Belarus/Polen: Unterwegs mit Aktivisten, die in Europas letztem Urwald Flüchtlingen helfen
Reportage Ein hoher Grenzzaun und tausende Soldaten können nicht verhindern, dass immer mehr Flüchtlinge über Belarus und die Putin-Lukaschenko-Route in die EU kommen. In den Wäldern von Białowieża in Polen kämpfen Aktivistinnen um deren Leben
Aleksandra Chrzanowska, Aktivistin der Grupa Granica
Foto: Evgeny Makarov
An einem Sonntagmorgen fährt ein verbeulter Kombi durch den letzten europäischen Urwald. Naht eine Kurve, scheint das dichte Blätterwerk von Białowieża, gelegen im äußersten Osten Polens, die Straße zu verschlucken. Und dann steht hinter einer dieser Kurven plötzlich die Polizei.
Im Kombi sitzen zwei Frauen und zwei Männer in Allwetterkleidung, sie richten sich in ihren Sitzen auf. „Wenn die Polizisten fragen, sind wir einfach Wanderer“, sagt einer der Männer. Schon muss die Fahrerin bremsen. Zwei Polizisten kommen an die vorderen Fenster, fragen nach „Illegalen“ im Auto, schauen in den Fond, kontrollieren den Kofferraum. Schließlich lassen sie den Kombi passieren.
Seit 2021 fliehen Migranten verstärkt &
sen sie den Kombi passieren.Seit 2021 fliehen Migranten verstärkt über die polnisch-belarussische Grenze. Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko haben die Flüchtlingsroute über Moskau und Minsk gezielt etabliert, um die Europäische Union und ihr Sanktionsregime unter Druck zu setzen. Die Menschen kommen aus Syrien, Afghanistan und vielen afrikanischen Ländern. Um sie abzuwehren, stellte Polen 2022 einen Zaun zu seinem östlichen Nachbarn fertig. Nun aber, nach der Ankunft von Wagner-Söldnern in Belarus und einer massiven Verstärkung polnischer Sicherheitskräfte, hat Białowieża seinen Kipppunkt erreicht: Im unendlichen Grün regieren – in Camouflage – Polizei und Militär. Mindestens 8.000 Polizisten, Grenzschützer und Soldaten sind laut Angaben der Grenzschutzbehörde an der Grenze aktiv. Und so kommt eine Hilfsmission von vier Aktivisten in einem klapprigen Kombi für in Not geratene Migranten schonmal wie ein Bankraub daher.Die Aktivisten gehören zur Grupa Granica, sie helfen Geflüchteten, ihre Hilfsmissionen nennen sie „Interventions“. Nach der Polizeikontrolle fahren sie weiter, halten an einer Schotterpiste, nehmen ihre vollgepackten Rucksäcke, lassen die Fahrerin im Kombi wegfahren und ziehen los. Zunächst scheint der Wald menschenleer, dann kommt ihnen ein älterer Mann mit Hund entgegen, eine zufällige Begegnung.Folgt ihnen jemand?Er scheint keinen Verdacht zu schöpfen, die Aktivisten grüßen nett. Als der Mann weitergeht, diskutieren sie, ob er nicht vielleicht gesehen habe, wo genau sie in den Wald hineingegangen sind. Leider würden manche Anwohner zum Telefon greifen, wenn sie Geflüchtete im Wald vermuten – oder ihre Helfer.Die erfahrenste Aktivistin des Hilfstrupps heißt Aleksandra Chrzanowska, 43 Jahre alt, eine Frau mit leiser Stimme und resolutem Gang, die mit ihrem Smartphone in der Hand den anderen den Weg weist. „Es ist besser, wir helfen nicht, als wenn wir unabsichtlich die Grenzer zu den Geflüchteten führen, weil es immer das Risiko eines Pushbacks gibt“, sagt sie und läuft erst weiter, nachdem sie gewartet und sich überzeugt hat, dass niemand dem Hilfstrupp folgt.Drei Syrer haben ihren Standort geschicktZiel der Intervention sind drei syrische Männer, die es über den Zaun nach Polen geschafft haben und denen Wasser und Nahrung ausgegangen sind. In die Dörfer trauen sie sich nicht hinein, aus Angst, von