Lettland verlangt einen Sprachtest von den Russen im Land: Loyalitätstest in Daugavpils
Lettland Mehr als ein Drittel der Bevölkerung spricht Russisch. Jetzt bangen vor allem ältere Frauen: Sie sollen eine Lettisch-Prüfung bestehen – sonst droht die Ausweisung
Sokols Eltern liegen in Belarus begraben. In Russland war sie seit 42 Jahren nicht
Foto: Sophie Tichonenko
Etwas verloren sitzen die achtzehn älteren Frauen und Männer auf den Zweierbänken des übergroßen Schulungsraumes. Vom Innenhof des mehrstöckigen Gebäudes im Zentrum von Daugavpils hört man Möwen schreien und Kinder lachen. Verkehrte Welt: Während die Jüngeren draußen herumtoben, sitzen Menschen, die ihre Großeltern sein könnten, wieder in der Schule. Die Lettischlehrerin, die einen strengen Blick hat, versucht ihrer Klasse die Grammatik einzubläuen. „Wenn Sie nicht lernen wollen, müssen Sie gar nicht erst hierherkommen“, sagt sie. „Dann verschwenden Sie Ihre Zeit.“ Ein nervöses Tuscheln geht durch den Raum. Niemand ist freiwillig hier. Und niemand hat viel Zeit.
Mehr als ein Drittel
n Drittel der Bevölkerung spricht Russisch. Ein Erbe der Sowjetzeit, als die Russifizierung vorangetrieben wurde und Menschen aus Russland, der Ukraine und Belarus zur Arbeit nach Lettland kamen. In Daugavpils, der mit 93.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt des Landes, ist die Minderheit jedoch in der Mehrheit.Nur zwei Stunden Autofahrt von der russischen und eine halbe Stunde von der belarusischen Grenze entfernt, wird in der ruhigen Provinzstadt praktisch nur Russisch gesprochen. Die gemusterten Röcke der Frauen, die prächtig renovierten orthodoxen Kirchen, die Ticketverkäuferinnen in der Tram – das alles könnte genauso gut auf der anderen Seite der Grenze sein. Alte Straßenschilder sind immer noch zweisprachig. Ab und zu sieht man sogar Geschäfte, die auf Kyrillisch werben. Dabei gibt es in Lettland nur eine einzige Nationalsprache – und das ist Lettisch.Aufenthaltserlaubnis adeSeit der Unabhängigkeit und spätestens seit der russischen Annexion der Krim 2014 versucht die Regierung in Riga, das Land unter einen einheitlichen sprachlichen Schirm zu bringen: Schulen sollten nach und nach nur noch auf Lettisch unterrichten, alle öffentlichen Dienstleistungen nur noch auf Lettisch angeboten werden. Aber seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine kann es der Politik nicht schnell genug gehen.„Diesen Brief habe ich am 18. April erhalten“, sagt Liudmila Sokol, eine 64-jährige Frau mit kurzen blonden Haaren und einem goldenen Kreuz um den Hals. Sie möchte erzählen – von der Ungerechtigkeit, von der Absurdität, von der Angst. „Das war ein richtiger Schock“, fügt sie hinzu und legt das offizielle Schreiben auf den Tisch, ein unscheinbares Dokument, zerknittert und leicht eingerissen.Auf Lettisch steht da, dass Liudmila Sokol bis zum 1. September desselben Jahres einen Sprachtest auf A2-Niveau bestehen muss. Ansonsten laufe am 1. Dezember ihre Aufenthaltserlaubnis aus. Denselben Brief haben 3.300 weitere Personen in Daugavpils erhalten. Und 25.000 in ganz Lettland. Das ist ein verhältnismäßig kleiner Teil der russischsprachigen Bevölkerung. Denn das neue Gesetz betrifft nur diejenigen, die sich seit 2001 dafür entschieden haben, zur russischen Staatsbürgerschaft zu wechseln. Es geht um Loyalität in Zeiten eines Krieges, der praktisch vor Lettlands Haustüre stattfindet. Und Loyalität wird an der Sprache festgemacht.„Oft wird mir die Frage gestellt, wie es sein kann, dass man dreißig Jahre in Lettland lebt und nie die Sprache gelernt hat“, sagt Olga Petkovic. Die ehemalige Journalistin redet sich schnell in Rage, wenn es um diesen neuesten Entwurf der lettischen Politik geht. Seit diesem Frühjahr engagiert sie sich gegen das neue Gesetz, unter anderem indem sie in den sozialen Medien auf die Thematik aufmerksam macht. Bei der betroffenen Bevölkerung ist sie mittlerweile stadtbekannt. Auch weil sie nicht müde wird, die politischen Argumente ad absurdum zu führen: „Man hatte doch, wenn man in einer Stadt lebt, in der vor allem Russisch gesprochen wird, nie einen Grund, die Sprache zu lernen!