Vielleicht bald schon ein Treppenwitz der Berliner Geschichte: Franziska Giffey
Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images
Peng! Boing! Zong! – Nach der Wiederholungswahl in Berlin ist man versucht, auf die Comic-Sprache zurückzugreifen. Denn im Grunde zeigt das Wahlergebnis verblüffend genau, wie es um Berlin steht: Da kämpft jede gegen jeden. Fahrräder gegen Autos. Fußgänger gegen E-Bikes. Alte gegen Junge. Studierende gegen Angestellte. Außenbezirke gegen Zentrum. Prekariat gegen Klimaschutz. Handwerk gegen Studierte. Reich gegen Arm. Ellbogen raus und losgekoffert – Zack! Buff! Klong! Hauptsache, es tut weh.
Was ist nur aus der Stadt geworden? Stand sie nicht mal für progressive Veränderung? Für sich treu bleibend wandelnde Kieze? Für eine Trotzdem-gute-Laune? Hat sie resigniert, nachdem sie ihre selbst verschuldete Neoliberalisierung gr
e-Laune? Hat sie resigniert, nachdem sie ihre selbst verschuldete Neoliberalisierung grün anmalte und ein paar Sozial- und Kulturnischen unter Denkmalschutz stellte? Oder kaschiert sie nur geschickt die Erfolge, die sich unterm gentrifizierten Durchwursteln verbergen? Im Vergleich zu anderen Metropolen sind die Wohnungen hier preiswert und die Obdachlosen gut dran.Aber die Krankenhäuser sind auf Profit gepolt, die Bürgerämter haben ihren Namen nicht verdient, Kinder lernen nicht genug Mathe und ihre Schulen verrotten. Es gäbe genügend Themen, doch der Wiederholungswahlkampf schleppte sich inhaltsarm durch den berlingrauen Winter. Weder die 2,4 Millionen Wahlberechtigten noch die Kandidierenden der 33 antretenden Parteien schienen so richtig Lust darauf zu haben. „Über dieser Stadt ist kein Himmel“, klagte schon Kurt Tucholsky (im Sommer!, 1919!!), „ob überhaupt die Sonne scheint, ist fraglich; man sieht sie jedenfalls nur, wenn sie einen blendet, will man über den Damm gehen.“Sonne sah man am Wahltag tatsächlich keine, und „Damm“ sagt heute, außer vielleicht der CDU-Wahlhelfer Dieter Hallervorden, niemand mehr. Nur: Was früher eine grummelige Liebeserklärung war, zeugt heute von latentem Selbsthass. Das permanente Lästern findet seinen Ausdruck im Wahlergebnis: 28,2 Prozent der Wähler stimmten für die neue „Protestbewegung“ CDU (O-Ton von SPD-Chefin Saskia Esken). CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner macht daraus einen „klaren Regierungsauftrag“, getreu seinem Wahlkampfslogan „Berlin, wähl dich neu“. Von klar oder gar neu kann jedoch kaum die Rede sein, auch wenn es diesmal kaum Wahlpannen gab. Rein technisch funktionierte alles.In seltener Einigkeit haben die schwarmintelligenten Hauptstädter sich bei 63 Prozent Wahlbeteiligung in großer Zahl von den Wahllokalen ferngehalten – so konnten sie vor den Wahllokalen keine Schlangen bilden oder fehlende Stimmzettel reklamieren. Das ist echte Solidarität! Erster Wahlsieger ist eindeutig Landeswahlleiter Stephan Bröchler, obwohl er wegen fehlender Strukturen als „König ohne Land“ agiert (Selbstbeschreibung). Ähnlich hart könnte es den zweiten Gewinner treffen, denn mit wem will der Spandauer Christdemokrat Berlin regieren? Mit den 18,4-Prozent-Grünen, die sich ausschließlich für ihre Lastenrad-Klientel interessieren und prioritär die Einkaufsmeile Friedrichstraße für Autos sperren? Mit einer 18,4-Prozent-Franziska-Giffey, deren linkem SPD-Landesverband noch die dunklen Jahre der Großen Koalition auf Bundesebene in den Knochen stecken? Oder ist es egal, weil eh nichts davon funktioniert?Alles schimpft„Das Schlimmste“, befand ein taz-Kolumnist, sei „das Berliner Achselzucken“. Doch in Berlin zuckt nichts – alles schimpft. Vor allem über „die Politik“ – als stünde es nicht jedem frei, mitzugestalten. In Berlin sind ausschließlich und immer andere zuständig. Und schuld. An allem! Jeder wüsste haargenau, wie es besser geht – nur selbst anpacken tut keiner. In der Komfortzone von den Rängen aus „Buh!