Robbie Ryan über die außergewöhnlichen Bilder in „Poor Things“: „Wunderschön!“
Interview Der irische Kameramann Robbie Ryan hat bereits bei „The Favourite“ mit Yorgos Lanthimos zusammengearbeitet. Er ist auch jetzt wieder für die brillant-schrägen Bilder des Oscar-Favoriten „Poor Things“ verantwortlich. Ein Gespräch
Drinks, Literatur, Sex, Feminismus, Sozialismus – alles dabei auf der Tour de Force Bella Baxters (Emma Stone)
Foto: Searchlight Pictures, Mark Ralston/AFP/Getty Images (unten)
Absurde Welten zu erfinden, war dem griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos seit jeher ein teuflisches Vergnügen, von seinem verstörenden Kammerspiel Dogtooth bis zuletzt zu seiner Royalsatire The Favourite. Nun schickt Lanthimos in Poor Things Emma Stone als weibliche Frankenstein-Kreatur auf eine groteske Reise durch ein viktorianisches Universum, von London über Lissabon nach Paris, bei der sie sich Schritt für Schritt zum unabhängigen Wesen entwickelt und in einer surrealen Tour de Force über sich und ihre Umwelt hinauswächst. Lanthimos’ Werk, nach dem Roman von Alasdair Gray, strotzt vor surrealen Einfällen und einer retrofuturistischen Ausstattung, eingefangen in den brillant-schrägen Bildern des irischen Kameramanns Robbie Ryan. Nic
n Kameramanns Robbie Ryan. Nicht zuletzt deshalb gilt Poor Things, im September in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, auch bei den Oscars als Favorit – insbesondere in der Kategorie beste Kamera. Enthusiastisch erzählt der 54-jährige Ryan von seiner Arbeit mit Lanthimos und einem kleinen Berliner Filmlabor, ohne das gar nichts gelaufen wäre.der Freitag: Mr Ryan, „Poor Things“ ist Ihr zweiter Film mit Yorgos Lanthimos. Inwieweit hat sich Ihre Zusammenarbeit seit „The Favourite“ verändert?Robbie Ryan: The Favourite wollte ich zunächst gar nicht machen. Noch ein verdammtes Biopic über die Königsfamilie? Nein, danke. Zum Glück ist Yorgos sehr überzeugend und ließ nicht locker. Als ich dann anfing, war mir schnell klar: Oh ja, das ist interessant! Die erste Zeit war vor allem davon geprägt, sein System kennenzulernen. Das machte es diesmal leichter: zu wissen, was er mag und was nicht. Das gab mir Sicherheit und ich konnte mich bei Poor Things mehr einbringen. Aber natürlich ist es auch ein viel größeres Universum, das wir hier erschaffen, eine Vielzahl an Sets, ein Kreuzfahrtschiff, Städte wie Paris und Lissabon, die wir im Studio bauten. Ich hatte noch nie zuvor einen Film komplett im Studio gedreht. Ein riesiger Unterschied für mich war dabei das Licht. Bei The Favourite gab es im Grunde nur natürliche Lichtquellen. Hier aber mussten wir riesige Welten beleuchten, um sie wie Außenschauplätze erscheinen zu lassen. Wir haben also die Stadt mit einem Himmel gebaut und so ausgeleuchtet, dass es wie echtes Tageslicht aussah, was gar nicht so einfach ist.„Poor Things“ ist ein visuell sehr opulenter Film, nicht nur die Kulissen und das Produktionsdesign, auch die Kostüme. Sind Sie bei anderen Regisseuren ebenfalls so früh involviert?Die Vorbereitungen waren hier besonders lang: zwölf Wochen. So viel mache ich sonst nie. Aber Yorgos bestand darauf. Und es war beeindruckend, wie sich die Ausstattung immer weiterentwickelte, ständig kamen neue Ideen dazu, bis kurz vor Drehstart. Wir haben gemeinsam versucht, so viel wie möglich aus einem kleinen Budget herauszuholen.War der finanzielle Spielraum denn so eng?Nun ja, relativ gesehen. Für eine Produktion dieser Größenordnung klingt es eigentlich nach einem ordentlichen Budget, aber es war nicht viel für das, was wir erreichen wollten. Wir haben allein fünf verschiedene Städte gebaut. Ich fühlte mich ein bisschen fehl am Platz, weil ich sonst erst mit dem ersten Drehtag loslege. Aber es war toll, mit Yorgos das auszutüfteln, er fragte mich oft nach meiner Einschätzung und meinem Rat.Gedreht haben Sie nicht digital, sondern auf Zelluloid. Warum?Weil Yorgos der festen Überzeugung ist, dass es nichts Besseres als Film gibt. Und ich kann das persönlich bestätigen. Wenn man auf Film drehen kann, egal ob auf 16 oder 35 Millimeter, oder in diesem Fall mit VistaVision, gibt das den Bildern eine Wertigkeit, die man mit Digital nie erreicht. Mit digitalen Formaten muss man in der Postproduktion sehr viel rumdoktern, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Und dabei geht immer etwas verloren. Das