“So geht es auch Liudmila Sokol. Mit 16 Jahren ist sie aus Belarus nach Daugavpils gezogen, hat hier geheiratet, zwei Kinder großgezogen und ihr Leben lang als Reinigungskraft gearbeitet. An der Wand ihrer Wohnung im dritten Stock hängen alte Familienfotos aus Belarus. Eines mit dem Akkordeon auf der Datscha. Eines ihrer Großeltern, aufrecht und hager. Die Bilder an dieser Wand strahlen die Ernsthaftigkeit eines für Belarus gewaltvollen 20. Jahrhunderts aus.Seit 34 Jahren wohnt Liudmila Sokol zusammen mit ihrem Mann in dieser Wohnung in einem nördlichen Vorort von Daugavpils, Jaunā Forštate, zu Deutsch „Neuvorstadt“. In den 1980ern aus der Erde gestampft, ist das Viertel geprägt von niedrigen, bunten Holzhäusern und sowjetischen Wohnblöcken, die notdürftig zusammengeflickt so weit auseinanderstehen, dass der Wind ungehindert dazwischen hindurchpfeifen kann. Und es ist geprägt von einer Bevölkerung, die zum Großteil während der Sowjetzeit aus Belarus hierhergezogen ist. „Deshalb nennen wir es auch Sharkavshchyna“, erklärt Liudmila Sokol lachend. Sharkavshchyna ist ein Städtchen in Belarus, nicht weit von der Grenze entfernt.Westliches MagazinMit zwei dicken Ordnern voller Dokumente und Lettischübungen setzt sich die ältere Frau auf das graue Sofa im Wohnzimmer, Katzenhaare wirbeln auf. Es riecht nach schwarzem Tee und Erdbeermarmelade. Sie hat auch ihre Pässe hervorgekramt. „Bis 2011 hatte ich einen Nichtbürger-Pass“, sagt sie und zeigt den durchlochten blauen Ausweis. Wie ein Großteil der russischsprachigen Bevölkerung, die keine Vorfahren vor 1940 in Lettland nachweisen konnte, hatte Liudmila Sokol nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands 1990 keinen lettischen, sondern einen „Nichtbürgerpass“ erhalten. Damit konnte sie zwar dauerhaft in Lettland leben. Aber wählen durfte sie nicht.Als es Mitte der 2000er Jahre für Nichtbürger wie Liudmila Sokol möglich wurde, vereinfacht die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten, ergriffen viele diese Möglichkeit. „Auch, um überhaupt Bürger eines Landes zu sein“, so Olga Petkovic. 2011 beantragte auch Liudmila Sokol einen russischen Pass. „Ich habe überhaupt keine Beziehung zu Russland“, stellt sie klar und reicht den russischen Pass herum. Das letzte und einzige Mal sei sie vor 42 Jahren in Russland gewesen. „Aber mit dem russischen Pass konnte ich ohne Visum nach Belarus reisen. Dort sind die Gräber meiner Eltern.“ Außerdem erhielt sie eine monatliche Rente – und zwar mit 55 Jahren um einiges früher als in Lettland. Die hundert Euro waren ein kleiner Zuschuss für das ohnehin schmale Budget.2011, als Liudmila Sokol die russische Staatsbürgerschaft annahm, war die Welt scheinbar noch in Ordnung. 2011, das war vor der russischen Annexion der Krim; Lettland pflegte eine distanziert höfliche Beziehung zu Russland. 2011 hätte Liudmila Sokol nie gedacht, dass der russische Pass einmal ihre Loyalität zu Lettland infrage stellen könnte. Etwas, was sie persönlich trifft. „Ich gehöre doch auch hierhin“, sagt sie und zieht dann mehrere Blätter aus einer Klarsichtfolie heraus. Es ist der gesetzlich verlangte Sprachtest, den sie vor Kurzem gemacht hat. Er besteht aus vier Teilen. In allen vier Teilen muss eine Mindestpunktzahl erreicht werden.Am Schluss ist sie wegen eines Punkts durchgefallen. Ihr bleiben noch zwei weitere Versuche. Sie ist unsicher, ob sie durchkommt. „Aber noch habe ich die Hoffnung nicht verloren.“Placeholder image-1Inna Plavoka findet auch: „Es ist einfach sehr wenig Zeit.