Als die DEFA ein uigurisches Märchen verfilmte: Allah, gib Wasser
Zeitgeschichte 1958 „Die Geschichte vom armen Hassan“ ist ein Versuch junger DEFA-Leute, Brechts Lehre für den Kinderfilm zu nutzen. In Babelsberg steht Ekkehard Schall vor der Kamera. Dokument aus Zeiten märchenhafter Beziehungen zwischen China und der DDR
Noch hat sich Hassan (Ekkehard Schall, am Boden) nicht gegen den Kaufmann (Erwin Geschonneck, re.) und den Kadi (Ernst Otto Fuhrmann, li.) erhoben.
Foto: Eberhard Dassdorf/DEFA-Stiftung
Im Spätherbst 1958 liest die Schriftstellerin Alex Wedding im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft aus ihrem Jugendroman Das eiserne Büffelchen, der in China spielt. Das Erich-Weinert-Ensemble der Nationalen Volksarmee gastiert in Peking. An der Stalinallee am Ostberliner Frankfurter Tor eröffnet in Kürze ein „China-Basar“, ein Laden, in dem es unter anderem Kleidung zu kaufen geben wird. Im Fenster stehen schon die Puppen und tragen Qipao.
In den 1950er Jahren sind die DDR unter Walter Ulbricht und China unter Mao Zedong einander in Aufbruchstimmung partnerschaftlich verbunden. Es ist eine organisierte Freundschaft, ideologisch gewollt, unter steter Kontrolle. Aber es gibt sie, sie wird gelebt. So absolvieren etwa drei Chinesen – nach einem Jahr
1; nach einem Jahr intensivem Unterricht am Herder-Institut in Leipzig sprechen sie hervorragend Deutsch – an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg (teils postgradual) ein Studium, machen nebenher Praktika bei der DEFA und wohnen bei Angestellten des Filmstudios, gemeinsam mit den Familien.Kein han-chinesisches MärchenNaheliegend, dass in dieser Zeit DEFA-Filmschaffende auf die Idee kommen, einen Kinderfilm nach Motiven eines Märchens aus China zu kreieren. Eine Fabel wird erdacht, die Idee dem Studio vorgetragen. Die Handlung folgt aber keinem han-chinesischen Märchen, wie man denken mag, sondern einem uigurischen. Einem Märchen eines Turkvolkes also, einer ethnischen Minderheit innerhalb der Volksrepublik China, deren Religion der Islam ist – und die wir Heutigen zu kennen glauben aus Nachrichtenmeldungen.Seit 1949 gehört die Region Xinjiang, wo die meisten Uiguren noch immer leben, zu China. Seit 1955 existiert das „Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang“. Ethnien und ihre Kultur als eigenständig anzuerkennen, sie gleichzeitig fest einzugliedern und unter die Herrschaft und Kontrolle der Kommunistischen Partei zu stellen – Peking tut es Moskau nach. In der Sowjetunion leben diverse „Nationalitäten“, auch die turksprachigen Kirgisen, Kasachen, Usbeken, Tataren. Und Lenin, Stalin, Chruschtschow wissen: Bekommen sie die potenziellen Fliehkräfte nicht gefesselt, fliegt ihnen der ganze Laden in die Luft.46 Tage Dreh, eine Million Mark KostenOffiziell natürlich wird liebevolles Miteinander verlautbart. Willkommen in der Welt der Märchen. Die Geschichte vom armen Hassan – dem Studio gefällt die Story gut, es gibt dem Projekt grünes Licht. Rosel Klein schreibt das Drehbuch. Ihr Mann Gerhard Klein, dessen im Vorjahr gedrehter Film Berlin – Ecke Schönhauser zunächst aus ideologischen Gründen kurzzeitig auf Eis lag, dann ein Publikumshit wurde, führt Regie. Im Februar 1958 beginnen die Dreharbeiten. Sie dauern 46 Tage. Produziert wird ausschließlich im Atelier. Alle Szenen müssen nachts gedreht werden, weil die beiden Hauptdarsteller vormittags und abends an ihrem Theater, dem Berliner Ensemble, stark beschäftigt sind. Schließlich muss fast der gesamte Film nachsynchronisiert werden, denn in den Studiohallen macht die Heizung Krach. Der Arme Hassan kostet knapp eine Million Mark.Fünf Jahre zuvor ist Die Geschichte vom kleinen Muck an gleicher Stelle produziert worden. Fantasiereich und mit Witz erzählt, opulent, ja operettenhaft ausgestattet, wurde es der erfolgreichste Film der DEFA überhaupt, „wobei die auf exotisch geschminkten Gesichter dem Ganzen zusätzlichen Charme verleihen“, wie man im DVD-Booklet überrascht liest. Hassans Budget ist deutlich geringer. Die Erwartungen des Studios aber gehen wohl dennoch in Richtung des Kleinen Muck. Sie werden enttäuscht.„Mein Name ist Ekkehard Schall“„Es war einmal, und es war einmal nicht“, so beginnen viele uigurische Märchen. Sie spielen in der Sandwüste Taklamakan, der „schlimmsten und gefährlichsten der Welt“, oder in Oasen am Tarimstrom. „Hier stehen Gehölze von Eleagnusbäumen“, entnimmt man einem preußischen Expeditionsbericht vom Anfang des 20. Jahrhunderts, „die im Frühjahr mit dem schweren, süßen Duft ihrer schwefelgelben Blütendolden, besonders in der Nacht, die Landschaft weithin erfüllen.