A–Z Nach der Berlin-Wahl verlieren viele die Geduld mit der Stadt, auch literarisch gibt sie nicht mehr viel her. Also auf nach Wiesbaden, Brandenburg, Emden. Oder nach Augsburg, wo es noch Jahreskaltmieten von 88 Cent gibt. Unser Lexikon
Berlin: Hier gibt's nix mehr zu entdecken, also – raus hier!
Foto: Marcus Glahn
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Augsburg Berlins nächster Senat hat eine große Aufgabe vor sich: Er muss den Volksentscheid für die Vergesellschaftung der Wohnungsbestände großer Konzerne umsetzen. Was dann also tun mit all den Häusern in öffentlichem Besitz? An der ältesten Sozialbausiedlung der Welt kann Berlin sich ein Beispiel nehmen: Zwar befindet sich Augsburgs Fuggerei in Stiftungs-, nicht Staatsbesitz. Doch wo sonst bezahlt man für eine Wohnung eine Jahreskaltmiete von 88 Cent plus weitere 88 Cent für Pfarrer (➝ Münster), Heizung, Strom und Müllentsorgung, bis heute der 1521 von Stifter Jakob Fugger festgelegte Preis in der damaligen Höhe des Wochenlohns eines Handwerkers?
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essionelle Arrangement in Augsburg – Bewerber müssen nicht nur ihre Bedürftigkeit nachweisen und einige Jahre in der Stadt gelebt haben, sondern auch katholisch sein und drei Gebete pro Tag für den Stifter versprechen – ließen sich in Berlin sicher alternative Diversitäts-Kriterien finden. Sebastian PuschnerBBrandenburg Amsterdam, Emden, Kopenhagen – wie viele Städte wurden schon als Venedig des Nordens bezeichnet? Brandenburg an der Havel ist immerhin Klein-Venedig. Das Wasser ist hier elementarer Teil der Lebensqualität. Mit dem Zug fährt man von Berlin keine Stunde – und schon lässt es sich durch die pittoreske Altstadt flanieren. Ein unbedingter Zwischenstopp: Die Jahrtausendbrücke. Dort bei einem Kaffee den Freizeit-Kapitänen und Stand-Up-Paddlerinnen zuschauen. Oh, was sitzt denn da für ein seltsames Vieh? Ein Waldmops! Brandenburg ist Loriots Geburtsort und diese Kunstfigur entsprang seinem Kopf. Seit 2015 finden sich die „ausgewilderten“ Bronzetierchen im Stadtbild. In allen Städten wärmt man sich an einst ansässigen Berühmtheiten (➝ Zerbst), aber nirgendwo so schön wie in Form eines Waldmopswanderweges. Susann MassuteEEisenhüttenstadt Die Stadt sieht so aus, als wäre die Zukunft auf Durchreise gewesen, als hätte sie beim Picknick am Wegesrand Überbleibsel dagelassen. Bei ihrer Gründung hieß sie Stalinstadt, 1961 wurde sie umbenannt. Von der Industrie für die Industrie, so verlangten die Grundsätze des DDR-Städtebaus, war diese Ansiedlung, an deren Stelle unter den Nazis Zwangsarbeiter leben mussten. Das verschwieg die Regierung. Ein Neuanfang sollte hier sein. Abseits der Boulevards stehen märchenhafte Fachwerkhäuser, als wollte man die deutsche Romantik nachbauen. Später macht sich die Architektur locker, die Kaufhalle erinnert an International Style, der Plattenbau ist freundlich pastellfarben, Mosaiken und Skulpturen überall. Ein bisschen leer ist es hier noch, aber das war es ja, was Berlin mal attraktiv machte. Philipp HindahlEmden In meiner kindlichen Art habe ich mir mal ausgemalt, dass ich in eine Stadt ziehe, die den gleichen Anfangsbuchstaben wie mein Vorname trägt. Essen wäre eine Option gewesen, aber auch Erlangen oder: Emden. In Essen und Erlangen war ich schon, das war eher meh. Sollen die anderen nach Italien, ich will nach Emden. Deiche, grüne Wiesen, Schafe sind allein schon ein Traum für die geschundene Seele einer mittlerweile genervten Ur-Berlinerin. Als größte Stadt Ostfrieslands hat Emden einen süßen Hafen und eine traumhafte Bevölkerungszahl von etwas über 