Hamas-Terror gegen Juden: Ich erreiche ständig irgendjemanden nicht
Antisemitismus Die Hamas zieht nicht nur gegen Israel in den Krieg, sondern auch gegen die jüdische Community in der Diaspora. Stella Leder schreibt, wie sie in Berlin die Tage nach dem Pogrom in Israel erlebte
Sonntag: Demo am Brandenburger Tor. Verheulte Freunde, Kollegen, Bekannte
Videos aus What’s App: Hamas-Terroristen, die sich dabei filmen, wie sie mit Maschinengewehren in der Hand in einem Kibbuz von Tür zu Tür gehen. Menschen, um ihr Leben rennend, die eben noch auf einem Festival getanzt hatten. Am Anfang verstehe ich noch nicht, dass die Hamas nicht nur gegen Israel in den Krieg zieht, sondern auch gegen die Diaspora. Dass die jüdische Community überschwemmt wird mit Livestreams, Videos und Bildern, die viele ansehen, weil auf dem nächsten Bild schon jemand sein könnte, den man kennt.
„Was macht Peter Pan, sind Raketen nicht viel zu laut für Hunde?“, fragt das Kind. What’s App an unsere Freunde in Israel: „Wie geht es Peter Pan?“ Antwort: Ein Foto aus dem Sicherheitsraum, alle lächeln
#228;cheln, Peter Pan, der niedliche Hund unserer Freunde, liegt zusammengerollt auf einem Stuhl in der Mitte. Darunter die an das Kind gerichtete Nachricht: „Wir sind sicher! Und Peter Pan findet es gemütlich.“Anruf eines Künstlers, der an unserer Veranstaltungsreihe Reclaim Kunstfreiheit in Berlin beteiligt ist, die drei Tage später beginnen soll: Habt ihr das Sicherheitskonzept an die Situation angepasst? Die Veranstaltung: eine Reihe zu Antisemitismus im Kulturbetrieb des Instituts für Neue Soziale Plastik. Erdacht in den Monaten nach der Documenta. Auch um die Arbeiten jüdischer und antisemitismuskritischer Künstler*innen sichtbar zu machen, die die Probleme schon lange sehen. Wir rufen die Polizei an, und einen privaten Sicherheitsdienst. What’s App-Nachricht einer Freundin: Sie ist in der U-Bahn angepöbelt worden wegen ihres Davidsterns.„Israelkritik“: Ein Integrationstest speziell für JudenSonntag: Demo, meine verheulten Freunde, Kollegen, Bekannten. Auf der Sonnenallee wurden am Vortag zur Feier der Gewalt Süßigkeiten verteilt. Ein Freund schreibt: Ruangrupa, das Kurator*innen-Team der Documenta, hat ein Video der Feiern in Neukölln gelikt. Im Whats-App-Chat: Teenager-Mädchen, offensichtlich vergewaltigt, Blut läuft an ihren Beinen entlang. Vermisstenanzeigen: ein Handwerker, eine Erzieherin, Kinder, Babys.Wir hatten uns auf die Veranstaltungen gefreut. Ein angesehenes Kuratorenpaar war vorab zu einem unserer Kooperationspartner gegangen, um vor uns zu warnen; nicht einmal, zweimal. Wir würden Kunst zensieren, hatten sie gesagt. Es gebe keinen israelbezogenen Antisemitismus. Wer dies behaupte, verfolge eine rechte Agenda. Es ginge uns darum, „Israelkritik“ zu tabuisieren. Eine Kollegin und ich lachten darüber. Sie hatte ihren Job in einer angesehenen Kultureinrichtung aufgegeben, weil sie sich nicht weiter für Israel rechtfertigen wollte. Wie sie erleben viele Juden in künstlerischen Kontexten diesen Druck. Insbesondere in linken und linksliberalen Umgebungen werden sie von Kollegen befragt, wie sie zu Israel stehen, und wenn dann kein reflexartiges Bekenntnis zu dem folgt, was Mehrheitsdeutsche „Israelkritik“ nennen, ist man beim nächsten Mal schon nicht mehr dabei. Israelkritik ist das Eintrittsticket in die Mehrheitsgesellschaft, ein Integrationstest speziell für Juden.Das OktoberpogromIn diesen Tagen beginnt jedes Telefonat gleich: „Sind deine Lieben in Sicherheit?