LKW-Streik eskaliert auf Raststätte Gräfenhausen: Am untersten Ende der Ausbeutungskette
Ausstand Schon wieder haben aus dem Ausland angeheuerte LKW-Fahrer in Deutschland einen Grund zu streiken: Verstöße gegen EU-Vorschriften, Ausbeutung und nicht gezahlte Löhne. Dieses Mal scheint es, als könnte sich tatsächlich etwas ändern
Per Handzeichen stimmen die streikenden Lkw-Fahrer bei Gräfenhausen über ihr weiteres Vorgehen ab
Foto: Andreas Arnold/picture alliance/dpa
Die Autobahnraststätte Gräfenhausen West bei Darmstadt ist zum Schauplatz eines außergewöhnlichen Protests geworden, der mittlerweile auch international Wellen schlägt. Seit dem 20. März haben dort LKW-Fahrer ihre Brummis abgestellt und die Arbeit niedergelegt. 65 Trucker sind es inzwischen, die sich auf dem Parkplatz um ihre großen, knallblauen Lastfahrzeuge mit der Aufschrift „LUKMAZ“, „AGMAZ“ oder „IMPERIA“ versammeln. Ähnliches spielte sich Ende März am italienischen Autohof Sadobre in der Nähe des Brenners ab, kleinere Proteste gab es auch an Raststätten in Niedersachsen und der Schweiz.
Doch während diese Versammlungen mittlerweile beendet sind, ist der Protest in Gräfenhausen gewachse
n gewachsen. Es sind vor allem usbekische und georgische Arbeiter, die hier in den Ausstand getreten sind. Sie fahren im Dienst der polnischen Firmengruppe Mazur aus Wawrzeńczyce nahe Krakau. Die Firma gehört zu den größeren Playern unter den polnischen Transportunternehmen: Zwischen 1.000 und 2.000 Fahrzeuge soll Mazur besitzen, die Waren im Auftrag europäischer Speditionen und Unternehmen durch Westeuropa transportieren. Die Fahrer in Gräfenhausen sagten, sie seien seit Wochen nicht mehr bezahlt worden, die Firma schulde ihnen jeweils vierstellige Summen. Sie wollten die teils noch mit Waren beladenen LKW erst wieder bewegen, wenn das Geld gezahlt ist.Seitdem hat sich ein regelrechter Streikkrimi auf der Raststätte entwickelt. Am 29. März tauchte Unternehmer Lukasz Mazur erstmals in Gräfenhausen auf. Versuche, die streikenden Fahrer einzuschüchtern und die Fahrzeuge mithilfe mitgebrachter Ersatzfahrer fortzuschaffen, schlugen fehl, sagt Anna Weirich vom Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ des DGB, die den Protest seit über zwei Wochen vor Ort unterstützt. Die Ersatzfahrer hätten sich sogar mit dem Protest solidarisiert, als sie erfuhren, was passiert war. Mitunter kenne man sich von den langen Fahrten in Minibussen aus Usbekistan und Georgien.Der Unternehmer wird festgenommenAm Karfreitag eskalierte die Lage dann. Unternehmer Mazur tauchte erneut am Parkplatz auf, abermals mit Ersatzfahrern, diesmal jedoch auch mit einer Gruppe aus uniformierten Männern der polnischen Privatdetektei Krzysztof Rutkowski und einem gepanzerten Fahrzeug mit der Aufschrift „Rutkowski Patrol“. Die Uniformierten versuchten, sich mit Gewalt Zugang zu den LKW zu verschaffen, dabei wurde ein Fahrer verletzt, bevor die Polizei den Unternehmer und 18 seiner Männer unter dem Applaus der Streikenden vorübergehend festnahm. Die Ersatzfahrer hätten sich auch dieses Mal mit den Streikenden solidarisiert, berichtet Anna Weirich.Gegen die Festgenommenen wurden Anzeigen wegen des Verdachts auf schweren Landfriedensbruch, Bedrohung, Nötigung, versuchte gefährliche Körperverletzung und Störung einer Versammlung erstattet. Zudem hätten sie einen Platzverweis für die Rastanlage erhalten. „Nach dem großen Schrecken zu Beginn herrschte nach der Verhaftung Mazurs Euphorie bei den Fahrern. Aber ihre Gehälter haben sie immer noch nicht“, fasst Weirich die Ereignisse des Tages zusammen. Nachfragen des Freitag zu den Ereignissen bei der Firma Mazur blieben unbeantwortet.Anna Weirich unterstützt gemeinsam mit Edwin Atema von der niederländischen Gewerkschaft FNV-VNB die Fahrer nicht nur bei den Verhandlungen mit Mazur, sondern auch mit Essen, Getränken, sanitärer Infrastruktur. Denn den Fahrern fehle es an buchstäblich allem. „Da harren 60 Männer aus, die keinerlei Geld mehr haben und nirgendwo hinkönnen“, sagt Anna Weirich. Die Solidarität in Gräfenhausen ist spürbar und umfangreich: Bei Verdi organisierte LKW-Fahrer, Aktive von IG Metall, IG BAU und DGB, ebenso kirchliche Initiativen sind vor Ort. Auch international hat der Streik für Aufmerksamkeit gesorgt: Die georgische