50.000 Einwohnern (Stand 2019). Vor allem, wenn man wie ich heute früh in der übelst vollen Berliner U-Bahn gefahren ist, sind das ja traumhafte Zahlen: nur 50.000 Menschen – mit so vielen Leuten bin ich heute früh gefühlt Bahn gefahren! Und es gibt dort noch halbwegs bezahlbare Wohnungen! Wahnsinn. Obwohl ich ja am liebsten mit lauter Ottifanten im Otto-Huus wohnen würde. Mit dem schlaksigen Komiker hatte ich als Kind in meinem verschlafenen Berliner Randbezirk gute Zeiten. Obwohl, alles ist aus der Ferne schön: das Otto-Huus soll laut einer Freundin „Schrott“ sein. Egal. Emden, ich komme! Ebru TaşdemirLLemberg Ein echtes Kuhkaff, das es vielleicht alle hundert Jahre einmal in die überregionale Presse schafft, erhält nun für wenige Zeilen großen Ruhm. Warum zieht man, wie ich, hierher? Und dann noch in den kleineren Ortsteil Salzwoog? Hinter dem Haus ruht der Pfälzerwald, davor erstreckt sich ein Feld mit Fluss. Was man hier nicht hat: Kultur (➝ Recklinghausen). Dafür aber dies: Das Gefühl, im rechten Momente der Weltgeschichte auf einer Insel zu leben, die selbst von Krisen übersehen wird. Hier lernt man eben den Eremitismus lieben. Man schreibt und liest, hofft auf Sonne und Sommer, inmitten wohltuender Anonymität. Björn HayerMMünster Alle kennen Münster. Trifft man drei Leute, sagt die erste, dass sie da studiert hat (➝ Trier), der zweite, dass er immer den Tatort guckt, und die dritte weiß, dass es schon mal die schönste Stadt Deutschlands und die lebenswerteste der Welt war. Jedenfalls, schreibt der Soziologe Lukas Haffert, hat Münster die urbansten Viertel der Bundesrepublik. Das heißt, dass man hier alles zu Fuß erreicht, was das bürgerlich-grüne Herz begehrt: Szenekneipen, Unverpacktläden, Theater und Programmkinos reihen sich entlang der Fahrradpromenade, die die Altbaukieze miteinander verbindet. Münster hat einen CDU-Oberbürgermeister und eine Ratskoalition aus Grünen, SPD und Volt, und wenn die AfD einen Jahresempfang im Rathaus macht – was man nicht verhindern kann –, dann hängen die Kaufleute vom Prinzipalmarkt riesige Europa-Fahnen raus und die Linken machen dazu laute Musik. Münster ist eine friedliche Friedensstadt.J örg Phil FriedrichOOffenbach Kennen Sie Grünwald? Diese Reichen-Enklave bei München. Was da besonders auffällt? Dass die, die am meisten haben, am wenigsten geben wollen. Hohe Mauern, Kameras und besorgte Blicke, wenn man durch die Straßen geht statt im SUV zu fahren. Ganz anders Offenbach am Main. Diese Stadt neben Frankfurt am Main (➝ Wiesbaden) hat sich zu einer pulsierenden, hippen Szene-Stadt entwickelt. Hier erlebt man Gastfreundschaft. Man bekommt Tee gereicht und wird nicht ausgestoßen, nur weil man fremd ist. Denn hier waren es die meisten mal. Man lernt, miteinander zu leben statt gegeneinander, man lernt, dass die Welt mehr ist als nur der eigene Blickwinkel. In Offenbach erlebt man kulturelle Vielfalt!Wie miefig deutsche Heimat früher war, lesen Sie derweil in Andreas Maiers neuem Roman Die Heimat. Er seziert und analysiert schonungslos ehrlich seine Herkunft aus der hessischen Wetterau, die früher alles andere war als kosmopolitisch. Jan C. BehmannPPirmasens Was für Pirmasens spricht? Natur! Natur! Nichts so Natur als Wasgau und Vogesen! Freilich auch die Distanz zur Hauptstadt. Auf sieben Stunden nach Plan kommen locker ein, zwei Stunden drauf, in Mannheim hakt’s immer. Früher gab’s noch einen Flieger nach Berlin, unweit der Stadt hob der ab. Alte Army Base, jetzt Industriegebiet. Aber hey, wer fliegt noch? An häufigen Berlinreisen gehindert zu sein, ist jedenfalls Gold wert. Die Nähe zu Lothringen Platin. Ein