Mythenproduktion oder immerhin könnte es so gewesen sein

Sachlich Richtig Prof. Erhard Schütz lernt Familienclans und Journalistinnen kennen und trifft auf trojanische Pferde
Ausgabe 07/2024
Die Herausgeberin der „ZEIT“, Marion Gräfin von Dönhoff, in ihrem Büro
Die Herausgeberin der „ZEIT“, Marion Gräfin von Dönhoff, in ihrem Büro

Foto: Imago/Sven Simon

Bei einem Talentwettbewerb zur Reportage des Südwestfunks im Jahr 1955 gab es 355 Bewerbungen, darunter 44 von Frauen. Die Frauen sollten aus einem Kindergarten, die Männer aus einer Schreinerwerkstatt berichten. Journalistinnen zu der Zeit in der BRD: geschätzt zehn Prozent. Rainer Hank zeigt in seinem Buch Die Pionierinnen, mal im Porträt, mal skizziert, welche Wirkung sie hatten und in welchem Spektrum sie sich bewegten. Das meint nicht nur zwischen Kochrezepten und Wirtschaftskommentaren, sondern – Jahrgänge 1901 bis 1927 – auch zwischen Herkunft aus der NS-Wochenzeitung Das Reich und dem Exil. Entsprechend ist der Umgang mit der Vergangenheit: Margret Boveri und Marion Gräfin Dönhoff als „Meisterinnen“ der „Mythenproduktion“ um den angeblichen deutschen Opferstatus. „Clara Menck und Hilde Spiel, die jüdischen Emigrantinnen, widersprachen – und wurden überhört.“ Statt langer Namensliste belasse ich es bei der Betonung, wie erhellend, vielschichtig und spannend Rainer Hank an die Wirkung seiner Protagonistinnen erinnert, ganz so, wie er es bei seiner Lehrerin Maria Frisé gelernt hat. Es finden sich jede Menge Anregungen zum Weiterforschen. Und dann wäre da noch die DDR …

Ein umfassendes Werk zum Pamphletismus der wechselseitigen Propaganda von BRD und DDR im Kalten Krieg, zur Grauzone zwischen Presse und Buchverlagen, ist Trojanische Pferde von Klaus Körner. Hier eine Gemengelage aus alten Nazis, Christen, Sozialdemokraten, geeint im Antikommunismus, gefördert über oft dubiose staatliche oder geheimdienstliche Finanzquellen. Dort von der KPD und dann aus verdeckten DDR-Kanälen alimentierte Antifaschismus- und vor allem Friedenspropaganda – ein fortwährender Broschürenkrieg. Verlage wie Seewald, Desch, EVA, Colloquium einerseits, andererseits etwa Progress, Röderberg, Konkret, Brücken, Association oder Trikont werden hier porträtiert. Ein reicher Fundus an Überraschungen.

Klaus Hanischs Buch zur Prager Zeitung verspricht „350 Jahre Medien- und Kulturgeschichte“. Das ist schlicht Täuschung. Zwar existierte seit 1672 deutschsprachige Presse in Prag, aber davon außer einem Satz kein weiteres Wort. Vielmehr stellt er die 1991 neu gegründete Prager Zeitung vor. Die 30 Jahre, die er Revue passieren lässt, sind freilich interessant. Denn sie zeigen exemplarisch die Hoffnungen und Realitäten der Presse von den neuen Aufbruchs- zu den jüngsten Krisen- und Abbruchjahren. Die Printausgabe wurde 2016 eingestellt, danach versuchte man es mit einem Onlinemagazin. Aber auch das scheint passé.

Die Prager Zeitung berief sich unter anderem auf die Tradition des Prager Tagblatt, das von 1876 bis 1939 existierte und seit 1914 die meistgelesene deutschsprachige Zeitung der Monarchie außerhalb Wiens war. Politisch auf deutsch-tschechische Verständigung orientiert, hatte das Blatt ein ausgesprochen liberales Feuilleton. Unter anderem veröffentlichten hier Polgar, Roth, Tergit oder Tucholsky. Und Robert Walser. Zwischen 1907 und 1931 (mit einem Nachklapp 1937) immerhin 55 Texte. Die kann man nun in der vorzüglichen Edition und Kommentierung der Kritischen Ausgabe lesen.

Das scheint Größenwahn: eine Globalgeschichte als Geschichte von Familie(n) zu schreiben. Hochstapelei jedenfalls, in wenigen Zeilen die Lektüre der über 1.500 Seiten zu behaupten. Ich bin einstweilen nur nach Art des Bibelstechens hier und dort eingetaucht. Immer wieder festgelesen. Denn das ist ungemein abwechslungsreich, originell und elegant geschrieben. Kein Kleinkram von Kleinfamilien, sondern um Dynastien, Clans oder – altvorderdeutsch – Geschlechter und Sippen geht es. Der „intime Blick auf die Menschheit“ ist gespickt mit Anekdoten und Homestorys und ist zugleich auf eher fatale denn segensreiche Folgen für jene Familienbanden gerichtet. „Das Grässliche und das Heimelige bestehen nebeneinander.“ Auch sonst eine Doppelperspektive: Geschichte der menschenbestimmten Welt und darin Konstanz und Wandel von Familie und ihren Rollen. Medicis, Habsburger, Rothschilds, Krupps, Roosevelts, Kennedys – da klingelt’s. Ebenso bei den Kims, Assads, Sauds und Trumps. Aber Quin, Han, Haschim und Umayya, Tang und Jayavarman? Zwar noch tief in der Vergangenheit, doch bereits in Afrika, Asien oder Amerika. Unvorstellbar, das von vorn bis hinten durchzulesen, ebenso unvorstellbar, es nicht nach und nach zu tun. Es rollt die ewige Woge zwischen Fehden, Nepotismus, Inzest, Kuckuckskindern und Erbstreit. Am Ende muss man dem Dynastienpuzzle ähnlich vertrauen wie der eigenen Familie: Darauf, dass alles so war. Immerhin könnte es so gewesen sein.

Die Pionierinnen. Wie Journalistinnen nach 1945 unseren Blick auf die Welt veränderten Rainer Hank Penguin 2023, 367 S., 28 €

Trojanische Pferde. Politische Verlage im Kalten Krieg Klaus Körner Lehmstedt 2023, 543 S., 58 €

Prager Zeitung. 350 Jahre Medien- und Kulturgeschichte Klaus Hanisch Königshausen & Neumann 2023, 304 S., 34,80 €

Robert Walser. Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Bd. III 5: Drucke im Prager Tagblatt Bettina Braun, Barbara von Reibnitz (Hrsg.) Stroemfeld und Schwabe 2024, 274 S., 69 €

Die Welt. Eine Familiengeschichte der Menschheit Simon Sebag Montefiore A. Thomsen, H. P. Remmler, S. Stauder, K. Laue, J. Hagestedt, M. Zettner (Übers.), Klett-Cotta 2023, 1.534 S., 49 €

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