einer Grenzpatrouille erwischt zu werden. Sie haben die Grupa Granica kontaktiert und ihren Standort geschickt. Nun beginnt für die Aktivisten die lange Suche im Wald.Placeholder image-3Aleksandra Chrzanowska hat Kulturanthropologie studiert und vor ihrer Zeit in Białowieża in Warschau gearbeitet, wie so viele Aktivisten aus den großen Städten Polens in den dünn besiedelten Osten des Landes gegangen sind. Chrzanowska arbeitet ihr ganzes Berufsleben lang mit Geflüchteten, zuletzt in einer Organisation, die rechtliche Hilfe für Migranten organisiert. In Białowieża habe sie, wie sie lange nach der Intervention erzählt, nachdem sie sich den Schweiß von der Stirn gewischt hat, feststellen müssen, „dass fundamentale Menschenrechte offen mit Füßen getreten werden“. Spricht Chrzanowska über Begegnungen mit den Grenzern, wird ihre sonst sanfte Stimme lauter. „Ich habe schon mal den Krankenwagen angerufen, weil eine Frau mit einer klaffenden 15-Zentimeter-Wunde im Wald lag. Und die wollten nur wissen, wie ich diese Frau gefunden hätte und woher sie stammt!“Es ist Chrzanowska aber wichtig zu betonen, dass viele Anwohner den Geflüchteten auch helfen würden, sie kochten etwa Suppe, spendeten Kleidung, Schlafsäcke und Decken, beraten Geflüchtete juristisch oder leisten psychologische Hilfe. Chrzanowska und die anderen Aktivisten kämpfen nicht nur um die Leben der Geflüchteten, sondern auch um die Herzen und Köpfe ihrer polnischen Landsleute, sowohl in der Region als auch in den fernen Großstädten. Darüber hinaus wird der Kampf um Humanität in ganz Europa geführt, wo immer mehr Politiker eine härtere Gangart und Grenzkontrollen gegen Geflüchtete fordern und allenthalben die Schlagbäume wieder hochgezogen werden.Hoteliers schimpfen: Die Touristen kommen nicht mehr nach BiałowieżaWie tiefgreifend sich der Nationalpark mit seinen Jahrtausende alten Bäumen rund um den gleichnamigen Hauptort Białowieża schon heute verändert hat, ist sowohl nachzufühlen als auch mit Zahlen zu belegen. In den Straßen der wenigen, sonst in Stille und Dunst versunkenen Dörfer erklingen Sirenen, rasen Jeeps mit Blaulicht vorbei, hängt neben dem süßlichen Duft von Bisongras ständig Gefahr in der Luft. Hoteliers und Restaurantbesitzer beschweren sich über zu viele Sicherheitskräfte und ausbleibende Touristen, manche regen sich aber auch über die Helfer auf. Sie seien naiv, wenn sie Illegalen helfen würden, es kämen dann immer mehr, sagt etwa ein Restaurantbesitzer, der seinen Namen nicht nennen möchte, zu später Stunde.Placeholder image-1Fast alle Einheimischen wünschen sich die alten Zeiten zurück, als Touristen Wanderungen durch den Urwald gebucht haben, um einen Blick auf in freier Wildbahn lebende Wisente zu erheischen, die größten Landsäugetiere Europas, Wappentiere von Białowieża. Eigentlich hat die Aufregung bereits in den Nullerjahren begonnen, als auf Geheiß der polnischen Regierung im Nationalpark Holz geschlagen worden sei, um den Borkenkäfer, einzudämmen, wie es damals hieß, erzählt der Restaurantbesitzer und lacht sich über diese Begründung schlapp. „Und gerade als wir dachten, jetzt lässt uns die Regierung in Ruhe, kamen die Flüchtlinge.