Israelischer Schriftsteller Yishai Sarid: „Die Hamas ist ein Friedenshindernis“
Im Gespräch Yishai Sarid ist einer der bekanntesten Schriftsteller Israels und ein scharfer Kritiker Benjamin Netanjahus. Doch angesichts der Wunden, die der 7. Oktober gerissen hat, sieht er keine andere Möglichkeit, als sich zu verteidigen
„Die orthodoxe Gemeinschaft übernimmt die schreckliche, aber sehr noble Aufgabe, die Toten zu identifizieren. Das wird von allen sehr geschätzt.“
Foto: Tamir Kalifa/NYT/Redux/laif
Seine Bücher handeln von den dunklen Seiten der israelischen Gesellschaft: Von den Schatten der Erinnerung in Monster, vom Umgang mit der zur Verteidigung notwendigen Gewalt in Siegerin, um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber Yishai Sarid ist Zionist – ein linker, was selten geworden ist. Sein Vater Jossi Sarid war Abgeordneter der Partei Meretz. Das Gespräch findet per Videoanruf statt.
der Freitag: Herr Sarid, in Ihren Büchern unternehmen Sie Erkundungen in die israelische Seele. Welchen Effekt hat der Angriff der Hamas vom 7. Oktober auf Israels Gesellschaft?
Yishai Sarid: Was passiert ist, ist unser schlimmster Albtraum. Wir waren wieder hilflos und konnten uns nicht schützen. Konnten unsere Kinder nicht schützen. Das ist eine große Verletzung der Seele
hlimmster Albtraum. Wir waren wieder hilflos und konnten uns nicht schützen. Konnten unsere Kinder nicht schützen. Das ist eine große Verletzung der Seele Israels. Die ganze Idee des jüdischen Staates basiert auf der Vorstellung, dass wir nicht wieder wehrlos sein werden. Und hier geschah es wieder. Auf die schrecklichste, demütigendste und blutrünstigste Art.Der Angriff auf die Kibbuzim ist auch ein Angriff auf das symbolische Fundament Israels: Sie waren die Keimzelle des Staates.Die meisten dieser Kibbuzim wurden vor der Gründung Israels im Jahr 1948 errichtet. Sie wurden von Sozialisten aufgebaut, wie dieses Land generell. Und bis heute leben dort sehr friedliebende Menschen – obwohl sie so viele Jahre unter der Bedrohung durch Raketen und Terror aus dem Gazastreifen lebten. Viele von ihnen sind Mitglieder von Friedensbewegungen, Menschen, die sich freiwillig gemeldet haben, um Kranke aus dem Gazastreifen in ihren Autos von der Grenze zu Krankenhäusern in Israel zu bringen – und viele haben an den Protesten gegen die Regierung teilgenommen. Und diese Menschen wurden mit ihren Familien, mit Kindern, alten Menschen getötet. Das grenzt an Genozid.Die Hamas verfolgt eine genozidale Politik.Ja, das hat nichts mit einer Befreiungsbewegung zu tun. Es zeigt, dass diese Leute keinen Kompromiss, keine Einigung mit Israel wollen. Wissen Sie, ich bin ein Linker, Sohn eines Linken. Mein verstorbener Vater Jossi hat sich sein ganzes Leben lang für die Versöhnung und den Frieden mit den Palästinensern eingesetzt. Aber gleichzeitig sind wir Israelis, wir sind nicht selbstmörderisch.Auf der anderen Seite sagen viele, der Angriff sei das Resultat der Politik Israels gegenüber den Palästinensern.Ich habe viel Kritik an den Siedlungen, an der Besatzung, an unserem Umgang mit den Palästinensern. Aber nichts davon ist eine Entschuldigung für diesen Angriff. Und ich muss sagen, es ist nicht das erste Mal. Die Palästinenser vereiteln jeden Versuch, Frieden zu erreichen.Was meinen Sie?Wir haben das nach den Oslo-Abkommen in den 1990er-Jahren gesehen, als Israel unter der Regierung Jitzchak Rabins die PLO anerkannte, Jassir Arafat wieder willkommen hieß und zum ersten Mal tatsächlich eine palästinensische Regierung einsetzte. Die palästinensische Reaktion darauf, zumindest die Reaktion der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad, war eine Welle von Terroranschlägen, von Selbstmordattentaten in Bussen, Nachtclubs, Restaurants. Dasselbe geschah 2000 nach dem Camp-David-Treffen. Premierminister