Pogrome damals und heute: Bald Juden auf dem Mars?
Antisemitismus Unsere Autorin Marina Frenk fühlt sich nicht sehr jüdisch, aber 85 Jahre nach der Reichspogromnacht, gut einen Monat nach dem Überfall der Hamas auf Israel und angesichts wachsenden Antisemitismus, überlegt sie, was ihr noch droht
Die Atmosphäre auf dem Mars ist schon informiert, dass eventuell bald Juden kommen, und hat nicht widersprochen – bisher
Montage: der Freitag; Fotos: Baac3nes/Getty Images, snpolus/iStock
Mit bitterer Neugier frage ich mich: Was wird wohl passieren am Donnerstag, den 9. November 2023, 85 Jahre nach der Reichspogromnacht und gut einen Monat nach dem Pogrom der Hamas im Süden Israels? Werden vielleicht bei Nacht und Nebel sämtliche Stolpersteine Berlins mit schwarzem Graffiti übersprüht, oder mit Fäkalien beschmiert? Oder werde ich morgens, wie immer in Eile, einen Davidstern an meiner Haustür übersehen, ihn erst am frühen Abend entdecken – „Guck mal, Mama, da hat jemand ein Sternchen an unsere Tür gemalt!“ – und auf diesen naiven Hinweis meines Sohnes hin vor Überraschung die Treppe hinunterfallen?
Werden alle Veranstaltungen in jüdischen Gemeinderäumen abgesagt, selbst die, für die neutr
gemalt!“ – und auf diesen naiven Hinweis meines Sohnes hin vor Überraschung die Treppe hinunterfallen?Werden alle Veranstaltungen in jüdischen Gemeinderäumen abgesagt, selbst die, für die neutrale Räume angemietet wurden, da auch ein verstärktes Sicherheitsaufgebot keine reale innere Sicherheit bieten kann in diesem Jahr?Wäre an diesem Tag ein Klezmer-Jam im Oblomov in Neukölln möglich, der dort seit zehn Jahren regelmäßig mehrmals im Jahr stattfindet, oder wäre die Wahrscheinlichkeit eines Pogroms zu groß?Wird das Gorki-Theater, wo ich viel arbeite, nach seinem öffentlichen Statement, das sich eher zu als gegen Israel bekannt hat, aus einem unbekannten Flugobjekt mit einer Tonne Eiern beworfen werden, sodass Ströme ekligen Eigelbs bis zur Friedrichstraße hinunterfließen und Touristen, Manager, Hipster und deutsche Politiker auf dem Weg zu kultureller Erleuchtung oder dem Bundestag darauf ausrutschen?9. November: Was würde ein Attentäter heute rufen?Oder wird am 9. November die U5 zwischen Brandenburger Tor und Friedrichshain, in der ich mich gerade auf dem Nachhauseweg von der Schule meines Sohnes befinde, in die Luft gejagt? Was wird wer dabei rufen? Wird es ein rabiates deutsches „Heil Hitler“ aus dem Mund eines stimmbrüchigen jugendlichen Skins sein? Oder ein knirschendes nasales „Allahu Akbar“ aus dem Mund eines ebenfalls stimmbrüchigen Jugendlichen mit einer Kufiya auf dem Kopf? Oder vielleicht ein pseudo-punkiges „From the river to …“ aus dem Mund einer jungen Frau mit Thunberg-T-Shirt?Kurzum, werde ich zum ersten Mal in meinem Leben in Deutschland eine derart reale Lebensgefahr verspüren, dass dieses Gefühl einen History-Flashback-artigen Nervenkitzel verursachen wird, der mein Leben in ein weiteres Auswanderungs-Exil-Flucht-Abenteuer-Szenario in die USA oder nach Australien verwandeln wird?Wohin sonst, weiß ich nicht, es gibt nicht mehr viele Möglichkeiten, wenn Europa als Lebensraum für Juden Schritt für Schritt nicht mehr infrage kommt. Russland ist ausgeschlossen, Putins Beziehung zur Hamas ist mehr als fragwürdig und in Anbetracht der jahrhundertealten russischen Pogrom-Traditionen befürchte ich, dass noch zu viele Beispiele, wie so eine Aktion ablaufen kann, in den transgenerationalen Traumata-Organen der Bevölkerung abgespeichert sind – siehe Dagestan.Emigration: Kanada ist raus, Südamerika auchIn Kanada soll ebenfalls antisemitischer Aufschwung herrschen. Ich frage meinen kanadischen Freund Jonathan, warum eigentlich? „Es ist dasselbe alte Zeug, wirklich. Die Juden für alles verantwortlich machen. Sie kontrollieren die Medien, die Banken, die Regierung und so weiter …“Südamerika hat genug andere Probleme, der Nordpol ist mir zu kalt, und was den Mars angeht, so berichtet meine Space-Engineer-Freundin Anna, die Raketenteile konstruiert, dass die Lebensbedingungen dort noch nicht ganz so weit seien. Aber die Atmosphäre auf dem Mars ist schon informiert, dass eventuell bald Juden kommen, und hat nicht widersprochen – bisher.Ich übertreibe natürlich (oder?). Und dennoch habe ich mir noch nie zuvor ernsthaft überlegt, noch einmal auszuwandern, mit einem von der ersten Emigration gespeisten, nun noch tieferen Bewusstsein dessen, dass die „Krankheit“ Antisemitismus nicht heilbar ist, an der so viele Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Gesellschaftsschichten mit den konträrsten politischen Ansichten und Ambitionen leiden.Ich bekomme eine SMS von meinem siebzigjährigen Vater, der in einigen Tagen in seine verspätete Rente gehen wird: „Ich schlafe nachts nicht mehr. Mache mir Sorgen um euch (er meint seine Kinder und Enkel in Deutschland, sowie Dutzende Familienangehörige in Israel). Habe keine Idee, wohin wir gehen könnten, wenn es wieder so weit ist. Ich werde mich dann der israelischen Armee anschließen.