“Eigentlich wäre Podlachien, die Region im Nordosten Polens, mit seiner Geschichte prädestiniert für einen bunten Gegenentwurf zum katholisch-konservativen Identitätskonzept der über so viele Jahre regierenden Partei PiS um Strippenzieher Jarosław Kaczyński. Wer durch den polnischen Osten fährt, sieht tatsächlich nicht das homogene Polen, sondern orthodoxe Gotteshäuser unweit einer Moschee der muslimischen Minderheit der Lipka-Tataren und hört Belarussisch und Litauisch, die in einigen Gemeinden sogar als Amtssprachen anerkannt sind. Trotzdem ringt Polen gerade hier, in seinem äußersten Osten, am heftigsten mit sich selbst.Wagner-Söldner in BelarusDas ikonische Bauwerk zur Krise im Grenzgebiet ist der 187 Kilometer lange, fünfeinhalb Meter hohe, stacheldrahtbewehrte Zaun. Wer den Hauptort Białowieża verlässt, wenige Kilometer ostwärts durch raschelnden, knirschenden, lebendigen Wald läuft und den Zaun erreicht, wird schonmal rüde von Grenzpolizisten verjagt. Juristisch haben sie dazu kein Recht, aber mit wortkargen Männern mit Gewehr lässt sich schwer diskutieren. Und sie sollen mehr werden: Zuletzt überboten sich polnische Politiker mit Ankündigungen zur Entsendung weiterer Streitkräfte. Begründet wird das sowohl mit Wagner-Söldnern in Belarus als auch mit dem Migrantenstrom. 2022 hätten knapp 16.000 Menschen versucht, die Grenze illegal zu überqueren, in diesem, noch laufenden Jahr 2023 waren es bisher 21.000.Placeholder image-2Zurück in den Wald. Aleksandra Chrzanowska und ihre Mitstreiter laufen eine Dreiviertelstunde über Baumstämme, umgehen Sümpfe, überall raschelt und knackt es – bis sie drei Männer erblicken, die sich hinter einer Eiche verstecken. Wovor sie sich im scheinbar so unendlichen wie menschenleeren Wald fürchten, wird hörbar, kurz nachdem die Aktivisten sie erreichen. Über den Baumkronen erklingt das charakteristische Surren einer Drohne. Sofort springen alle in dichtes Gestrüpp.Soldaten schlugen ihnen ins Gesicht, sagen sieSo gut versteckt, wie es eben geht, bedanken sich die drei Männer aus Syrien mithilfe eines Übersetzungsprogramms auf dem Smartphone von Aleksandra Chrzanowska für Suppe, Brot, Wasser, Schuhe, Regenjacken und Rettungsdecken. Sie fangen sofort an, die Suppe zu löffeln. Meistens spricht dazu der Älteste der drei, 52 Jahre alt, weißes, stoppeliges Haar, ausgezehrter Blick. Die beiden anderen sind in ihren Dreißigern, ihre Wangenknochen zeichnen sich überdeutlich in ihren Gesichtern ab. „Wir sind seit neun Tagen im Wald, vier in Polen und fünf in Belarus“, erzählt der Älteste, der hier Esat heißen soll, weil die Aktivisten bitten, keine echten Namen Geflüchteter zu nennen. Esat führt seine Faust gegen sein Kinn und erzählt, dass sie schon einmal von polnischen Grenzsoldaten gefasst, mit der Faust ins Gesicht geschlagen und zurück nach Belarus geschickt wurden – dieser hier sei ihr zweiter Versuch. „Aus welchem Land stammt denn ihr?“, fragt Esat dann die Aktivisten. „Polen“, sagen die. Esat setzt eine schuldige Miene auf. Es tue ihm leid. Er habe ihr Land nicht beleidigen wollen.Es ist nicht möglich, die Aussagen der drei Syrer zu überprüfen, aber ihre Angaben über Gewalt und illegale Pushbacks decken sich mit den Angaben zahlreicher weiterer Geflüchteter sowie verschiedener Hilfsorganisationen. „Push-Back-Gates“ nennen die Helfer jene etwa 100 Tore, die vorgeblich für den Wildwechsel in den Grenzzaun eingebaut wurden. Durch diese Tore schicken polnische Grenzschützer die Menschen zurück nach Belarus, manche immer und immer wieder. Nach zwei eiligen Gesetzesänderungen im Jahr 2021 fühlten sich die Grenzer im Recht, wenn sie Migranten, die nicht in Polen Asyl beantragen wollen, zurück über die Grenze schickten, erklären die Aktivisten.In Belarus machen dortige Grenzer den Geflüchteten wiederum klar, dass es kein Zurück für sie gibt. Wer die Grenzregion erreicht hat, hört auf belarussischer Seite in verschiedenen Versionen einen Satz, der dort zum Mantra geworden scheint und den auch die drei Syrer nach ihrem gescheiterten Versuch gehört haben: „Von hier aus geht es für euch nur nach Polen oder ins Grab.