part II und eine Reihe von Wohnzimmer-Familiendramen. Das Nationaltheater Habima bringt ein neues Stück über die frühere Ministerpräsidentin Golda Meir, ein Stück über ultra-orthodoxe Frauen und eine Musical-Revue mit dem Titel Broadway Nights.Eingebetteter MedieninhaltEs gibt in Ulysses on Bottles eine Szene, in der Izakov versucht, Ulysses zu überzeugen, im Gegenzug für seine Entlassung aus dem Gefängnis eine Vereinbarung zu unterzeichnen, mit der er verspricht, nie wieder gen Gaza zu segeln.„Izakov: Unterschreiben Sie die Vereinbarung und fertig! Hören Sie auf, mit all diesen Worten herumzuspielen. Es reicht ... Genug damit, Ihr Leben für etwas derart Bedeutungsloses wegzuwerfen ... Hören Sie auf, eine Parodie zu sein, eine ausgelöschte Spezies, für die sich keiner interessiert und von der keiner weiß. Ihre Anonymität ist absolut. Die Galerie ist leer. Es gibt keinerlei Protestbewegung, keinerlei Echo, der Platz ist leer. Gehen Sie nach Hause!“Tatsächlich wirken Israels Plätze leer. Die Anti-Kriegs-Proteste bestehen im besten Fall aus hundert Demonstranten. Die Theater sind voll, aber es gibt keinen Raum dafür, dass ein israelischer Theaterregisseur Gaza ins Rampenlicht setzt. Nicht in Israel und nirgendwo sonst. Es gibt keinen Ort, von dem aus Ulysses die Segel setzen könnte.Placeholder authorbio-1Placeholder infobox-1
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