“ zu rufen, ist einfach zu gemütlich. Wer sich nach herabgefallenem Kaugummipapier bückt oder auch mal anderer Leute umgefallene Fahrräder wieder hinstellt, ist als Berliner wenig geeignet – es gälte als verantwortungslos: Wenn das alle täten, was wird dann aus der coolen Großstadtverwahrlosung? Sich für Dinge zuständig zu fühlen, ist in Berlin keine gute Idee – da könnte ja jeder kommen! Hier kommt man besser mit Meckern durch. Wie lange das noch gut gehen kann, ist die falsche Frage – es geht schon zu lange schlecht. Die Berliner gehen sich selbst so sehr auf die Nerven, dass sie gar nicht mehr wissen, wie gut sie es haben: Berlin boomt. Alle wollen hin. Nur die Berliner nicht. „Die Berliner sind unzufrieden“, räumt adrett die Noch-Bürgermeisterin ein – um bei der Ursachenforschung umgehend den Finger auf andere zu richten –, sie selbst sei ja erst 13 Monate im Amt. Doch sogar ihr ist das Lächeln im Dauerfeuer der Berlin-Zerstörer vergangen.Die FAZ attestierte der Stadt lustvoll „Lust am Untergang“. Die Zeit brauchte für ihre Ferndiagnose – „Ratlosigkeit“ – eine ganze Seite, dem Berliner hätte eine Kurznachricht gereicht: „Kein’ Bock!“, würde er tippen und erwarten, dass der Empfänger sich das Fehlende dazudenkt. Im Heruntermachen ihrer Heimat sind die Berliner Deutscher Meister. Die Lokalzeitungen wüssten ohne das lieb gewordene Hauptstadt-Geschimpfe gar nicht, wie sie ihre Seiten füllen sollen. Etwas Besseres als das Wahldesaster samt der einmaligen Wiederholungswahl am 12. Februar hätte ihnen gar nicht passieren können. Meckerer sind drauf angewiesen, dass Dinge nicht laufen.Das Schimpfen über die Stadt hat schlechte preußische Tradition. Vor dem Zweiten Weltkrieg galt sie wahlweise als „radikale Lasterhöhle“ oder „bolschewistisches Judennest“. Bis die Nazis aufräumten. Heute wird Totalversagen attestiert, die aggressive Silvester-Böllerei war manchen Beleg für einen „failed state“. „Berlin, du musst endlich funktionieren“, fordert Wegners CDU, ohne zu sagen, wie. Aber diese Stadt lässt sich nichts befehlen, schon gar nicht von einem, der nicht versteht, wie sie funktioniert; der „Berlin feiern“ und den „Senat feuern“ will – völlig überengagiert!Womöglich ist dem Publikum gar nicht so wichtig, wer unter ihm Bürgermaestro wird – Hauptsache, es bleibt genügend Anlass zur Unzufriedenheit. Jeder kocht hier sein eigenes Süppchen, in das er spucken kann, und nun scheint es, als hätte die Stadt sich kaputtgemeckert. Egal, welche Koalition sich zusammenrauft, sie wird sich raufen – und gegen die Stadt regieren. Der Einzige, der es noch nicht begriffen hat, ist Pascha-Experte Friedrich Merz. Der CDU-Chef schwärmt von „dieser wunderschönen Stadt“, deliriert gar einen „Ruck“ herbei. Parteifreundin Karin Prien hätte ihm erklären können, dass Berlin „kein Ponyhof“ ist. Durfte die Stadt unter Klaus Wowereit (SPD), arm gespart, wenigstens noch ein bisschen sexy sein, ist von solchem Charme 2023 nichts mehr übrig.Unanständige Demokraten?Viele Berliner Wahlberechtigte empfänden das personelle und inhaltliche Angebot der Parteien „als Zumutung“, heißt es im Tagesspiegel. Als wäre eine Wahl dasselbe wie ein Gang in den Supermarkt: Man geht rein, ekelt sich angesichts unappetitlichen Gemüses, und geht wieder raus. So wird der Bürger zum Polit-Kunden, der mit großer Geste das „Angebot“ ablehnt. Ein an die Warenwelt angepasstes Anspruchsdenken, das jedes Engagement diffamiert und sich ansonsten fein raushält. Wie die AfD, die „von links bis CDU Versager abstrafen“ will (und dafür mit 9,1 Prozent belohnt wird). Die FDP flog raus. Die Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Bettina Jarasch dagegen versuchen es mit Nichtssagen, wollen „Berlin mit neuer Kraft regieren“, und keiner versteht, was daran neu sein soll oder wohin die alte so schnell verpufft ist.Wegner beschwor vorsorglich einen „Wahl-Klau“, sollte es zu einem Bündnis der Verlierer kommen. Wer die Demokratie mit einem Kaufhaus verwechselt, der lässt sich halt auch eine Wahl stehlen. Berlin ist „Deutschlands Verbrechenshauptstadt“, klagt der CDU-Flyer, ohne zu erwähnen: Seit Jahren sinkt die Zahl der Straftaten. Sicherheit, angevölkelt von einer Debatte über „Integration“, war das Thema; die Springer-Blätter jubilieren, die alten Reflexe funktionieren. Überraschend zärtlich dagegen gendern die Christdemokraten: „Sonntag* wählen gehen!“ – den Tag des Herrn!Da die Mehrheit „demokratisch unanständig“ (soll heißen: irgendwie links) gewählt hat, wird Berlin sich, mit Tucholsky, im „Trott des täglichen Getues“ weiter durchcurrywurschteln. Aber eine anständige Vision für die Stadt wäre schon schön. Irgendwann einmal.
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