Steinwurf ist’s über die Grenze, die keine mehr ist, trotzdem bist du gleich woanders. Und dass der Blick von einem der sieben Hügel, auf denen das Rom der Pfalz erbaut ist, mehr einfängt als Häuser und Straßen, ist ein echtes Vademekum gegen jede Klaustrophobie. Mladen GladićRRecklinghausen Kürzlich war der Schriftsteller und Musiker Hendrik Otremba in der Stadtbücherei zu Gast, um seinen Roman Benito vorzustellen. Früher war hier doch C & A, bemerkte der Autor sichtlich beeindruckt. Aber wohl nicht genug, um von Berlin wieder in seine Heimatstadt zu ziehen. Es hat ihn auch niemand danach gefragt. Der Lokalpatriotismus kommt hier verschämt daher. Noch immer staunt man über den Schauspieler Martin Brambach, der nicht müde wird, die Lebensqualität seiner Wahlheimat im nördlichen Ruhrgebiet zu preisen. Berlinmüde finden hier billigere Wohnungen und eine funktionierende Stadtreinigung. Und wer den Neuköllner Charme vermisst, fährt einfach in den Süden der Stadt, dem ein bisschen Gentrifizierung gut täte. Joachim FeldmannTTrier Wie weit es in frankophone Länder ist, das macht eine Stadt für mich attraktiv. Beispiel Trier, Luxemburg ist nah, ins französische Metz sind es zwei Stunden. Karl Marx wurde hier geboren, seit Längerem interessieren die Trierer sich sogar für seine Ideen.Es gibt eine Uni, eine Fußgängerzone. Wem Online-Shopping doch sehr als vulgäre Sause gerät, kann in Trier das Flanieren wiederentdecken. Ein Café mit Blick auf die Porta Nigra? Klingt doch mondäner als grünes Cornern in der Berliner Friedrichstraße. Die Mosel schmiegt sich schön ran an die Stadt, man kann super wandern, Wein trinken sowieso (➝Wiesbaden). Einziger Haken: Das Trierer Migräne-Wetter. Katharina SchmitzWWiesbaden Berlin hat die Seen, Wiesbaden heiße Quellen, quasi eine natürliche Fußbodenheizung, weswegen es im Winter nachts draußen pittoresk aus den Kanaldeckeln dampft wie in einem coolen Schwarz-Weiß-Film. Wiesbaden prunkt mit intakten Gründerzeitstraßenzügen, ist bezaubernd gerahmt von Rhein und Taunus, liegt am Rande eines Weinfasses, dem Rheingau, wo feine weiße Weine herkommen. Wiesbaden hat den Neroberg, den Rabengrund, ein Theater, ein Casino (die Wiege von Dostojewskijs Spielsucht), einen wimmelnden Wochenmarkt (➝ Münster), ein lebendiges Literaturhaus, ein umtriebiges Museum, ein plüschiges Wiener Caféhaus, und mit der Eisdiele Rialto führt die Stadt mein privates inländisches Eisdielenranking an: Testsorten Vanille und Joghurt. Vieles, was man braucht, ist in Wiesbaden zwar nur ungefähr einmal da, aber das genügt, weil die Qualität stimmt. Ein Ausflug dorthin ist so tiefenentspannend wie Urlaub, aber man fährt ja schließlich auch in eine Kurstadt. Beate Tröger ZZerbst Zerbst gehört zu den kleineren Provinzstädten, kann aber auf eine Große Tochter der Stadt (Wer ist das wohl?) verweisen. Es gibt eine Städtepartnerschaft mit dem Ort ihres Wirkens, momentan vielleicht ein bisschen „ruhend“. Sonst macht Zerbst wenig von sich her. Das ist ja das Schöne, das Einfache, das Übersichtliche. Es wird – zwischen Fläming und Elbe – wenig aufgebauscht in der flachen, aber grünen anhaltinischen Landschaft. Ruhe gibt es, Kultur wird versprochen. Sogar ein Stadtseniorenfest ist da in Planung – sinnigerweise im Herbst. Ein Bahnhof, von dem aus regelmäßig Züge fahren, ist zu finden. Das ist in Berlin nicht immer so, nicht an allen Stationen. Also: Wenn es mir in Berlin zu bunt wird, setze ich – vielleicht – einen Spruch aus dem Kalauerkästchen um: „In des Lebens Herbst ziehts mich zunächst nach Zerbst.“ Magda Geisler
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