Auf der Flucht: Eine Mutter und ihre Tochter sterben in der Wüste Nordafrikas
Libyen/Tunesien Sieben Jahre haben Pato Crepin aus Kamerun und Fati Dosso aus der Elfenbeinküste in Libyen überlebt. Sie wollen nach Europa und versuchen es immer wieder. Immer wieder vergeblich. Dann scheint es einen Weg über Tunesien zu geben...
Pato Crepin Anfang August in Libyen, und auf einem gemeinsamen Foto mit Fati Dosso und Tochter Marie
Foto: Mahmud Turkia/AFP/Getty Images, Mbengue Nyimbilo Crepin/dpa (rechts)
Drei Tage war Pato Crepin schon durch die Wüste gelaufen, als seine Kräfte versiegten. Zweimal hintereinander versuchten er und seine Familie von Libyen aus die Grenze nach Tunesien zu überqueren; zweimal wurden sie von Grenzschützern zurückgedrängt. Crepin, der gerade eine Infektion überstanden hatte, stellte fest, nicht mehr aufstehen zu können. Es war Mitte Juli, in der glühenden Hitze hatten die Beine aufgegeben. Seine Frau und die sechsjährige Tochter schienen stärker zu sein und weiterlaufen zu können. Crepin glaubte, wenn sie ihn zurückließen, könnten es wenigstens die beiden nach Tunesien und von dort weiter nach Europa schaffen. Er wollte sie nicht aufhalten. „Geht“, sagte er ihnen. „Ich w
h werde euch in Tunesien wiedertreffen.“Es war das letzte Mal, dass er sie sah. Eine Woche später ging das Foto einer Frau und eines toten Kindes, die tot in der Wüste lagen, weltweit viral. Crepin wollte es nicht glauben. Er konnte sehen, dass es Fati Dosso, seine Frau, und seine Tochter Marie waren. Er hoffte noch, sie würden nur schlafen, um sich auszuruhen. „Aber sie waren tot“, sagt er in einem Interview. „Ich hätte an ihrer Stelle dort liegen sollen.“Am 16. Juli, dem Tag, an dem der 29-jährige Crepin von seiner Familie getrennt wurde, unterzeichnete die EU mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied eine Übereinkunft, um die Migration einzudämmen. Als Gegenleistung für in Aussicht stehende finanzielle Zuwendungen verpflichtete sich die Regierung in Tunis, die Zahl der Boote zu beschränken, die Tunesiens Küste verlassen. Ende Juli waren es gut 4.000 Menschen, die von den dortigen Behörden in entlegene Gebiete an der Grenze zu Libyen und Algerien gebracht wurden.Automechaniker in NigeriaFür Pato Crepin zählt allein, dass die beiden Menschen, die sein Leben waren, tot sind. „Ich versuche zu vergessen, aber es ist unmöglich. Ich kann nicht schlafen, weil es so schmerzhaft ist. Wir hatten unsere gemeinsame Geschichte bis zur letzten Minute, bis wir in die Wüste kamen.“Wie bei vielen Flüchtlingen, die Nordafrika durchqueren, beginnt die Fluchtgeschichte von Crepin und Fati Dosso, die auch eine Liebesgeschichte ist, in der libyschen Stadt Bani Walid, berüchtigt als Drehscheibe für den Menschenschmuggel und -handel. Beide hatten bereits enorme Entfernungen hinter sich: Fati Dosso kam aus der Elfenbeinküste, Pato Crepin aus einem Teil Kameruns, der zwischen anglophonen Separatisten und der Regierung seit Jahren umkämpft ist. Dutzende Menschen starben, Hunderte landeten im Gefängnis, Tausende flohen über die Grenze nach Nigeria. „Sie brannten unser Haus ab und töteten meine ältere Schwester“, erzählt Crepin, der in Buea geboren und aufgewachsen ist, der Hauptstadt von Kameruns Südwestregion. „Sie war meine einzige Schwester.“ Crepin sah keine andere Möglichkeit, als nach Nigeria zu gehen, wo er Arbeit als Automechaniker in einem Dorf an der Grenze zu Kamerun fand. „Ich lernte Migranten kennen, die mir sagten, im Maghreb gäbe es gute Jobs. Ein Schmuggler brachte mich nach Algerien und dann weiter nach Libyen. Dorthin kam ich und traf auf Fati Dosso.“Diese wurde Anfang 1993 in der Stadt Touba im Westen der Elfenbeinküste geboren und wuchs als Waisenkind ohne Geschwister auf. Die Einzige, die sich für ihr Schicksal interessierte, war eine Tante, mit der sie auch während ihrer Flucht Kontakt hielt. In Libyen, einem Land, das seit Jahren von Gewalt und Unruhen erfasst ist, lernte sie Pato Crepin in einem Internierungslager für Flüchtlinge im Umfeld von Tripolis kennen. Beide wurden ein Paar, das blieb so, auch wenn sie auf der Flucht mehrfach getrennt wurden. Mindestens viermal versuchten sie, aus Libyen Richtung Europa zu kommen. Aber jedes Mal fing man sie ab. Und wieder begann das jämmerliche Dasein in unterschiedlichen Auffanglagern.Versuche die Wüste zu durchqueren„Einmal war ich im Camp Ben Salid und Fati Dosso in einem Gefängnis bei Sabratha“, erinnert sich Crepin. Trotz aller Härten gelang es dem Paar, sieben ganze Jahre in Libyen zu überleben. Am 12. März 2017 wurde die Tochter Marie geboren. Den