“Per Visum und Flugticket nach MoskauSowohl Esat als auch seine beiden jüngeren Begleiter haben die vergangenen Jahre im Libanon verbracht und hätten dort weggemusst, weil sie auf Baustellen keine Arbeit mehr bekamen und befürchteten, bei einer Rückkehr nach Syrien zum Armeedienst genötigt zu werden. Auch in ihrer Geschichte taucht das Wort „Wagner“ auf, denn neben Baschar al-Assads Armee rekrutierten auch die Söldner in Syrien unter Zwang. So hätten die drei legal ein Visum und ein Flugticket nach Moskau erworben und seien von dort weiter nach Belarus und an die Grenze gefahren.Esat und seine zwei Mitstreiter erzählen, dass sie aus einer Gruppe von 14 Männern übrig geblieben sind, die anderen seien nochmals geschnappt worden. Sie präsentieren ihre Smartphones, die von Grenzsoldaten auf Steine geschlagen und mit Feuerzeugen angesengt worden seien, damit sie nicht mehr geladen werden können. Eines der Telefone, das aussieht wie ein faltbares Handy, nur, dass es keins ist, funktioniert aber noch, damit hätten sie die Helfer gerufen.Esat und seine zwei Mitstreiter haben ihren Sprung über den Zaun sowie die anschließenden Tage ohne größere Verletzungen überstanden, nur ihre Schuhe verwesen durch Nässe und Kälte ebenso wie die Füße, an denen sie festgewachsen scheinen. „Schützengrabenfuß“, nennt Aleksandra Chrzanowska das Phänomen, mit einem Wort aus dem Ersten Weltkrieg. Vorsichtig zieht sie Esats faulige Schuhe und Socken ab, an seinen Füßen glänzen tennisballgroße Blasen. Esat verzieht sein Gesicht. Chrzanowska schmiert seine Füße mit einer Fettsalbe ein und weist ihn an, die neuen Schuhe erst später anzuziehen, seine Haut brauche Luft.Ihr Fluchtziel? „Almanya, inschallah!“Bei einer letzten Frage aber, einer elementaren, müssen Aleksandra Chrzanowska und die anderen Helfer die Geflüchteten enttäuschen: Mit ihrem Auto die Männer aus dem Wald hinausbringen, das können sie nicht. Sonst würden sie sich strafbar machen. Die Männer müssen es selbst aus der Grenzregion herausschaffen und dann einen Weg oder einen Schleuser finden, der sie in den Westen bringt. Auf ihr Fluchtziel angesprochen atmet Esat schwer aus. „Almanya, inschallah!“Als Aleksandra und die anderen den Wald wieder verlassen, achten sie darauf, einen anderen Pfad zu nehmen und nicht gesehen zu werden, um keine Fährte zu jenen Männern zu legen, denen sie gerade geholfen haben. Meistens erfahren sie nicht, was aus den Geflüchteten wird.15.000 Hilfsanfragen in zwei JahrenSeit Oktober 2021 hat Grupa Granica nach eigenen Angaben mehr als 15.000 Hilfsanfragen bekommen, etwa zehn Prozent der Hilfesuchenden waren Frauen oder Kinder. „Mittlerweile schaffen es fast nur junge Männer, diese hochgerüstete Grenze zu überwinden und lange genug im Wald durchzuhalten“, erklärt Aleksandra, als die Aktivisten den Wald wieder verlassen haben und auf ihre Fahrerin warten. So verstärkt der Grenzzaun die Idee des Survival-of-the-fittest, das Überleben des Stärkeren, also den De-Facto-Ansatz der EU an vielen ihrer Außengrenzen.Die Zahlen der Grenzpolizei bezeichnen die Aktivisten als irreführend, weil einzelne Geflüchtete wieder und wieder festgesetzt und zurück nach Belarus geschickt würden. In der Statistik tauchen sie