Migrationspolitik: „Humanität spielt keine große Rolle“
Interview Kann man Fluchtmigration steuern? Verletzt schon diese Frage die Menschenrechte? Darüber streiten Clara Bünger von der Linkspartei und Migrationsforscher Ruud Koopmans
Menschen werden zur Waffe gemacht: Flüchtlingsabwehr an der EU-Außengrenze
Foto: Jim Goldberg/Magnum Photos/Agentur Focus; Portraits (unten): Imago Images
In einem sind Clara Bünger und Ruud Koopmans sich einig: Das Asylsystem ist so konstruiert, dass die Humanität zu kurz kommt. In allem anderen widersprechen sich die fluchtpolitische Sprecherin der Bundestagslinken und der bekannte Migrationsforscher jedoch. Bünger sagt, dass sich Migration im Einklang mit Menschenrechten nicht steuern lässt – und Koopmans plädiert für feste Kontingente. Ebru Taşdemir und Velten Schäfer haben die beiden zur Diskussion eingeladen.
der Freitag: Herr Koopmans, 2023 hat Deutschland den Völkermord an den Jesiden im Irak anerkannt. Wenig später liest man von Abschiebungen jesidischer Familien dorthin. Spielt das Humanitäre in der Flüchtlingspolitik noch eine Rolle?
Ruud Koopmans: Nicht ausreichend.
le?Ruud Koopmans: Nicht ausreichend. Ich beschreibe das in meinem Buch Die Asyllotterie. Wer Schutz bekommt und wer nicht, das hat oft wenig mit Schutzbedürftigkeit zu tun. Bei Nicht-Mitarbeit des Herkunftslandes oder wegen fehlender Identitätsdokumenten können oft abgewiesene Asylbewerber, die also nicht schutzbedürftig sind, nicht abgeschoben werden, selbst bei schweren Straftaten. Auf der anderen Seite stehen Fälle wie die, die Sie hervorgehoben haben: Schutzbedürftige, die abgeschoben oder nicht anerkannt werden.Wie kommt das?Koopmans: Viele, die Hilfe brauchen, sind nicht imstande, die Reise nach Europa zu machen, es über das Mittelmeer zu schaffen, durch die Sahara oder andere gefährliche Gegenden. Gerade die Schwächsten, die Frauen, Familien mit kleinen Kindern, die Alten, Verletzten oder Leute aus Ländern wie Jemen oder Myanmar, von denen es keine Wege zu uns gibt, schaffen das nicht. Sie können keinen Antrag stellen. Das ist die Ungerechtigkeit im Kern des Asylsystems. Wir müssen das ändern.Dazu gleich. Zuerst die Frage nach dem Humanitären in der Asylpolitik an Frau Bünger.Clara Bünger: Humanität spielt in der deutschen Asylpolitik schon lange keine Rolle mehr, es geht fast nur noch um Abschiebung und Abschottung. Die Jesiden sind ein drastisches Beispiel. Der Bundestag hat den Völkermord einstimmig anerkannt, und fast im gleichen Atemzug werden Jesiden abgeschoben, in den Irak, der nicht sicher ist. Das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (BAMF) gewährt bei inhaltlicher Prüfung nur noch knapp der Hälfte der Jesiden aus dem Irak einen Schutzstatus. Ich möchte aber auch auf das eingehen, was Herr Koopmans noch gesagt hat: Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass das BAMF vielen Geflüchteten rechtswidrig Schutz vorenthält, liegt die bereinigte Gesamtschutzquote bei knapp 70 Prozent. Die große Mehrheit hat einen Schutzanspruch. Und was Straftaten angeht: Eine Abschiebung darf keine Strafe sein, dafür haben wir ein Rechtssystem. Wenn in einem Herkunftsland schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, darf man dahin laut Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ohnehin nicht abschieben.Koopmans: Die aussagekräftige Zahl ist hier die Gesamtschutzquote, mit der das BAMF arbeitet. Die liegt zwischen 40 und 50 Prozent. Bei der bereinigten Quote fehlen Leute, die etwa deshalb nicht schutzbedürftig sind, weil sie vorher woanders einen Antrag gestellt haben. Trotzdem sind sie hier, und selbst 30 Prozent sind eine hohe Zahl. Es werden 30 bis 50 Prozent der Ressourcen auf Leute