Gewerkschaft GTUC besuchte die Streikenden, gewerkschaftlich organisierte LKW-Fahrer aus Südkorea haben ein Solidaritätsvideo veröffentlicht, in dem mehrere hundert von ihnen die Fäuste recken und kämpferische Grüße an die Kollegen in Europa schicken.Der Streik geht vom untersten Ende der Ausbeutungskette ausDer Protest ist besonders, nicht nur wegen der dramatischen Szenen in Gräfenhausen. Er betrifft einen Sektor, in dem es wegen der Vereinzelung schwierig ist, sich zu organisieren und für seine Rechte einzutreten. Michael Wahl, bei „Faire Mobilität“ Experte für den internationalen Straßentransport, sagt, bisher erlebe er nur, wie die Arbeitsbedingungen immer schlechter würden. „Auch bei LKW-Fahrern aus Deutschland ist der Frust riesig, weil es seit Jahren keine Lohnerhöhungen gab. Aber es gelingt quasi nie, dass sich Fahrer zusammenschließen.“ Nun seien gerade jene in den Streik getreten, die am untersten Ende der Ausbeutungskette der Branche stehen.Der Ausstand in Gräfenhausen illustriert eine Entwicklung, die Wahl und seine Kolleg*innen schon seit Längerem beobachten. Im Transportmarkt ist es üblich, dass Auftraggeber aus Westeuropa – Speditionen wie Schenker, DHL oder Kühne + Nagel – Fuhrfirmen aus Osteuropa beauftragen, die, ermöglicht durch die europäische Dienstleistungsfreiheit, den Transport günstig abwickeln. 2020 wurden etwa 40 Prozent der in Deutschland gefahrenen LKW-Kilometer durch im Ausland registrierte Trucks abgewickelt. Da Fahrer aus osteuropäischen Ländern sich wegen der besseren Bezahlung inzwischen häufiger direkt bei westeuropäischen Fuhrfirmen anstellen lassen, sind Unternehmen aus diesen Ländern dazu übergegangen, Fahrer von außerhalb der EU anzuheuern. Diese seien billiger, weil sie oft nach den Bedingungen des Herkunftslandes bezahlt würden oder zu Festpreisen, die deutlich unter den Löhnen hiesiger Fahrer lägen, wie eine Studie mehrerer Transportgewerkschaften aus dem Jahr 2020 festhält.Viele dieser Fahrer kennen ihre Rechte nicht genau oder haben kaum Möglichkeiten, sie einzufordern, so dass sie bei Fahrten zum Beispiel in Deutschland nicht den hiesigen Mindestlohn erhalten, der ihnen nach der EU-Entsenderichtlinie eigentlich zusteht. Kosten für die Benutzung von Duschen und Toiletten auf den Raststätten müssen die Fahrer selbst tragen, oder sie werden mit den Löhnen verrechnet. Da ihre Visa, die sie zum Fahren innerhalb des Schengen-Raums benötigen, an den Arbeitsvertrag gekoppelt sind, sind sie zusätzlich erpressbar.Verstöße gegen EU-Vorschriften gehören zum AlltagViele der streikenden Fahrer geben an, dass sie seit Monaten, teils seit über einem Jahr in ihren Trucks in Westeuropa unterwegs seien, ohne je außerhalb der Kabine zu übernachten – auch das eigentlich ein Verstoß gegen EU-Vorschriften, aber in der Branche verbreitet. Die Arbeit ist hart, vorgeschriebene Lenkzeiten werden regelmäßig überschritten.Die Protestierenden in Gräfenhausen berichten auch, dass der versprochene Tagessatz etwa 80 Euro betrage, davon würden ihnen häufig nicht nachvollziehbare Summen abgezogen, etwa wenn Reparaturen anfallen. Doch auch ohne die Abzüge unterschreitet die Summe den deutschen Mindestlohn deutlich, zumal die Schichten 13 bis 15 Stunden lang werden können, wenn etwa Bereitschaftszeit dazukommt. Zudem hat keiner der Männer einen ordentlichen Arbeitsvertrag, sie sind als Scheinselbstständige beschäftigt. In der Branche ist das kein Einzelfall. Für diese Zustände, das betonen Weirich und ihre Kolleg*innen, seien auch die Auftraggeber verantwortlich, die sich die günstigen Anbieter aus Osteuropa zunutze machen.An die Verantwortung erinnern die streikenden Arbeiter mit einem Brief, in dem sie wichtige Auftraggeber ihrer Touren – DHL, LKW Walter, C. H. Robinson und sennder – bitten, sich bei der Transportfirma für ihre Sache einzusetzen. Eine Sprecherin der Spedition sennder erklärte daraufhin, man habe die Zusammenarbeit mit Mazur mit sofortiger Wirkung eingestellt. Ein erster Erfolg für die Streikenden. Der drohende Verlust von Aufträgen und die Strafen, die auf das Unternehmen wegen nicht ausgelieferter Waren zukommen, sind die beiden Druckmittel, die die Fahrer in diesem außergewöhnlichen Arbeitskampf haben.
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