dann jedes Mal von Neuem auf. Aber auch die Zahlen der Helfer zeigen nach oben: Hatten sie im vergangenen Jahr etwa 6.000 Hilfsanfragen bekommen, erreichten sie diese Zahl 2023 bereits im August. Zuletzt würden aber immer mehr Geflüchtete von der belarussischen Seite aus anrufen – dort können Ihnen die Aktivisten nicht helfen. Und der Winter naht.Placeholder image-4Um den vielen Geflüchteten gerecht zu werden, hat sich die Grupa Granica, die sich als Dachorganisation für verschiedene Hilfsprojekte versteht, in den vergangenen zwei Jahren immer stärker spezialisiert. Juristen helfen denjenigen, die nicht weiter nach Westeuropa, sondern in Polen bleiben wollen, die „Hospital Group“ unterstützt Geflüchtete dabei, dass sie in den Krankenhäusern medizinische Hilfe erhalten und nicht nur schnell an die Grenzpolizei übergeben werden, Notfallsanitäter leisten Erste Hilfe für jene Migranten, die dehydriert oder nach dem Sprung über den Zaun mit gebrochenen Fußgelenken im Wald liegen. Aktivisten dieser verschiedenen Gruppen und Organisationen berichten im persönlichen Gespräch alle von extremer Gewalt gegen Geflüchtete, sowohl von belarussischen als auch von polnischen Grenzbeamten.Der Grenzschutz spricht von „immer aggressiveren“ MigrantengruppenNach Zahlen der Aktivisten starben bisher 49 Menschen auf dieser Flüchtlingsroute, wobei die Dunkelziffer, wie so oft, weit darüber liege. Auf einem lokalen Friedhof zeigen die Aktivisten das Grab von einem von ihnen. „Raji, Nigeria“, steht dort an einem einfachen Holzkreuz, der in einem Erdhaufen ganz in der Ecke des eingezäunten Friedhofs steckt. Das Todesdatum ist verzeichnet, das Geburtsdatum nicht.Fragt man die Grenzschutzbehörde nach Pushbacks und sonstigen Problemen an der Grenze, verweist eine Sprecherin auf „immer aggressivere“ Migrantengruppen, die Grenzschützer etwa mit Steinen bewerfen würden. Die Grenzschützer würden sich darüber aufregen, dass ihre Einsätze zum Schutz der Migranten nicht gesehen würden. Über zurück nach Belarus verfrachtete Migranten verliert die Sprecherin trotz ausdrücklicher Frage danach in ihrer Antwort kein Wort.Derweil entsteht vor dem Hauptzaun dieser Tage, im Spätherbst 2023, noch ein zweiter Zaun, ebenfalls mit Stacheldraht ausgestattet, der verhindern soll, dass Menschen überhaupt an den Hauptzaun gelangen. Selbst nach der jüngsten Parlamentswahl, die der rechtskonservativen Regierung möglicherweise ein Ende bereitet hat, rüstet Polen weiter auf.Das Symbol der Mittelmeer-Route ist die orange Rettungsweste. Das der belarussisch-polnischen Urwald-Route ist die silber-goldene RettungsdeckeWenn die Aktivisten durch den Urwald führen, deuten sie auf Kleiderfetzen, Chipstüten und leere Wasserflaschen – und oft auch Rettungsdecken, jene von einer Seite silbern und von der anderen golden glänzenden Decken, die vor Kälte und Nässe schützen sollen. So wie die orange Rettungsweste zum Symbol der Mittelmeer-Route geworden ist, ist die silber-goldene Rettungsdecke jenes der belarussisch-polnischen Urwald-Route.Wie sehr die Situation an der Grenze an den Anwohnern zerrt, weiß Katarzyna Winiarska zu erzählen. Sie wohnt seit 15 Jahren in Białowieża und betreibt in einer ausgebauten Scheune hinter ihrem Haus ein Theater, das sie nach Beginn der Krise im Jahr 2021 zunächst verwaisen ließ. „Ich dachte, ich kann hier keine Aufführungen veranstalten, wenn ein paar Kilometer weiter Menschen im Wald sterben.