“Antidepressiva könnten helfenSchade, denke ich mir, ich hätte ihm etwas Ruhe gewünscht zu Beginn seiner Pensionierung nach 25 Jahren ununterbrochener Arbeit in Deutschland, aber „Ruhe“ scheint dieser alte jüdische Mensch nach den Ereignissen der letzten Wochen nicht in seine Pläne einbezogen zu haben. „Antisemitismus wird genetisch weitervererbt. Überall“, schickt er dann noch eine Gute-Nacht-SMS hinterher. Schade, dass ich keine Antidepressiva nehme, die könnten bei dem Gefühl von geknickter Ohnmacht, das ich beim Lesen dieser Nachrichten verspüre, vielleicht helfen.Ich höre einige Radiosendungen, alles vermengt sich in meinem Kopf, Perspektiven, Zahlen, Meinungen … Ofer Waldman sagt, dass er verletzt ist vom überwiegenden Schweigen der europäischen Kulturinstitutionen – bin ich auch. Die Schriftstellerin Deborah Feldman betont, dass Menschenrechte ihren Sinn verlieren, wenn sie nicht für ausnahmslos alle Menschen gelten, auch für die Zivilbevölkerung in Gaza. In einer Sendung mit dem Titel Antisemitismus beantwortet eine Historikerin die Frage, warum eigentlich alle Juden von den Nationalsozialisten „vernichtet“ werden sollten, mit den Worten: „Tja, ich glaube, es gibt Grenzen des Verstehens, auch als Historikerin.“ Na, dann.Antisemitismus trifft besonders hart, wenn die Empfänger*in selbst gar nicht permanent über das eigene „Jüdisch sein“ (in welcher Ausführung auch immer) nachdenkt, sich selbst gar nicht ausschließlich darüber definiert, sich sogar aufgrund von geistiger Emanzipation oder schlichtweg individueller Entscheidung kaum noch als „jüdisch“ wahrnimmt – so wie ich, zum Beispiel. Ich vergesse das mit dem „Jüdisch Sein“ manchmal ganz bewusst, weil ich frei bin und meine Geschichte kenne, denn ich bin nicht meine Geschichte!Dennoch ist auch mir Antisemitismus an den unerwartetsten Stellen begegnet. Ich habe viel am Theater gearbeitet, und selbst an weltoffenen und politischen Häusern begegnete ich Künstlern, die mir in Form eines passiv-aggressiven Vorwurfs verklickerten, Israel sollte von der Landkarte verschwinden. Und ich dachte mir: „Huch, ich wusste gar nicht, dass ich Israel gegründet habe“, so persönlich fühlten sich diese Aussagen in meine Richtung an. Diese Künstler hatten unterschiedliche Nationalitäten, da waren Deutsch-Russen dabei, deutsche Juden, Israelis und Palästinenser.Antisemitismus ist ein trübes Gefühl, ein ausgebrannter GedankeSolche Begegnungen haben mir gezeigt, dass ein komplettes Vergessen meiner „Jüdischkeit“ niemals möglich sein wird, egal wie intelligent, emanzipiert oder schlichtweg gleichgültig ich mich diesem Umstand gegenüber verhalte: an den unerwartetsten Orten, von den diversesten Personen werde ich daran erinnert werden, dass sie wissen, „wer“ ich bin.Antisemitismus ist ein trübes Gefühl, ein schwüles Wetter, ein gekippter Geschmack, ein schmerzender Rücken, ein ausgebrannter Gedanke, eine Erinnerung an Chișinău 1903 (meine Heimatstadt 83 Jahre vor meiner Geburt, wer wissen möchte, warum, kann es googeln), ein andauernder Zweifel daran, dass Evolution oder Politik, dass Ethik, Wissenschaft, Philosophie und vielleicht sogar Medizin auch nur im Geringsten dazu beigetragen haben, dass der Mensch doch noch einmal wirklich human werden könnte.Antisemitismus ist die ewige Unsicherheit am Anfang und am Ende von allem, eine das Lebensglück relativierende Theorie, da die Geschichte schon immer und grundsätzlich das Gegenteil von Glück für ein dauerhaft friedliches bewusst jüdisches Leben bewiesen hat – unbewusst jüdisches Leben auch, da sich immer welche finden, die es einem bewusst machen. Viele der während der Shoa ermordeten Juden hatten sich in den Ländern, in denen sie lebten, so ausgiebig assimiliert, dass sie sich wunderten, von den Nazis überhaupt als solche bezeichnet zu werden.Antisemitismus ist Geschwindigkeit: Sei immer schneller mit dem Vorhersehen möglicher Gefahren, rieche das Schicksal, bevor es dich riecht, höre zu im Schlaf, sieh hin, auch wenn du blind bist, verlasse dich nicht auf Fakten, Gerüchte – und auch nicht auf die eigene Intuition, die irrt sich schließlich auch mal, und vergiss nicht, dass am Ende einfach das Gleiche noch mal passiert, nur anders. Wie genau dieses „Anders“ in der dir zugefallenen Epoche aussehen wird, wirst du noch früh genug erfahren.
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