Ehud Barak bot an, fast zu den Grenzen von 1967 zurückzukehren. Und was wir als Antwort darauf bekamen, war die zweite Intifada. Viele Israelis starben. Es ist unsere Tragödie, aber es ist auch die Tragödie der Palästinenser, denn sie verursachen jedes Mal großes Leid für ihre Leute. Was wir jetzt in Gaza sehen, ist sehr bedauerlich. Aber diesmal sind sie selbst schuld, was kann man tun? Wir müssen uns verteidigen.Dazu kommt, dass Gaza seit 2005 nicht mehr besetzt ist.Der Gazastreifen steht seit 2005 unter palästinensischer Verwaltung. Seither gibt es dort keine jüdischen Siedlungen mehr. Und seit 2007 regiert dort die Hamas. Sie hatten die Gelegenheit, Gaza als Grundstein für einen zukünftigen palästinensischen Staat zu nutzen. Aber sie nutzten dieses erste autonome Gebiet als Grundlage für Angriffe gegen Israel.Die Auswirkungen auf die israelische Linke müssen verheerend sein, in der Vergangenheit hat der Terror die israelische Gesellschaft nach rechts getrieben.Israels Linke war bereits nach der zweiten Intifada tot. Die meisten Israelis haben jede Hoffnung auf einen Frieden mit den Palästinensern verloren. Und jetzt, wer soll den Palästinensern jetzt noch glauben? Das Vertrauen in die andere Seite ist komplett zerstört.Vor dem Angriff war das Hauptthema in Israel die Justizreform. Auch Sie haben an den Protesten dagegen teilgenommen. Die Zustimmung für Netanjahu ist nun im Keller. Hat sich nun wenigstens die Reform erledigt?Es kommt einem so lächerlich weit weg vor. Was Netanjahu viele Jahre lang getan hat, vor allem im letzten Jahr seit der Bildung dieser Regierung, war eine Schwächung Israels von innen heraus. Er hat die Grundlage der israelischen Gesellschaft und die israelische Regierungsform wirklich ruiniert. Wissen Sie, als Israel 1948 mitten im Unabhängigkeitskrieg gegründet wurde, war es nicht selbstverständlich oder natürlich, dass es eine Demokratie sein würde. Aber es ist eine sehr lebendige und gesunde Demokratie entstanden, mit einer unabhängigen Justiz, freien Wahlen und Bürgerrechten. Und all das trotz der permanenten Bedrohung und der Kriege. Netanjahu hat versucht, all das zu zerstören. Was wird nun in Zukunft sein? Ich weiß es nicht. Er wird bis zur letzten Minute an seiner Position festhalten. Aber irgendwann wird er fallen. Die Frage ist, was nach Netanjahu passieren wird, ob die Israelis zu einer Regierung zurückkehren, die vielleicht nicht links, aber wenigstens pragmatisch ist – oder ob es eine rechtsextreme Regierung sein wird.Placeholder infobox-1In einem Interview im April sagten Sie, Netanjahus Regierung versage in Fragen der nationalen Sicherheit. Ich vermute, selbst Sie haben nicht erwartet, dass so etwas passieren würde.Ich bin ein ehemaliger Nachrichtendienstoffizier der IDF. Aus dem, was ich in den Medien über die Vorgänge gelesen habe, konnte ich verstehen, dass Netanjahu damit Israels Feinde eingeladen hat, uns anzugreifen. Ich habe keine sentimentalen oder romantischen Vorstellungen von unseren Feinden. Ich weiß, was ihre Absichten sind. Sie haben diese korrupte, dumme und faule Regierung Israels verstanden und sich gesagt: Wir haben eine Gelegenheit.Hunderttausende wurden nun mobilisiert. Sie sind kein Reservist mehr, bringen Sie sich trotzdem ein?Ja, all die kleinen Dinge, die ich tun kann, tue ich. Es gibt eine große zivilgesellschaftliche Organisation gerade, die Armeeeinheiten und Zivilisten im Süden und Norden unterstützt. Ich habe in den letzten Wochen mehrmals Lebensmittel aus Tel Aviv in den Süden und in den Norden gebracht. Und die Bewohner des Kibbuz Be’eri, wo es mehr als 100 Tote gab, haben Schriftsteller gebeten, Trauerreden zu schreiben. Also schickten sie mir den Lebenslauf eines Paares, das ermordet wurde. Er war 74 und sie war 70. Ich kannte diese Leute nicht und saß vor dem Computer und fing an, um sie zu weinen. Sie waren sehr gute Menschen. Sehr großzügig, friedliebend. Ich muss es noch einmal sagen: Wir haben keine andere Wahl, als uns zu verteidigen. Auch wenn das Ergebnis eine große Tragödie ist.Ihr Buch „Siegerin“ handelt von einer Psychologin, die mit der Armee zusammenarbeitet. Was denken Sie, wenn Sie die Soldaten sehen, die nun in die Bodenoffensive gehen?Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nur hoffen, dass unsere Generäle wissen, was sie tun, dass die Geiseln befreit werden und dass wir nicht noch mehr Opfer zu beklagen haben werden. Unsere besten Leute kämpfen jetzt dort drüben, und ich hoffe, dass sie sicher zurückkehren werden. In Siegerin habe ich über die Schrecken des Nahkampfes und seine schrecklichen physischen und psychischen Schäden geschrieben. Es ist ein Albtraum, zu sehen, wie es wieder geschieht, aber diesmal hatten wir keine Wahl. Die Hamas ist ein Hindernis für den Frieden, ich bin sehr für die Beseitigung ihres Regimes im Gazastreifen und hoffe, dass wir danach eine politische Lösung unter Einbeziehung der Palästinensischen Autonomiebehörde erreichen können.Gibt es irgendeine Hoffnung, dass diese Ereignisse das Land vereinen könnten?Was wir jetzt in Israel sehen, zumindest kurzfristig, ist, dass die Menschen zusammenkommen. Wir sehen zum Beispiel, dass die orthodoxe Gemeinschaft die schreckliche, aber sehr noble Aufgabe übernimmt, die Toten zu identifizieren. Das wird von allen sehr geschätzt. Es gibt noch weitere Beispiele, aber die tiefen Spaltungen innerhalb der israelischen Gesellschaft werden nach dem Krieg nicht verschwinden. Die einzige Hoffnung auf eine Versöhnung ist eine neue Führung.Ihr Buch „Monster“ war auch eine Kritik an der Instrumentalisierung der Erinnerung an die Shoah in Israel. Spielt dieser Diskurs jetzt eine Rolle?Die Themen des Krieges und des Holocaust werden immer als Diskussions- und Vergleichspunkte verwendet. Aber dieses Mal ist es wirklich so, dass das Grauen so extrem ist, dass nicht einmal ich argumentieren kann, es sei aus dem Zusammenhang gerissen oder es sei Missbrauch der Erinnerung. Es ist kein Missbrauch der Erinnerung, es ist ein ehrlicher Umgang mit der Erinnerung.Gibt es in Israel Empathie für die zivilen Opfer in Gaza?Ich will ehrlich sein: Leider wollen die meisten Menschen derzeit nichts von den palästinensischen Opfern und von dem, was in Gaza passiert, hören. Ich bin nicht so. Das liegt nicht daran, dass ich besser bin als andere Menschen, aber mein Herz schlägt für jedes Kind, das in Gaza getötet wird. Als Siegerin erschien, haben mich viele gefragt, wie ich dazu komme, über eine Person zu schreiben, die Expertin für das Töten ist. Ich habe gesagt: Das ist ein Teil unseres Lebens hier. Abigail, die Protagonistin, sie will keinen Krieg, sie ist keine Extremistin. Aber wenn es darum geht, ob unsere Soldaten den Feind töten oder von ihm getötet werden, dann zieht sie es vor, dass unsere Soldaten sie, die Terroristen, töten. Und das ist auch meine Sicht der Dinge. Natürlich ist es schrecklich. Krieg ist schrecklich.Der Krieg beseitigt eine Menge Ambiguitäten. Die Literatur aber lebt von Ambiguitäten. Können Sie als Schriftsteller überhaupt noch arbeiten?Nein, ich arbeite im Moment nicht. Ich kann nicht. Man braucht eine gewisse Perspektive und einen gewissen Seelenfrieden, um zu schreiben. Meine Bücher befassen sich mit diesen Themen, mit den harten und blutenden Teilen unserer Psychologie und unserer Seele. Ich gebe uns keine Ausreden. Aber gleichzeitig schreibe ich von innen heraus und nicht als jemand, der von außen kommt und nur kritisiert. Ich schreibe aus einem tiefen Gefühl der Solidarität und der Verantwortung für das, was wir tun, im Guten wie im Schlechten.
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