Als die Arbeit an dem Sammelband Judenhass Underground begann, dachte sicherlich keiner der Beteiligten, dass die Relevanz des Buches der ganzen Welt so brutal vor Augen geführt werden würde. Doch wer nachvollziehen möchte, warum zum Beispiel kaum Stimmen aus der deutschen und internationalen Clubszene zu vernehmen sind, wenn ein Musikfestival in der Wüste in Israel angegriffen wird und über 200 Menschen ermordet werden, sich aber zahlreiche Stimmen erheben, um Israel zu dämonisieren, findet in diesem Buch Antworten. Es erschien im schlimmsten Augenblick und somit genau zur richtigen Zeit.
Judenhass Underground stellt für die Herausgeber Nicholas Potter und Stefan Lauer „vor allem eine Selbstkritik“ dar, wie Lauer zu Beginn schreibt. Die Autor*
Beginn schreibt. Die Autor*innen befassen sich mit Subkulturen, denen sie sich selbst zugehörig fühlen. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: auf einige theoretische Einführungen zu Antisemitismus und falsch verstandener Kapitalismuskritik, folgen Beispiele aus der Praxis, von der Documenta 15 bis zur Hardcoreszene. Den Abschluss bilden Gespräche zwischen jüdischen Linken und nicht-jüdischen Linken, die sich in den gleichen Subkulturen bewegen.Der Theorieteil erinnert zwar eher an eine historische Heranführung an die Erscheinungsformen des Antisemitismus, als an eine Analyse im engen Sinne, doch um eine Grundlage für das Verständnis aktuell auftretender Formen des Antisemitismus zu schaffen, ist er gut geeignet.Antisemitismus in Subkulturen: Roter Faden BDSNikolas Lelle und Tom Uhlig stellen das Verhältnis von Israelhass und Antisemitismus heraus und zeigen, wie häufig vermeintliche Israelkritik schlicht Antisemitismus ist – etwa, wenn Kritik am Staat Israel mit der angeblichen Übermacht der Juden begründet wird oder sich diese „Kritik“ in einem Angriff auf Synagogen äußert, wie jüngst bei einem versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin-Mitte.Einen Blick auf ein spezifisch linkes Anliegen wirft Riv Elinson in der Auseinandersetzung mit der Theorie der Intersektionalität. Diese blendet Diskriminierung von Juden und Jüdinnen meist aus, weil sie sie als weiß und damit privilegiert wahrnimmt. Auch die Reduktion von Antisemitismus auf eine Form des Rassismus blendet dessen Spezifika aus. So kann nicht verstanden werden, warum Antisemitismus gerade in Verschwörungsideologien eine große Rolle spielt, und Juden und Jüdinnen als übermächtig und damit vernichtungswürdig konstruiert werden.Wer über progressive Subkulturen spricht, kommt nicht umhin, über die BDS-Bewegung zu sprechen, die einen umfassenden Boykott Israels sowie Investitionsabzug und Sanktionen fordert. Wie ein roter Faden zieht sich BDS durch die im Buch behandelten Subkulturen, wie beispielsweise in den Beiträgen zur Klimabewegung, dem Kulturbetrieb oder auch die queere Community klar wird. In einem separaten Beitrag blickt Stefan Lauer auf Ideologie und Arbeitsweise, dieser Bewegung, die regelmäßig Künstler*innen unter Druck setzt, sich zum Thema Nahostkonflikt zu positionieren, beziehungsweise eine israelfeindliche Position einzunehmen.Linke Position als ein Gefühl von WiderstandDer praktische Teil schafft einen Überblick über Szenen, in denen progressive politische Einstellungen und vermeintliches Kritik gegen ‚die da oben‘, sich immer wieder auch als antisemitische Chiffre und kaschierte ‚Israelkritik‘ offenbaren. Dabei wird der historische Kontext der Entstehung des jüdischen Staates ausgeblendet, wie Anastasia Tikhomirova in ihrem Beitrag zu antirassistischen und antiimperalistischen Gruppen anschaulich darlegt.Leider kommt es mitunter zu Ungenauigkeiten, die in der angespannten Lage eher nicht nur Versachlichung der Diskussion beitragen dürften. So führt Lilly Wolter im Beitrag zum Antisemitismus als Beispiele für Antisemitismus Songausschnitte des Hamburger Rappers Disarstar an, die zwar eindeutig antisemitische Elemente in sich tragen – allerdings hat sich Disarstar schon vor einiger Zeit von diesen Zeilen distanziert. Dies findet in dem ansonsten sehr gelungenen Beitrag bedauerlicherweise keine Erwähnung.Besonders gelungen ist der Gesprächsteil, da hier viel Platz für Ambivalenzen, Zweifel und Austausch ist. In einem Gespräch mit der deutsch-iranischen Journalistin Shahrzad Eden Osterer kommt Luisa Neubauer auch auf die internationale Klimabewegung zu sprechen und verdeutlicht die Absurdität, die der Zwang zur Positionierung zum Nahostkonflikt zum Teil einnimmt. Sie berichtet etwa, dass 13- bis 16-Jährige, die sich klimapolitisch engagieren wollen, schon mit dem komplexen Thema des „Nahostkonflikts“ konfrontiert werden. Autor*in Hengameh Yaghoobifarah bringt den psychologischen Mechanismus des deutschen linken Antizionismus im Gespräch mit Rosa Jellinek präzise auf den Punkt: „Sowohl weiße als auch nichtweiße Deutsche haben, wenn sie sich aus einer linken Position heraus antizionistisch positionieren, ein Gefühl von Widerstand gegen deutsche Dominanzgesellschaft.“