Eltern erschien es danach noch dringlicher, Europa zu erreichen, wo sie hofften, Ruhe und eine Arbeit zu finden.Ende 2022 schließlich, als Crepin, Fati Dosso und Marie noch in Libyen waren, übernahm mit Tunesien ein anderer Staat in Nordafrika die Rolle des Haupttransitlandes für Menschen, die nach Europa wollten. Von den Migranten, die bis Mitte August 2023 an den Küsten Italiens eintrafen, kamen die meisten nicht mehr über Libyen. Wie Angaben des italienischen Innenministers zu entnehmen ist, verließ im Juli eine Rekordzahl von über 20.000 Menschen Tunesien in Richtung Italien. Viele davon schafften es nicht, ihr Ziel zu erreichen. Aber weder die Widrigkeiten einer Reise übers Mittelmeer noch die Nachrichten über Tausende von Vermissten schreckten die Menschen ab. Am 13. Juli waren so auch Crepin, Fati Dosso und die unterdessen sechsjährige Marie auf dem beschwerlichen Weg von Libyen in die tunesische Stadt Ben Gardane. „Am 13. liefen wir die ganze Nacht hindurch. Tunesien lag vor uns“, erzählt Crepin. „Weil wir kaum noch Wasser hatten, beschlossen wir, die tunesische Grenze in Richtung Küste zu überqueren, um schneller an Wasser zu kommen. Doch da liefen wir drei tunesischen Soldaten in die Arme, die uns schlugen und zurück in die Wüste drängten.“Fest entschlossen, wie sie war, versuchte die kleine Familie erneut, die Grenze zu überqueren, diesmal erfolgreich. Am 15. Juli waren sie nicht weit entfernt von Ben Gardane, gut 20 Kilometer tief auf tunesischem Gebiet. Eine Frau gab ihnen Wasser, bis sie das Glück erneut verließ. „Meine Frau hatte Schmerzen. Daher gingen wir ins Hospital von Ben Gardane, um einen Arzt aufzusuchen, hatten aber kein Geld, ihn zu bezahlen“, berichtet Crepin. „In diesem Moment kam die Polizei und brachte uns an einen Ort, der ein Checkpoint zu sein schien. Am Tag darauf wurden wir gezwungen, in einen Van zu steigen, und zurück in die Wüste gebracht.“Tod auf der FluchtFati Dosso und die kleine Tochter waren am Boden zerstört. Sie weinten vor Verzweiflung, dennoch wollten sie einen weiteren Versuch wagen. Sie versuchten Crepin zu überzeugen, aufzustehen. Aber er spürte, wie sein Körper rebellierte. Daher fragte er eine andere Gruppe von Migranten, ob sie seine Frau und Marie mitnehmen würden. Zu seiner Erleichterung sagten sie Ja. Jede Minute war wertvoll; wenn seine Frau und die Tochter nicht bald Tunesien erreichten, würden sie verdursten. Crepin glaubte, sie hätten diese letzte Chance, er dagegen nicht. „Ich überzeugte sie, weiterzugehen, und versprach, sie in Tunesien einzuholen. Es war das letzte Mal, dass ich sie lebend sah.“Crepin hat Mitte Juli in der Wüste überlebt, weil ihm eine Gruppe von Sudanesen Wasser anbot und so half, sich zu retten. Bald jedoch wurde er von den tunesischen Behörden wieder nach Libyen zurückgeschickt, um seither im nordwestlichen Bezirk von Tripolis interniert zu sein. Über den Tod seiner Frau und der Tochter hat Crepin nur wenige Informationen. Er weiß, was die NGO „Flüchtlinge in Libyen“ in Erfahrung bringen konnte. Demnach sind Fati Dosso und Marie in der libyschen Wüste vermutlich verdurstet. „Vielleicht waren sie dehydriert, erschöpft und verletzt von den Schlägen, die sie von tunesischen Grenzwächtern erhalten hatten. Ich stelle mir vor, dass das alles zusammen sie getötet hat. Hinzu kam sicher ihre seelische Verfassung. Sie wussten, in welchem Zustand ich mich befand. Ihnen war klar, dass ich dort, wo sie mich zurückgelassen hatten, womöglich sterben würde. Ich glaube, das war es“, ist Crepin überzeugt.Dem Netzwerk „Flüchtlinge in Libyen“ ist es gelungen, Fati Dosso und Marie zu identifizieren und der Welt ihre Geschichte zu erzählen. „Wir wollten falsche Vorstellungen darüber ausräumen, was in der Wüste und auf dem Meer geschieht. Dort sterben Menschen, die als Zahlen abgehandelt werden“, sagt ein Sprecher der NGO. Was man über Fati Dosso und Pato Crepin wisse, zeige nicht nur die extremen Schwierigkeiten, vor denen Migranten in Nordafrika stehen, sondern auch ihre Widerstandskraft. Als Migranten mussten sie Not und psychische Folter erdulden, weil ihre Rechte nicht anerkannt wurden. Die Tochter Marie wurde unter diesen Umständen geboren. Sechs Jahre lang versuchten die Eltern, das Kind vor den Fluchtgefahren zu schützen. Letztlich vergeblich. Die Leichen von Dosso und Marie wurden im Wüstensand gefunden, das Mädchen eng an ihre Mutter geschmiegt. Beigesetzt sind sie auf dem Friedhof von Jumayl nahe Tripolis. Pato Crepin war bei der kurzen Zeremonie dabei.Placeholder authorbio-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.