Aiwangers Flugblatt: Ein Lehrstück über die Funktionsweise von Antisemitismus

Meinung Ein wütender Schuljunge schreibt halt mal ein antisemitisches Hetzblatt – so klingt die Erklärung des Bruders Hubert Aiwangers. Seine Begründung zeigt den Mechanismus psychischer Entlastung, der dem modernen Antisemitismus innewohnt
Ausgabe 35/2023
Welche Rhetorik versteckt sich in diesen Akten? Bayerns stellvertretender Ministerpräsident Hubert Aiwanger
Welche Rhetorik versteckt sich in diesen Akten? Bayerns stellvertretender Ministerpräsident Hubert Aiwanger

Foto: Peter Kneffel/picture alliance/dpa

Man möchte eigentlich nicht wiedergeben, was auf dem Flugblatt steht, mit dem der Schüler Hubert Aiwanger 1987 erwischt wurde. Im Sinne der Berichterstattung muss man aber: Das Papier schrieb einen „Wettbewerb“ aus, dessen Gewinner „einen Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“ und dergleichen gewinnen konnten. Es ist an Abscheulichkeit kaum zu überbieten.

Ob Hubert Aiwanger das Flugblatt, das die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht hat, selbst verfasst hat oder sein Bruder Helmut, wird sich vermutlich nicht klären lassen. Jenseits der Frage, was jetzt politisch aus dem Skandal folgt, ist der Vorfall jedoch ein Lehrstück über die Funktionsweise von Antisemitismus. Denn auffällig ist die Begründung, die Helmut Aiwanger für das vermeintliche Verfassen angab: „Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen bin und aus meinem Kameradenkreis herausgerissen wurde.“ Nun sind Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation und Impulskontrolle bei jungen Männern nichts Ungewöhnliches – doch die Art und Weise, wie sich Frust und Wut Bahn brechen, ist kulturell codiert.

Und einer der am tiefsten sitzenden kulturellen Codes ist der Antisemitismus. Er hat eine psychische Entlastungsfunktion, ist eben nicht, wie der Rassismus, eine Ideologie der Überlegenheit, sondern eine der Unterlegenheit. Das Ausagieren eines antisemitischen Ressentiments stellt dabei die Schiefheilung eines individuellen Konflikts, der gesellschaftlich bedingt ist, dar. In der kapitalistischen Gesellschaft ist das Individuum ideologisch zum allmächtigen Subjekt verklärt, ökonomisch jedoch in seiner Notwendigkeit abgeschafft – aus dieser Spannung entwickelt sich eine kollektive Neurose, die sich im Individuum ausdrückt: Das gesellschaftlich bedingte eigene Versagen wird auf einen allmächtigen Gegner projiziert, das Bedürfnis nach Macht auf einen autoritären Führer. Der Nationalsozialismus war hiervon der historisch extreme Ausdruck: Die Nazis vernichteten die Juden nicht als Minderwertige, sondern als Endgegner.

Hubert Aiwanger ist ein gefährlicher Demagoge

Dass es hierbei nicht um eine (auch nur scheinbar) rationale Erklärung individueller Umstände, sondern um Triebabfuhr geht, zeigt das Aiwanger’sche Pamphlet exemplarisch. Schließlich schrieb Helmut Aiwanger nicht: Die Juden sind schuld, dass ich sitzengeblieben bin; die Triebabfuhr ging den Umweg über den bösen Scherz: der Witz, selbst eine Form der Entladung psychischer Energie, wurde antisemitisch aufgeladen.

Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, warum der ehemalige Lehrer, der mutmaßlich an der Bestrafung Aiwangers beteiligt war, das Flugblatt der SZ übergeben haben will: Er habe die Rede des Politikers bei einer Demonstration gegen das Gebäudeenergiegesetz in Erding gehört und sich zum Handeln genötigt gefühlt. Aiwanger hatte dort beispielsweise gefordert, die „schweigende große Mehrheit dieses Landes“ solle sich „die Demokratie wieder zurückholen“ – populistische Töne, die genau von jenem Geist der Ohnmachts- und Allmachtsfantasien getränkt sind, der den modernen Antisemitismus charakterisiert.

Die Rede von einer unterdrückten Mehrheit mit gesundem Menschenverstand, die von einer liberalen Minderheit unterdrückt wird, muss das Wort „Jude“ nicht nennen, um strukturell antisemitisch zu sein: Sie greift auf dieselben massenpsychologischen Mechanismen zurück. Aiwanger ist also unabhängig von der Schuldfrage in der Flugblatt-Sache ein gefährlicher Demagoge.

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Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

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