“ Es gedeihen Wein, Weizen, Baumwolle, man erntet Pflaumen, Aprikosen, Pfirsiche. Die Sprache der Uiguren, liest man im selben Bericht, sei „ein schönes, im Osten ziemlich reines türkisches Idiom mit wunderbaren Möglichkeiten der Nuancierung des Ausdrucks. Wer sich mit ihr beschäftigt, muss jenem osttürkischen Spruchwort (sic) beipflichten, welches besagt: ‚Arabisch ist Wissenschaft, Persisch ist Zucker, Hindi ist Salz, Turki ist Kunst‘.“Der Lastenschlepper Hassan hat von alledem nichts. Er muss sehen, wie er überlebt. Und so läuft der Film: „Bitte Ruhe!“ „Bitte abläuten!“ „Ton ab.“ Eine Filmcrew steht um die Kamera gruppiert, fährt auf den 28-jährigen Schauspieler Ekkehard Schall zu, der einen Papagei bei sich hat, das Bild ist schwarz-weiß. „Guten Tag“, wendet sich der Darsteller ans Publikum, „mein Name ist Ekkehard Schall, und das ist mein Freund, mein bester Freund Ara. Ich spiele in diesem Film den Hassan und er spielt den Papagei, den besten Freund des Hassan.“ Aha, denken die geschulten Kinder, ich schaue mir also einen Film an, stimmt, bin ja im Kino, und richtig, dieser Ekke, geboren in Magdeburg, kann natürlich kein „authentisch“ uigurischer Hassan sein, logisch. Er kann aber eine solche Figur spielen. Schall, seit 1952 Schauspieler an Brechts Bühne und Protagonist von dessen „epischem Theater“, stellt nun die weiteren wenigen Figuren und ihre Darsteller vor. Alles geht sehr langsam. Und alle Kinder sind bereits bedient. Bedient mit einer Lektion Repräsentationskritik, wie wir heute sagen würden, und sensibilisiert in Sachen „kulturelle Aneignung“.Nicht wie beim „Kleinen Muck“Dann wird das Bild farbig. Öde, weit und steinig ist das Land, blau und wolkenlos der Himmel. – Der Kameramann ließ, erstmals so bei der DEFA, die Rundhorizonte nicht farbig bemalen, sondern schuf das Blau des Himmels mit Kohlescheinwerfern. „Die Leuchtkraft der Farben besticht“, lobt der Abschlussbericht und empfiehlt Nachahmung. – In einem Verschlag lebt Hassan. – Ekke hat nun Make-up drauf, das ihn sonnengebräunt aussehen lässt, aber es findet kein Brownfacing statt wie beim Kleinen Muck. – Hassan betet zu Allah, er möge ihm einen Job als Lastenträger verschaffen. Er hat Durst, doch Wasser muss man kaufen. So blickt er durchs Tor auf den randvoll gefüllten Brunnen im Garten des reichen Kaufmanns Mahmut. – Erwin Geschonneck spielt ihn in edlem Gewand. Es ergab sich, dass dieses Gewand zweifach benötigt wurde. „Nach Genehmigung des Ministeriums für Kultur, Zentrale Planung, wurden 10 Meter Brokatstoff nochmals gewebt und zu einem zweiten Gewand verarbeitet.“ – Als Mahmuts Wachhund sich auf Ara stürzt, wirft Hassan einen Stein, der den Hund tötet. Nun muss Hassan selbst Mahmuts Hund sein. Das entscheidet ein bestochener Kadi im Namen Allahs.Als Diebe dann Mahmut ein Pferd stehlen und „Hund“ Hassan es wegen der Kette, an die er gelegt ist, nicht zu verhindern vermag, muss er auch noch als Pferd Dienst tun. Er zieht seinen Karren und kommt bis in die Wüste, wo er endlich aufbegehrt und seine Peiniger, Kaufmann und Kadi, den Kapitalisten also und dessen Klassenjustiz, dem Verdursten, dem Sterben überlässt. Das Tor zum wasserreichen Garten steht fortan allen Armen offen, „und sie waren so an das Ziel ihrer Wünsche gelangt“.Was wie das Skelett einer Geschichte klingt – ist die Geschichte. Stringent, aber langatmig und schmucklos wird sie erzählt. Nirgend gibt’s was zu lachen. Die Sklavin Fatima, einzige Frau im Film, ist singend und tanzend bloß Beiwerk. „Bei der Gestaltung dieses Märchenfilms“, notiert das Abnahmeprotokoll in Anwesenheit des stellvertretenden Kulturministers, „wurden neue Wege beschritten“; man müsse den Versuch aber als weitgehend gescheitert betrachten. Unter anderem, „weil der Schauspieler Schall die Gestaltungsmöglichkeiten nicht ausschöpft und in der Skala der Gefühlsäußerung zu starr bleibt“. In Wahrheit ist es das Drehbuch, das kein Vergnügen aufkommen lässt. „Diese Tendenzen weiter entwickelt“, warnt das Protokoll, „können zur Auflösung des Märchenfilms führen.“ Der Minister rügt, die Studioleitung habe „sich ungenügend mit der Problematik des Films beschäftigt“. Hassan wird dennoch freigegeben und diese Zulassung immer wieder um fünf Jahre verlängert. Zuletzt bis zum 30. September 1993.