verwendet, die keinen Schutzanspruch haben, eigentlich mehr, weil diese Leute lange in den Verfahren sind. Und es sind auch diese Leute, die Probleme machen, etwa mit der Kriminalität. Das sagt der jährliche Bericht Kriminalität im Kontext von Zuwanderung des Bundeskriminalamts.Bünger: 25 bis 30 Prozent der negativen Bescheide, gegen die geklagt wird, werden nach inhaltlicher Prüfung gerichtlich aufgehoben. Die Verfahren sind also nicht sehr fair und verlässlich. Und viele Geflüchtete haben ja nicht die Ressourcen oder das Know-how für Einsprüche. Tatsächlich liegt die Schutzquote also noch höher, als es die Zahlen des BAMF nahelegen. Und dass Menschen in manche der Länder, über die sie in die EU eingereist sind, nicht zurückgeschoben werden können, ist zum Teil Rechtsprechung. Das OVG Münster hat zum Beispiel gesagt, man darf nicht nach Griechenland abschieben wegen der katastrophalen humanitären Situation.Herr Koopmans wollte gerade ein gerechteres System vorschlagen.Koopmans: Die Asylverfahren sind nicht ohne Probleme, aber im Allgemeinen funktionieren sie, es gibt Widerspruchsmöglichkeiten, den Rechtsstaat. Das heißt auch, dass es eine Konsequenz haben muss, wenn Anträge abgelehnt werden. Aber das Hauptproblem ist, wie gesagt, dass der Schutzanspruch de facto limitiert ist auf Menschen, die es bis zu uns schaffen, wie gesagt ein sehr selektiver Prozess. Zugleich lockt das jetzige System so viele Leute auf gefährliche Routen durch die Sahara, über das Mittelmeer. Um das zu verhindern, sollten wir umstellen auf feste Kontingente an Schutzbedürftigen, die wir aufnehmen und sicher nach Deutschland holen.Bünger: Kontingente wären das Ende des Rechts auf Asyl, einer fairen individuellen Prüfung dieses Rechts.Koopmans: Derzeit besteht dieses Recht nur auf dem Papier. Praktisch gilt es für die, die genug Ressourcen und Glück haben, es dorthin zu schaffen, wo man einen Antrag stellen kann. Und diese Personen sind zu 70 Prozent männlich und unter 30 Jahre alt.Bünger: Die größte Gruppe, fast 27 Prozent, waren zuletzt laut BAMF Kinder und Jugendliche unter 16, zwölf Prozent Kinder bis vier Jahre. Sie bedienen ein Schreckbild, den Mythos von den „jungen Männern“, der auch von Rechten ausgespielt wird. Dem Vorschlag, das individuelle Asylrecht durch Kontingente zu ersetzen, halte ich entgegen: Der größte Teil der Flucht- und Migrationsbewegungen ist bedingt durch Krieg, repressive Regime, existenzbedrohende Armut. Menschen verlieren durch den Klimawandel ihre Lebensgrundlage. Es ist nicht absehbar, dass die Fluchtursachen bald abgestellt werden. Daher kann es hier keine Regulierung geben. Wenn man sagt, das Kontingent umfasst 200.000, was sagt man der 200.001. Person?Man müsste wohl sagen: Die Berechtigung mag da sein, aber Sie müssen woanders anklopfen.Bünger: Und das kann völkerrechtlich nicht standhalten. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist Ergebnis der Nazi-Schrecken. Damals wurden etwa von der Schweiz jüdische Geflüchtete abgewiesen. Deshalb wurde später gesagt, das Asylrecht muss bindend sein, eben ein Recht für alle. Asyl hat keine Obergrenze, man kann es nicht steuern. Wer davon redet, meint verhindern, also Zäune, Mauern, physische Gewalt. Ja, wir müssen Dinge ändern, wir müssen etwas gegen die seit Jahren stattfindenden Pushbacks und das systematische Ertrinkenlassen im Mittelmeer tun. Vorschläge wie der von Herrn Koopmans laufen aber darauf hinaus, unsere Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auf Länder außerhalb der EU abzuschieben, etwa die Türkei. Die EU ist aber eine wesentliche Fluchtverursacherin und daher verpflichtet, Geflüchtete aufzunehmen.Herr Koopmans, Sie wollen nur die Verantwortung