“ Irgendwann habe sie aber erkannt, dass „wir hier auch etwas anderes brauchen als nur diese ewige Krise“.An einem lauen Sommerabend versucht Winiarska nun beides zusammenzubringen, das Ernste und das Leichte. Sie hat zu einer Ausstellung geladen, die „Pushbacks sind illegal“ heißt und auch schon im EU-Parlament zu sehen war. Auf großformatigen Fotos stehen sich Soldaten und Migranten unweit des dystopischen Zauns gegenüber, kauern durchnässte Menschen in Waldstücken, blicken mit Augen in die Kamera, die mehr sehen mussten, als sie vertragen. Nach der Ausstellungseröffnung gehen die Besucher zu komödiantischem Stand-up-Theater über, bei dem es nicht mehr um gebrochene Schicksale und Ideale geht, sondern um misslungene Grillabende und Einparkversuche. „Es ist diese Lockerheit, die die Regierung uns nimmt, weil sie immer weiter aufrüstet.“Abubakar aus Sierra Leone blieb in Polen und ließ sich zum Gabelstaplerfahrer ausbildenFast alle Migranten wollen von der Grenze weiter gen Westen, die meisten nach Deutschland, so erzählen es sowohl sie selbst als auch die Aktivisten. Für jene, die Polen bleiben wollen, beginnen indes oft besonders harte Zeiten. Anruf bei einem Mann, der das System durchlaufen hat, mittlerweile in Warschau lebt und eine Ausbildung zum Gabelstaplerfahrer absolviert hat: Abubakar ist 23, stammt aus Sierra Leone und hat, nachdem er seiner Heimat den Rücken gekehrt hat, zunächst in Russland Fuß zu fassen versucht, wo schon ein Freund von ihm gelebt hat. „Aber auf dem Amt dort haben sie mir gesagt, ich solle in den Westen gehen.“Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, habe er mit vielen anderen Migranten das erwartete Chaos nutzen und über Belarus in die Ukraine und weiter in den Westen fliehen wollen, sei aber von belarussischen Soldaten weggeschickt worden. Schließlich hätte er den Zaun nach Polen überwunden. „Ich wusste nicht einmal, dass Polen ein Asylsystem hat.“Er sei in eines der berüchtigten geschlossenen Flüchtlingscamps gebracht worden, „es war wie ein Gefängnis!“ Obwohl die Zeit in diesem Lager gesetzlich auf 60 Tage begrenzt sei, habe er doppelt so lange dort gesessen, er wisse von einem Leidensgenossen, der 15 Monate in diesem Lager verbracht hat. „Wir hatten keine Telefone, konnten unsere Verwandten nicht anrufen. Das zerstört dich“, sagt Abubakar. Er sei Polen und den Leuten im Land dankbar, dass er hier sein dürfe, „aber diese Lager müssen geschlossen werden“.Hungerstreik in PrzemyślAnfang September ist es in einem der geschlossenen Lager, in Przemyśl, unweit der ukrainischen Grenze, zu einem Hungerstreik gekommen. Etwa 100 Migranten machen mit, es ist der erste Fall einer organisierten Aktion gegen die von Aktivisten immer wieder als menschenunwürdig beschriebenen Lebensbedingungen. „Wir wollen nicht mehr wie Tiere behandelt und nicht mehr mit Nummer gerufen werden, wir haben Namen“, heißt es in einem Aufruf, den die Migranten veröffentlicht haben. Sie verlangen weiter, dass Schläge und Einschüchterung ein Ende finden – sowie Zugang zu medizinischer Grundversorgung und eine Möglichkeit, ihre Verwandten zu kontaktieren.Zwei Wochen nach der Intervention für die drei Syrer schreibt Aleksandra Chrzanowska, dass sich die drei Männer nochmals auf dem Notfalltelefon von Grupa Granica gemeldet hätten. Sie sind wohlbehalten in Deutschland angekommen.Auch die polnischen Behörden äußern sich in diesen Tagen zur Lage an der Grenze. Sie kündigen an, noch mehr zusätzliche Soldaten schicken zu wollen. 10.000 sollen es werden.
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