“ Alte Menschen, wie zum Beispiel ihre 74 Jahre alte Mutter, könnten doch keine Sprache mehr in einem halben Jahr lernen. Die Chefredakteurin des lokalen Onlinemediums Chayka sitzt in der Café-Bar „Lampa“, einem der wenigen hippen Lokale in Daugavpils. Im Hintergrund sind wummernde Beats zu hören. Hier sitzen einige junge Leute an den Tischen. Das ist ungewöhnlich, denn ansonsten ist es eine Stadt der Alten. Die Jungen sind weggezogen, nach Riga oder gleich ins Ausland. Und die Alten sind es, die von dem neuen Gesetz betroffen sind. Zwei Drittel sind zwischen 60 und 75 Jahre alt, zwei Drittel sind Frauen. Inna Plavoka fungiert als Brückenbauerin.In Daugavpils aufgewachsen, vertritt sie eine westlichere, man könnte sagen, eine lettischere Ansicht als viele Einwohner der Stadt. Das von ihr gegründete Magazin Chayka war das einzige russischsprachige Medium in der Gegend, das den Krieg von Anfang an als solchen benannte und darüber berichtete. Mit dem sowjetischen Denkmal, das noch immer im Stadtpark steht, kann sie nicht viel anfangen. Die Schuld für die jetzige Situation sieht sie auch ein wenig bei der russischsprachigen Bevölkerung. „Wir haben uns nie darum gekümmert, Lettisch zu lernen“, sagt sie.Russland umwarb sie heftigAber sie kann sich auch noch sehr gut an die Werbekampagne der russischen Botschaft erinnern. „In den Zeitungen, im Fernsehen, auf Plakaten: Überall hat Russland die Vorteile der Staatsbürgerschaft angepriesen.“ Nichtbürger seien regelrecht umworben worden. Es war ein Tauziehen, das Lettland verlor, weil es weniger attraktive Bedingungen anbot. Weil es den Leuten nicht um Loyalität ging, sondern nur darum, ein gutes Leben zu führen. „Was diese Menschen jetzt brauchen, ist Unterstützung“, kritisiert Inna Plavoka, „Leider existiert die bisher kaum.“Während es in der Hauptstadt Riga kostenlose Sprachkurse gibt, werden solche in Daugavpils nur für Arbeitslose angeboten. Seniorinnen und Senioren müssen die Kurse selbst bezahlen. Bei einer Rente zwischen 100 und 140 Euro im Monat sind die Kurskosten von 150 Euro ein kleines Vermögen. Im Weiterbildungszentrum Latinsoft, der zweiten Sprachschule in Daugavpils, zahlen die Teilnehmerinnen dieses Vermögen trotzdem. Zweimal die Woche versammelt sich dort in einem grau verputzten Innenstadtgebäude eine zwanzigköpfige Gruppe, mit einer Ausnahme alles Frauen über sechzig. Dass der Test am Computer stattfindet, ist für viele ein ebenso großer Stressfaktor. Den sechs Frauen, die in der Pause zwischen den Unterrichtsstunden ohne Unterbrechung auf die beiden Journalistinnen einreden, ist die Panik anzuhören. „Ich habe zu Hause weder Handy noch Computer“, erzählt eine kleine Frau mit hellblauen Augen, die auf dem Dorf lebt, „Ich habe so Angst, dass ich deshalb den Test nicht bestehen werde.“Die Hälfte der Betroffenen hat sich gar nicht erst für den Sprachtest angemeldet. Sie erwartet Anfang September ein weiterer Brief, der sie auffordert, das Land innerhalb von neunzig Tagen zu verlassen. Was mit denen passiert, die dieser Aufforderung nicht nachkommen, oder denen, die auch den dritten Versuch nicht bestehen, ist bisher völlig unklar. Die Ungewissheit ist zermürbend. Und schafft Raum für Furcht und Spekulation. Geschichten über Menschen, die Selbstmord begangen hätten oder sich in die Psychiatrie einweisen ließen, nur um dem Test zu entgehen, machen die Runde. Wie viel davon stimmt, ist unmöglich zu überprüfen. Aber die Verzweiflung, die daraus spricht, ist real.„Wir haben nichts gegen die Politik“, betonen einige der Frauen, bevor der Unterricht weitergeht. „Die junge Generation soll Lettisch lernen. Schließlich leben wir in Lettland. Aber wir haben etwas dagegen, wie unverhältnismäßig mit uns umgegangen wird.“ Und dann ist die Pause vorbei, die Frauen verabschieden sich. Die Tür zum Schulungszimmer schließt sich und die Ruhe kehrt in die Daugavpilser Straßen zurück. Hinter den Fenstern im ersten Stock wird nun wieder gelernt.Placeholder infobox-1
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