abschieben?Koopmans: Erst einmal zur 200.001. Person: Wenn so etwas geschieht wie der Krieg in der Ukraine, kann man wirklich nicht sagen: Sorry, das Kontingent ist voll. Aber Ukrainer fallen ja auch jetzt nicht unter das Asylrecht. Mein Vorschlag enthält eine Ausnahme für solche Fälle, die unmittelbar an die EU grenzen. Ansonsten sprechen wir aber von einer anderen Situation als in dem Beispiel mit den Nazis. Von Leuten, die bereits aus einem unsicheren Land in ein anderes Land geflüchtet sind, aus Syrien in die Türkei, aus Myanmar nach Bangladesch oder aus dem Kongo nach Uganda. In dem Beispiel mit den geflüchteten Juden sprechen wir davon, dass die Schweiz alle aufgenommen hätte und überfordert wäre und dann Frankreich oder andere Länder sagen: Gut, wir übernehmen 200.000 Leute, obwohl wir nicht die Pflicht haben, alle aufzunehmen, die aus der Schweiz weiterreisen wollen. In diesem Beispiel ist die Schweiz ein sicherer Drittstaat, das ist eine wichtige Einrichtung im Asylrecht. Dieses verbietet nicht, Menschen an der Grenze zurückzuweisen, die woanders einen Antrag hätten stellen können.Placeholder image-4Die EU hat 2023 eine Reform von GEAS beschlossen, dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem. Demnach soll die Drittstaatenregelung ausgeweitet und sollen Asylverfahren zunehmend an die Außengrenzen verlagert werden. Es gibt viel Kritik, auch von kirchlichen Organisationen. Und von Ihnen, Frau Bünger?Bünger: Wissenschaftler, NGOs, Anwältinnen, eigentlich alle, die sich damit näher beschäftigen, sind überzeugt, dass das neue GEAS zu noch mehr Menschenrechtsverletzungen führen wird. Es wird verpflichtende Grenzverfahren unter faktischen Haftbedingungen geben, von denen nicht einmal Kinder mit ihren Familien ausgenommen sind. Sie werden eingesperrt, weil sie einen Asylantrag gestellt haben, begründet mit der sogenannten Fiktion der Nichteinreise. Menschen gelten als nicht eingereist, obwohl sie sich längst auf EU-Boden befinden. Das ist kafkaesk. Außerdem wird es künftig leichter, Asylsuchende ohne Prüfung ihrer Asylgründe in unsichere Drittstaaten abzuschieben, wie wir es vom EU-Türkei-Deal schon kennen. So wird der Zugang zum Recht auf Asyl gefährlich ausgehöhlt.Großbritannien will jetzt Geflüchtete nach Ruanda ausfliegen. Man fürchtet eine Fluchtwelle aus Palästina, deshalb soll ein Abkommen mit Ägypten kommen. Macht man es sich da nicht wirklich sehr einfach?Koopmans: Dass alle Experten sich einig sind, dass GEAS nicht funktionieren wird, stimmt natürlich nicht. Allerdings ist es für ein Gelingen der Pläne essenziell, dass wirksame und rechtsstaatliche Migrationsabkommen mit Drittstaaten geschlossen werden. Die Frage, die sich stellt bei solchen Abkommen, bei den Plänen etwa der Briten und der Dänen mit Ruanda oder Verhandlungen mit anderen Ländern, ist die, ob dort faire Verfahren möglich sind. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof und britische Gerichte stellen nicht grundsätzlich infrage, dass man Menschen nach Ruanda bringen darf. Das ist auch die Frage hinsichtlich einer Erneuerung des Abkommens mit der Türkei. Kann die Türkei das gewährleisten? Kann Albanien das? Italien hat ein Abkommen mit Albanien.Bünger: Über den EU-Türkei-Deal sollten wir genauer sprechen, über seine desaströsen Auswirkungen. Er hatte zur Folge, dass die griechische Küstenwache in der Ägäis massenhaft Schutzsuchende rechtswidrig zurückgewiesen hat. Ich selbst habe dort gearbeitet und gesehen, wie Schlauchboote gestoppt und abgedrängt wurden, wie Familien auf dem Wasser getrennt wurden. Dass es sich bei den Absprachen nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, sondern einen „Deal“, macht es schwer, dagegen juristisch