Glaubt man den aufgeregten Kommentaren der professionellen Meinungsmacher, befinden wir uns mitten in einem „Kulturkrieg“. Und tatsächlich, ein flüchtiger Blick auf das stets überdrehte Gezwitscher in den sozialen Netzwerken mag diesen Eindruck bestätigen – identitätspolitische Debatten, wohin das Auge blickt.
Aber ist das wirklich repräsentativ? Ich meine: Nein! Denn sobald man den Laptop einmal zuklappt und das Smartphone wegsteckt, spielen derlei Debatten für die allermeisten Menschen keine wirkliche Rolle. Es sind die harten Themen, die uns im echten Leben beschäftigen. Wie komme ich mit meinem Geld trotz Inflation über den Monat, wie finde ich eine bezahlbare Wohnung, wie kann ich mir künftig Mobilität und Heizkom
nd Heizkomfort eigentlich noch leisten? Fleischfreie Kantinen, Gender-Sprachregelungen oder die Frage nach der Anzahl der Geschlechter? Das sind Nebenkriegsschauplätze, die zwar bei einigen unserer Mitbürger das Blut in Wallung bringen, aber letztlich weder kriegs- noch wahlentscheidend sind.Weit entferntSelbstredend muss eine progressive Linke diese Themen ernst nehmen; sie sollte jedoch nicht dem Trugschluss verfallen, diese Themen so ernst zu nehmen, dass die harten sozioökonomischen Fragen davon überdeckt werden. Und mehr noch sollte sie höllisch aufpassen, das eine nicht mit dem anderen zu verwechseln. Wer beispielsweise, wie jüngst der geschätzte Kollege Robert Misik im Freitag, die verbreitete Kritik an der Heizungswende als eine leicht durchgeknallte „Liebe zur Gas- und Ölheizung“ verhöhnt, die nicht mehr darstelle als einen rechtsdrehenden „Lebensstil-Marker“, der gerät in diese Gefahr. Und zeigt letztlich nur, wie weit er von der Realität der Leute entfernt ist, die sich um ihre Lebensentwürfe betrogen sehen.Um noch ein wenig bei diesem Thema zu bleiben: Gerade in den kleineren und mittleren Städten und den Dörfern sind die im Raum stehenden Mehrkosten für Energie und die bald anfallende Wärmepumpe in der Tat eine existenzielle Frage. Hier geht es nicht nur um Gefühle. Für Normalverdiener bringen monatliche Zusatzkosten im vierstelligen Bereich den derzeitigen Lebensentwurf gehörig durcheinander. Das ist, liebe Kommentatoren aus den Metropolen, so, als würde eure monatliche Kaltmiete von einem Jahr aufs nächste im vierstelligen Bereich steigen.Klimaschutz ist wichtig. Keine Frage. Aber wenn überschaubare Emissionseinsparungen mit existenziell bedrohenden Kosten einhergehen, ist dies ein Thema, dem sich eine Linke nicht verschließen darf, die soziale und materielle mit progressiven gesellschaftspolitischen Forderungen verbinden will. Viele Bürger sehen sich in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht, fühlen sich alleingelassen, politisch nicht wahr- und schon gar nicht ernst genommen, nicht repräsentiert. War die Linke nicht angetreten, um Klima- und soziale Frage in Einklang zu bringen?Mit vollen MägenUnd dann wundert man sich, wenn die AfD in den Umfragen Zulauf bekommt. Laut ARD-Deutschlandtrend haben zwei Drittel der Befragten die Sorge, dass sie die „Heizungswende“ finanziell überfordert. Wer arrogant die Ängste der Menschen ignoriert oder gar ins Lächerliche zieht, treibt sie – gewiss, ohne dies zu wollen – in die offenen Arme der AfD. Die versteht, sich als „Protestpartei“ zu inszenieren. Das wird ihr vom Rest der Parteienlandschaft auch sehr leicht gemacht.Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Mit vollen Mägen und ohne Existenzängste lässt sich vortrefflich über identitätspolitische Fragen streiten. Doch die mit den vollen Mägen werden weniger. Da ist es leicht gesagt, linke Politik solle sozioökonomische und progressive gesellschaftliche Positionen vereinen. Natürlich muss sie das, das ist eine Binse. Wenn jedoch das Pendel – wie derzeit – zu sehr in Richtung Identitätspolitik schwingt und vorhandene sozioökonomische Probleme nicht mehr wahrgenommen werden, droht der Linken das Schicksal, in Schönheit zu sterben. Das wäre eine Katastrophe; nicht nur für die Linke, sondern für uns alle.Placeholder authorbio-1