Buchmesse-Fazit: Slavoj Žižek und Judith Butler in der Tradition deutscher Trümmerfrauen
Frankfurt Mit seiner umstrittenen Eröffnungsrede für das Gastland Slovenien hatte der Philosoph Slavoj Žižek das erste Wort, aber zum Glück nicht das letzte. Über die Frankfurter Buchmesse im Schatten des entsetzlichen Pogroms der Hamas
Slavoj Žižek hält die Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse 2023
Foto: Arne Dedert/picture alliance/dpa
Tikun Olam, die Reparatur der Welt – was nichtjüdische Politiker in Deutschland gerne in Sonntagsreden verwenden, um Jüdinnen und Juden zu beweisen, dass sie es mit der Judaistik mindestens genauso ernst meinen wie mit dem Kampf gegen Antisemitismus oder einer Brandmauer nach rechts, scheint wieder einmal zu passen. In der Kabbala leitet sich das Handlungsprinzip der Weltreparatur vom sogenannten „Bruch der Gefäße“ ab – der schöpferischen Katastrophe an allem Anfang. Sich in dieser Welt aus Scherben zurechtzufinden, sie zu deuten, zusammenzufügen und wieder das Eine entstehen zu lassen, wird zur fortwährenden Aufgabe, die Welt zu einer besseren zu machen.
Man muss kein Judaist und auch kein Historiker sein, um zu ahnen, dass die Met
ahnen, dass die Metapher der Scherben in der jüdischen Geschichte, insbesondere hierzulande, keine unbelastete ist. Geht man aber nach den Worten derer, die sich das Ausdeuten und Aufstellen von Metaphern zum Beruf gemacht haben, derer also, die sich zehn Tage nach Ausbruch des Krieges in Israel auf dem Messegelände in Frankfurt zusammengefunden haben, scheint der Scherbenhaufen die passende Metapher für eine Gegenwart nach dem 7. Oktober zu sein – zumindest für Jüdinnen und Juden. Doch wie sieht Weltreparatur auf der Frankfurter Buchmesse aus?Slavoj Žižek sorgte mit seiner Eröffnungsrede für noch mehr ChaosGetreu dem kabbalistischen Schöpfungsmythos steht auch hier die Katastrophe am Anfang: Ganz, als ob der reale Scherbenhaufen an diesem Dienstag, zehn Tage nach dem Massaker der Hamas, nicht schon groß genug wäre, sorgt der als Vertreter des Gastlandes Slowenien eingeladene Philosoph Slavoj Žižek mit seiner Eröffnungsrede für noch mehr Chaos. Dabei geht es ihm, der so gern den performativ intervenierenden Elefanten im Porzellanladen gibt, doch eigentlich nur um sein Recht, den Scherbenhaufen der Gegenwart zu deuten.Schnell aber gerät sein Versuch, zusammenzukleben, was disparat erscheint, Sinn wiederherzustellen, zum raunenden Entwurf einer zionistischen Lobby, die ihn und andere mit Denkverboten und Cancel Culture davon abhalten wolle, den Kontext des antisemitischen Terrors zu sehen. Žižeks Kontext? Nicht die islamistische Ideologie einer Hamas befördere den Antisemitismus, sondern „Antisemitic Zionism“, der redselige Israel-Kritiker wie ihn zum Schweigen bringen will.Die anfängliche Verurteilung des Terrors entpuppt sich mit jedem angehängten „aber“ als zarter Firnis, der sich über einen wild zusammengekleisterten Scherbenhaufen legt. Tikun Olam, aber falsch. Oder: Passend machen, was nicht passt – das ist der Kitt, der verschwörerische Paranoiker, überzeugte Antisemiten und Kontext-Elefanten in Frankfurt verbindet.German Denkverbote?Neu ist der Verweis auf den Kontext und seine Analyse nicht: Judith Butler, die in der Vergangenheit Hamas und Hisbollah als zwar ungeliebten, aber zu akzeptierenden Teil einer globalen Linken verkannte, hatte in ihrem Essay The Compass of Mourning, dessen deutsche Übersetzung jüngst in dieser Zeitung zu lesen war, bereits etwas Ähnliches getan. Affekte im Angesicht der islamistischen Massaker an Jüdinnen und Juden sollten ihr zufolge nicht zu pauschaler Verurteilung, sondern zum Studium des Kontexts führen, was stets nur die historisch-politische Schuld der israelischen Regierung meint.Auch sie spricht von „contemporary German Denkverbot“. Das beträfe vor allem Denkerinnen wie sie. Denkerinnen also, die lieber über „the occupation“ sprechen, als wahrzunehmen, welcher historische Kontext bei Jüdinnen und Juden wachgerufen wird, wenn der Pogrom in Israel tobt und auch hier nachhallt. In der Halle der internationalen Aussteller prangen derweil die ersten Plakate: „Stop the Israeli Genocide!