vorzugehen. Rechtsstaatlich ist das hoch problematisch. So stand es da ja auch drin: Alle irregulär einreisenden Personen werden zurückgeschickt. Koopmans: Nein, das steht da nicht drin, dass alle irregulär Eingereisten zurückgeschoben werden sollen. Sondern dass Menschen, die in Griechenland ankommen, dort geprüft werden und bei abgelehntem Gesuch in die Türkei zurückgebracht werden können. Im Gegenzug sollte für jeden zurückgebrachten Flüchtling ein anderer in der EU aufgenommen werden.Bünger: Ich zitiere: Alle neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen, werden in die Türkei zurückgeführt. Das steht da.Koopmans: Aber wer irregulär ist, das ergibt die Prüfung...Wie viele Geflüchtete aus der Türkei wurden denn aufgrund dieses Deals aufgenommen?Koopmans: Eigentlich keine. Trotzdem war die Situation danach besser als vor dem Deal. Davor sind in der Ägäis jährlich Hunderte Menschen gestorben, danach nicht mehr. Anders als auf der Mittelmeerroute, da waren es, Stand Ende März, dieses Jahr schon 450. Von den Leuten, die das quasi verteidigen, würde ich gerne Alternativen hören. Wie wollen sie das stoppen, wenn sie dagegen sind, die Verfahren auf die andere Seite des Meers zu verlagern? Aber es kommt dann meist nur die Sache mit der Bekämpfung der Fluchtursachen. Das hat aber mit der Realität nichts zu tun.Inwiefern?Koopmans: Das würde heißen, dass man den Krieg aus der Welt schafft oder die Riesenungleichheit, die zum Beispiel zwischen Westafrika und Europa besteht. Ich bin ganz dafür, dass man das versucht. Aber wir und unsere Kinder werden das kaum erleben, dass niemand aus Afrika mehr auf die Idee kommt, sich nach Europa aufzumachen, um ein besseres Leben zu suchen. Bis dahin, und dazu gibt es Forschungen, führen kleinere Verbesserungen der Lebensumstände in diesen Ländern dazu, dass sich mehr Menschen auf die gefährliche Reise begeben, nicht weniger.Bünger: Sie reden so viel von Afrika, dabei kommen die allermeisten noch immer aus Syrien, aus Afghanistan, aus der Türkei. Von den 330.000 Asylerstanträgen, die 2023 in Deutschland gestellt wurden, kamen mehr als 200.000 von Leuten aus diesen Ländern. Bei Westafrika geht es um wenige Tausend Personen.Koopmans: Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM), also der Migrationsabteilung der UN, befanden sich 2024 bisher sieben der häufigsten Herkunftsländer für Ankünfte in Europa in Afrika, 2023 sechs von zehn. Und diese Leute sterben im Mittelmeer, das ist symptomatisch für unser kontraproduktives und am Ende unmenschliches Asylsystem.Placeholder image-3Herr Koopmans, Sie fordern eine Verteilung von jährlich 325.000 Geflüchteten in Europa, für Deutschland 160.000. Nun gab es hierzulande 2023 gut doppelt so viele Anträge. Wie kommen Sie auf diese Zahlen?Koopmans: Auch wer eingesteht, dass es wir kein System mit offenem Ende haben können, kann großzügig sein. Die 160.000 sind ein Durchschnitt seit 2014, wo es ja nicht nur die Spitzen von 2015 und 2016 gab, sondern auch ruhigere Jahre. Die 30 oder 50 Prozent, da können wir jetzt streiten, sind nicht enthalten, die keine Schutzberechtigung haben. Die, die man aufnimmt, sollen schnell Zugang zum Arbeitsmarkt und auch zur Staatsbürgerschaft bekommen.Frau Bünger, vorhin gab es die Frage nach Ihrer Alternative.Bünger: Ich schlage vor, dass wir die Menschenrechte einhalten. Asylsuchende dürfen nicht an den Grenzen geprügelt werden, es darf keine Elendslager geben, in denen Menschen über Jahre festgehalten werden, weder in der EU noch in Drittstaaten. Geflüchtete dürfen auch nicht als vermeintlich hybride Waffen dämonisiert und bekämpft werden, wie wir es an der Grenze zwischen Polen und Belarus erlebt haben. All das wird sich noch