Tolle am Film ist, dass man ihn aufnimmt, dann wird er entwickelt und erst am nächsten Tag sieht man das Ergebnis. Bis dahin hat man sich schon mit etwas anderem beschäftigt. Im Gegensatz dazu sieht man bei digitalen Medien sofort, was rauskommt, macht immer noch einen Take, findet kein Ende. Das hat auch etwas Psychologisches. Ich mag aber gerade dieses Abschließende beim Drehen mit Zelluloid.Sie haben dabei ein spezielles Filmmaterial verwendet, Ektachrome 16mm. Was hat es damit auf sich?Wir wollten den ersten Teil des Films in Schwarz-Weiß drehen und Yorgos wollte unbedingt etwas Neues ausprobieren. Wir kamen dann auf Ektachrome von Kodak, das der ungarische Kameramann Marcell Rév für die Serie Euphoria verwendet hatte. Aber er hatte kein richtiges Labor, um dieses Material zu entwickeln, weil es so ungewöhnlich ist. Da hat Kodak ein Material namens Ektachrome hergestellt und es gibt weltweit niemanden, der das verarbeiten kann! Was zum Teufel haben die sich dabei gedacht? Ich verstehe das nicht. Wir fanden dann zum Glück eins in Berlin.Tatsächlich?Ja, ein Labor namens Andec Cinegrell in Neukölln. Sie waren die Einzigen, die dazu in der Lage waren, dieses Filmmaterial richtig zu entwickeln. Und sie haben wirklich gute Arbeit geleistet, aber die Produzenten wurden ein bisschen nervös, weil sie ein relativ kleines Unternehmen und nicht darauf eingestellt waren, auf einen Schlag 20.000 Fuß Film reinzubekommen. Aber es hat dann alles geklappt und das Ergebnis war wunderschön. Ich hoffe, wir werden wieder mit ihnen arbeiten.Als Kameras wiederum haben Sie auf ein Format gesetzt, das in den 50ern bei Filmen wie „Vertigo“ und „Krieg und Frieden“ eingesetzt wurde.Stimmt, wir haben mit VistaVision-Kameras experimentiert, deren Tonspur sehr verrauscht ist, also konnten wir sie nur in wenigen Szenen verwenden.Das Prinzip müssen Sie uns erklären, bitte.Bei VistaVision läuft der Film nicht vertikal durch, sondern horizontal, sodass man die doppelte Bildfläche des Negativs wie bei einem üblichen 35mm-Film erhält. Es sieht umwerfend aus. Yorgos wollte zunächst alle Rückblenden in Schwarz-Weiß machen. Aber ich finde das furchtbar, so macht es doch jeder. Ich schlug stattdessen vor, den Film in Schwarz-Weiß zu beginnen und dann in Farbe überzugehen. Emmas ganze Geschichte ist am Anfang monochrom, und dann taucht sie in dieses wilde Leben ein und das Bild erblüht in allen Farben. Ein bisschen wie Dorothy in Der Zauberer von Oz.Sie arbeiten diesmal auch viel mit Zooms, ein lange verpöntes Stilmittel im Film. In „Poor Tings“ sieht man davon reichlich, wenn die Kamera etwa von einer Halbtotale einer Figur zur Nahaufnahme eines Gesichts heranzoomt.Danke! Sie sind der Erste, dem das aufgefallen ist! Yorgos stellt in jedem Film eine neue Bildsprache vor. Bei The Favourite war es das Weitwinkelobjektiv, der Film ist geprägt von diesen verzerrten Bildern, die gut zu dieser Geschichte einer Frau passen, die sich in ihrem Palast gefangen fühlt. Und hier wollte er diese extremen Zoom-Aufnahmen haben, zusammen mit einem Weitwinkelobjektiv und einem Porträtobjektiv. Wenn man damit filmt, entsteht so ein wunderbarer Abfall an den Rändern, eine Art Schatten, wie bei Fotografien aus der viktorianischen Zeit. Mit einem unscharfen Hintergrund und einem seltsamen Fokus im Vordergrund. Wunderschön!Wie herausfordernd ist es, Digitaleffekte in Ihre Arbeit als Bildgestalter einzubinden?Ich finde, wie Yorgos es macht, ist es wirklich, wirklich gut, denn er weiß ganz genau, was er will. Er hatte klare Vorstellungen, von den mutierten Tieren etwa, diesen Mischwesen wie dem Huhn mit dem Schweinskopf oder der Ente mit dem Hundehaupt. Die Szene haben wir erst mit dem Mops gedreht, dann mit der laufenden Ente – und fertig. Die CGI-Leute mussten dann schauen, wie sie das digital zusammengeklebt bekommen. Das war ein sehr kniffliges Stück Spezialeffekte, sie hassten die Art und Weise, wie wir es gedreht haben. Aber Yorgos meinte nur: „Ich bin mir sicher, dass ihr das hinbekommt. Ihr könnt doch zaubern, also macht mal.“ Und so hat er durchgesetzt, dass sich die FX-Spezialisten an seine Art zu filmen anpassen mussten. Und wenn es jetzt am Ende komisch aussieht, passt es trotzdem fabelhaft zum Rest des Films.Eingebetteter MedieninhaltPlaceholder authorbio-1Placeholder infobox-1
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