“Nach dem Auftritt der Scherbenschleuder Žižek heißt Tikun Olam andernorts auf dieser Buchmesse tatsächlich, Kontext ernst zu nehmen: den der jüdischen Erfahrung von Scherbenhaufen und Vernichtung. Eher spontan eingesetzte Moderationen oder kurzfristig anberaumte Veranstaltungen zum Krieg in Nahost sollen der „dynamischen Situation“ gerecht werden. Denn schon bevor Žižek zum „aber“ ausholte, drohten die Gefäße zu zerbrechen: Die Preisverleihung für die israelisch-palästinensische Autorin Adania Shibli wurde aufgrund von Antisemitismusvorwürfen an ihr Buch Eine Nebensache verschoben, die Meinung über diese Entscheidung: gespalten.Weniger Beachtung fand dagegen eine Initiative rund um den Verband Jüdischer Studierender Hessen und den iranischen Menschenrechtsverein Generation Azadi. Sie hatten im Vorfeld der Buchmesse gefordert, dass Ableger des iranischen Regimes in Deutschland, namentlich das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) und das Zentrum der Islamischen Kultur in Frankfurt (ZIK), nicht ausstellen dürfen. In Halle 3.1, Reihe B, konnte man dann zwar über den Zusammenhang von Goethe und Koran belehrt werden, aber eben nicht von IZH oder ZIK.Für manche war das ein weiteres Denkverbot, für andere Teil eines Sinneswandels, der mit dem 7. Oktober unumgänglich geworden ist. Unumgänglich scheint es auch, die Grundpfeiler des Gegenwartsdiskurses neu zu verlegen, nachdem die Erfahrung, die Schlagzeilen und die Bilder des Terrors der Hamas, aber auch die Schreckensbilder zerbombter Straßenzüge Gazas und die der antisemitischen Eskalation auf den Straßen unsere Hirne und Herzen in Scherben zerlegt haben. Deshalb Diskursbau. Und wo sonst, wenn nicht auf der 75. Fachmesse des Literatur-, Kultur- und Medienbetriebs?Schnell stellt man hier aber in Podiumsgesprächen wie „In Sorge um Israel“ des PEN Berlin fest: Der Scherbenhaufen ist ein Trümmerfeld, und noch dazu zu frisch, um es zu räumen. Zu frisch für vorschnelles Arrangieren und Verklären der Verbrechen, wie es Butler und Žižek in der Tradition deutscher Trümmerfrauen tun. Es ist vielmehr die Betonung des Bruchs, des notwendigen Wandels und des Einwirkens schmerzhafter Erfahrung, die von der Buchmesse hinausstrahlen und in den Diskurs einfließen sollte.„Die Linken in Israel fühlen sich von der Welt allein gelassen“Es sind Stimmen wie die des Direktors der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, der vor dem 7. Oktober 2023 nicht gerade als zionistischer Wortführer und Verteidiger Israels galt, die diesen Wandel besonders verdeutlichen. Als linker und an muslimisch-jüdischer Verständigung interessierter Israeli in Deutschland kommt Meron Mendel auf der Buchmesse gar nicht mehr raus aus dem Über Israel reden – so der Titel seines im März in einer ganz anderen Zeit erschienenen Buches. Ob in der Agora beim PEN Berlin oder am Stand der Süddeutschen Zeitung, er bezeugt seinen Sinneswandel. Mit Nachdruck fordert er, den 7. Oktober und damit die Namen der zum Schauplatz von Massakern gewordenen Kibbuzim im Süden Israels mit historischen Schreckensorten wie Srebrenica oder zuletzt Butscha zusammenzubringen.Man kann beobachten, wie Mendel diesen Sinneswandel auch ganz persönlich durchlebt. Folgt man Mendel und seinen Worten über die Buchmesse, so wird man hineingezogen in ein Gefühl der Enttäuschung. Ein Gefühl, das viele linke Jüdinnen und Juden in der Diaspora allzu gut kennen und das nun auch linke Israelis in all seiner Brutalität erfasst – oder, wie Meron Mendel sagt: „Die Linken in Israel fühlen sich von der Welt alleingelassen.“ Der 7. Oktober 2023 bedeutet für Jüdinnen und Juden vor allem eines: Universelle Solidarität, sie gilt nicht für uns. So erklärt sich auch Mendels zerknirschtes Gesicht, als er am Stand der linken Tageszeitung Junge Welt die Schlagzeile vom Donnerstag liest: „Massaker in Gaza“.Auch bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird erörtert, welche Folgen der Krieg im Geistesleben zeitigt. Vom 7. Oktober als „Geschichtszeichen“ spricht hier der Historiker Thomas Meyer und schlägt eine historiografische Brücke zur Scholz’schen Zeitenwende. Am gleichen Stand ist es zwei Tage später die israelische Autorin und frühere Friedensaktivistin Lizzie Doron. Sie kommt auf den langen Schatten der Geschichte zu sprechen. Es sind die Bilder des Holocausts, die Erinnerungen ihrer eigenen Mutter, die sich als langer Schatten der Vergangenheit über den der Gegenwart legt. Schatten, die länger werden, und Schatten, die nicht jeder sieht. In Frankfurt sind es viele, die die Schatten sehen. Vor allem die, für die Tikun Olam mehr heißt, als zwanghaft oder unbeholfen zu kleistern, wo Wunden noch klaffen.Lizzie Doron scherzt dazu: „In Israel, hoping for peace is an auto-immune sickness“ – weniger Frieden heißt, mehr darauf zu hoffen. Auch auf ihrem kurzen Lächeln lastet der Krieg. Ein Krieg, der an diesem Sonntagnachmittag in Frankfurt weit weg wirkt und doch auch hier so viel in Scherben legt. Der Kohlhammer Verlag übertitelt seine Auslage mit „Ist der Nahe Osten noch zu retten?“. Das Prinzip Hoffnung: Es repariert nicht, was in Scherben liegt. Es wirft nur Licht – Scherben und Schatten bleiben.
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