zuspitzen, wenn die GEAS-Reform umgesetzt wird. Dagegen kämpfe ich.Und wofür kämpfen Sie?Bünger: Es gibt es entgegen dem Versprechen der Ampel nach wie vor Arbeitsverbote. Das verhindert, dass Menschen ankommen und sich ein Leben aufbauen. Viele Hürden existieren auch bei der Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen. Wir sollten viel mehr in kommunale Infrastruktur, sozialen Wohnungsbau, Schulen und Kitas investieren, das kommt allen zugute, egal, wie lange sie hier leben. Von Investitionen in Abschottung profitieren dagegen Unternehmen, die Waffen, Zäune und Überwachungstechnik herstellen. Herr Koopmans sagt, wenn wir die Lebensbedingungen in den Fluchtländern verbessern helfen, machen sich mehr Menschen auf den Weg. Das ist ein trauriges, unmenschliches Argument.Koopmans: Das sind große Worte, Frau Bünger. Ich habe ja gerade gesagt, dass man in die Verringerung der Ungleichheit investieren sollte. Man darf nur nicht die Illusion haben, dass dadurch weniger Menschen migrieren werden. Unmenschlich ist dagegen das Aufrechterhalten des Anreizes, sich auf den gefährlichen Weg nach Europa zu begeben. Das System muss klarmachen: Der irreguläre Weg hat keinen Sinn. Da müssen wir natürlich auch reguläre, sichere Wege bieten, eine über humanitäre Kontingente geregelte Arbeitszuwanderung.Bünger: Was mir generell auffällt: Sie tun so, als wären wir in einem luftleeren Raum. Wenn wir Kontingente machen, dann großzügig, sagen Sie, mit Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Staatsbürgerschaft. Das ist bestenfalls naiv. Wenn wir jetzt die Axt anlegen an die Reste des individuellen Asylrechts, in einer Situation von Hetze und Gewalt gegen Geflüchtete, in einer Situation des autoritären Rechtsrucks in Europa, dann würden niemals „großzügige“ Beschlüsse folgen. Ihr Vorschlag ist doch selbst Ausdruck dieser Stimmung, dieses ewigen „Die Zahlen müssen runter, die Zahlen müssen runter“. Anstatt auf Forderungen der Rechten einzugehen, müssen wir den Angriffen auf Menschenrechte klar widersprechen. Punkt.Es scheint, dass Sie einig sind, nicht einig zu sein. Die Diskussion war teils emotional. Warum sind Migration und Asyl eigentlich immer solche Aufreger?Koopmans: Dass die Zahlen runter müssen, habe ich nicht gesagt. Ich will eine Umsteuerung von irregulärer und ungerechter zu legaler und sicherer Fluchtmigration. Dass es schwierig ist, dies ohne Moralisierung und Emotionen zu diskutieren, hat damit zu tun, dass es um das nationale Selbstverständnis geht. Und damit, dass die Vor- und Nachteile von Migration ungleich verteilt sind. Die Nachteile landen in ohnehin benachteiligten Stadt- und Landesteilen. Die Vorteile kommen zu den Wohlhabenden, zu den Arbeitgebern. Es ist kein Zufall, dass in meinem Feld der Migrationsforschung in den letzten zwei Jahrzehnten Abermillionen von Arbeitgeber-Stiftungen investiert wurden, auch in die migrationsbefürwortende nichtuniversitäre Forschung, Stichwort Bertelsmann-Stiftung, Mercator-Stiftung usw. Migration ist mit großen Verteilungsfragen verknüpft, und das sorgt für Spannungen in der Gesellschaft.Bünger: Per se ist das kein Aufregerthema. Eher wird mit der ständigen Problematisierung von Geflüchteten ein Ersatzschauplatz geschaffen, der an den wirklichen Problemen vorbeigeht, also an Wohnungsnot, Klimawandel, eskalierender Ungleichheit und Kriegen. Darauf haben weder die regierenden Parteien eine Antwort noch die Union, ganz zu schweigen von der AfD. Daher erklärt man die Migration zum Hauptproblem. Das spaltet die Gesellschaft und verhindert Solidarität. Darüber müssen wir aufklären, statt in diesen Chor einzustimmen.Placeholder infobox-1
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