Graphic Novel „Games“ erzählt Fluchtgeschichten aus Afghanistan: Kein Kinderspiel
Rezension Der Illustrator Patrick Oberholzer erzählt in „Games“ fünf Fluchtgeschichten aus Afghanistan nach Deutschland. Es geht um Leben und Tod – und um einen Konflikt, der Zehntausende Leben gekostet hat
„Games“ nennt man die Versuche, über eine Grenze zu kommen, manche brauchen 40 davon, um es zu schaffen
Abbildung aus dem besprochenen Band
Nimas Vater ist ein Schlepper. „Das ist ein normaler Beruf“, sagt er lakonisch. Jeder mache doch etwas, um seine Familie zu ernähren. Das Schleppersein bringt der Familie gutes Geld. Doch als afghanische Flüchtlinge sind sie im Iran nicht willkommen. Sie haben dort weniger Rechte und werden bedroht. Mit 16 Jahren träumt Nima von Deutschland: „Ich habe die Nase voll gehabt vom Iran. Ich habe mich sehr auf die Flucht gefreut. Aber wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, wäre ich niemals im Leben gegangen.“ So sieht eine kurze Sequenz aus dem Graphic-Novel-Debüt Games – auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan des Schweizer Illustrators Patrick Oberholzer aus. In Interviews, Befragungen und durch Quellenarbeit hat de
rbeit hat der Künstler Berichte von Betroffenen gesammelt und in einem 96 Seiten umfassenden Band zu einer Erzählung verwebt. Manche der fünf Geschichten lassen einem dabei das Blut in den Adern gefrieren.Los geht es mit einer kurzen Nacherzählung des Afghanistan-Konflikts von 1919, dem Jahr der Unabhängigkeit, bis 2021, dem Jahr der Rückkehr der Taliban. Waffen, Soldaten, Landkarten und Konflikte zwischen religiöser Tradition und westlichem Modernismus flammen auf. Wir werden an Osama bin Laden und an Hamid Karzai erinnert, den ehemaligen Präsidenten des Landes. Und an die Opferzahlen, die der Krieg mit sich brachte: Alleine zwischen 2010 und 2020 starben 36.000 Zivilisten.Verschleppt in eine HöhleAnhand einer üppigen Zahlen- und Faktenschau lernt man Afghanistan als Land besser kennen. Zum Beispiel, dass die Sprachen Dari und Paschtu besonders verbreitet sind. Mit Grafiken, Statistiken und Karten im Wechsel zu fotorealistischen Illustrationen, deren zeichnerischen Entstehungsprozess der Autor am Ende des Bandes noch erklären wird, ist Games ein dokumentarischer Sach-Comic darüber, welche Entscheidungen Menschen auf der Flucht gezwungen sind zu treffen, welche Gefahren sie durchleben – und weshalb sie dennoch nicht umkehren. Die Betroffenenportraits sind zwar Einzelfälle, lassen sich aber auch als Schablonen verstehen.Da ist zum Beispiel die tragische Geschichte von Afsaneh. Die junge Frau ging nie zur Schule, später lernt sie mäßig Lesen und Schreiben. Mit 14 wird sie zwangsverheiratet und muss mit einem zehn Jahre älteren Mann in den Iran gehen. Er schlägt sie, hat andere Frauen, sie lebt bei ihm wie eine Dienstmagd. Afsaneh hat die Idee von einem freien Leben in Europa. Schwanger begibt sie sich mit dem Mann zusammen auf die Flucht. Oder man erfährt von Hamid, der aus der Provinz Laghman stammt, unweit von Kabul. Seine Mutter verstirbt früh, er wächst mit Vater, Onkel und Bruder auf. Er geht in die Schule, aber die Taliban rekrutieren junge Paschtunen wie ihn als Freiwillige für Selbstmordattentate. Als sie ihn in eine Höhle verschleppen, gelingt eines Nachts die Flucht. Laufen, laufen, bis es nicht mehr geht – und dann weiter. Fünf Nüsse in der Tasche müsse man haben, um es eine Weile auszuhalten, berichtet er. Das Medium der Graphic Novel erleichtert den Zugang zum schweren Thema, zeigt, was nötig ist, und lässt offen, was der Imagination reicht. Man lernt viel. Zum Beispiel, wie der Weg der Flüchtenden aus Afghanistan verläuft. Auf Doppelseiten lässt sich die Fluchtroute nachvollziehen: Iran, Türkei, die griechischen Inseln und Moria, und dann über die Balkanroute in den Schengenraum. Nebenbei wird erklärt, wie dort das Asylrecht funktioniert. Mit einem gut bestückten Quellen- und Literaturverzeichnis sind die Angaben im Buch belegt, die die fünf Erfahrungsberichte ergänzen. Einer davon stammt von Ziyas: „Ich bin nur kurz zur Schule gegangen“, heißt es bei ihm, „dann kamen die Taliban, und es hat nur noch ein Unterrichtsfach gegeben: Scharia“. Seine Familie möchte, dass er flieht. Die Menschen auf der Flucht übernachten in Ställen oder eingepfercht in Hohlräumen von Transportern. 15 Personen zwängen sich in einen normalen Pkw und jagen nachts durch die iranische Wüste. Für Frauen ist es fast unmöglich, ohne sexuelle Gewalt durchzukommen. All das wird den Lesenden eindrücklich, umstandslos vermittelt. Nur wer dem Schlepper genug bezahlt, kommt weiter. „Einige sind freundlich, und viele sind Arschlöcher“, heißt es im Text. Die Grenzübergänge sind gefährlich und unwegsam. Ganz zu schweigen vom Weg übers Meer. Worum es geht, das ist, sein eigenes Schicksal zu testen. Sein eigenes Leben. „Games“, sagt Ziya, „so nennt man die Versuche, über die Grenze zu kommen“. Manche Leute bräuchten 20 oder 40 Games, um es zu schaffen. Andere schaffen es nie.Hamid brauchte vier, bis er in Bulgarien war. Die Grenzwächter schossen, schossen wieder, irgendwann war er durch. Teils müssen die Protagonisten in den Ankunftsländern viele Jahre auf ihre Papiere warten. 70 Prozent der afghanischen Geflüchteten, so erfährt man, würden heute von der Flucht abraten. Trotzdem ist Oberholzers Blick hoffnungsvoll, humanistisch.Nima, Afsaneh, Muhammed, Hamid und Ziya haben den langen Weg nach Europa bewältigt. Mut und Überlebenswille der Menschen, die einem in Games begegnen, imponieren. Ihre Geschichten lesen sich wie zeitdokumentarische Skizzen. Präsentiert werden sie im Schutzmantel einer ansprechenden Comic-Kunst.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.