“ Manche beginnen haltlos zu weinen. Manche haben Familie, Freunde oder Kollegen verloren. Manche kannten Leute, die auf dem Festival waren, andere berichten von Angehörigen, die als Geiseln nach Gaza verschleppt wurden. Es sind Kinder in den Familien, die ihre Freunde verloren haben. Ich höre das Wort das erste Mal aus Israel: das Oktoberpogrom. Ein Foto der rennenden Menschen beim Festival auf Instagram, veröffentlicht von einem Kurator. Er schreibt anerkennend darüber: „Poetische Gerechtigkeit.“Eine Künstlerin ruft meine Kollegin an, deren Augen vom Weinen verquollenen sind. Sie sagt, sie rufe an, weil sie noch nicht mit Juden gesprochen habe und hören möchte, wie es ihnen in dieser Situation geht. Die israelische Regierung sehe sie aber trotz allem weiterhin kritisch. Meine Kollegin fängt wieder an zu weinen. Sie hat seit Tagen nicht geschlafen. Gestern kamen ihre Kinder früher nach Hause, sie sind in der Schule antisemitisch beschimpft worden.Die Nachricht, dass die Hamas gezielt Videos und Fotos veröffentlicht – als Teil des Terrors gegen Juden. Man soll mit den Kindern sprechen, damit sie sich die nicht ansehen. Zu spät. Warnungen – die Hamas ruft international zu Gewalt gegen jüdische Einrichtungen auf. Im deutschen Fernsehen wird vor einer Eskalation der Gewalt gewarnt. Es gibt Absagen für unsere Veranstaltungen: Die, die bei NGOs zu Antisemitismus arbeiten, können nicht kommen, haben keine Zeit. Die Welle an antisemitischen Vorfällen hat sie erfasst, sie müssen für die Betroffenen da sein. Ich erreiche ständig irgendjemanden nicht. Die Kinder kommen aus der Schule und sagen: „Mama, niemand mag Juden.“ Die Kinder unterhalten sich mit anderen Kindern. Die aus der jüdischen Schule überlegen, nicht zur Schule zu gehen am Freitag. Zu gefährlich. Ein Journalist fragt, was ich über Künstler denke, die den Terror als Widerstand feiern. Ob ich nachvollziehen könne, dass es schwer sei, die Situation zu differenzieren, schließlich sei ein Aufbegehren für einen Staat Palästina wichtig. Ich antworte mechanisch, das Ziel der Hamas sei kein Staat Palästina. Ich müsse nicht emotional werden, sagt er, er habe Verständnis. Nur eine Frage habe er noch wegen des Likes von Ruangrupa: Müsse man die deswegen wirklich gleich Antisemiten nennen?Die Kinder sollen auf keinen Fall Hebräisch sprechenWir sagen unsere Freitagsveranstaltung ab, viele wollen in die Synagoge.Die Kinder sollen keine Kopfhörer auf der Straße tragen, erklärt meine Freundin. Die sind soundisoliert. Zu gefährlich, was, wenn ein Angreifer von hinten kommt? Die Kinder sollen keine jüdischen Symbole tragen, sagt mein Kollege, und die Kinder sollen auf gar keinen Fall in der Öffentlichkeit Hebräisch sprechen. In den Anzeigen: Bilder und Geschichten von Busfahrern, Lehrern, Nachbarn. Schoa-Überlebenden. Immer wieder die Bilder des rothaarigen, sechs Monate alten Babys, das gekidnappt wurde. Ich denke an die Köpfe meiner Kinder, als sie Babys waren. Wie zart sie sind, wie sie duften. Das Foto des Kinderzimmers mit dem blutdurchtränkten Bettzeug. Der Veranstaltungsort ruft an: „Irgendjemand hat sich nicht gemeldet, was soll das?“ „Irgendjemand hat seine Familie verloren“, sage ich entschuldigend. Mensch am anderen Ende der Leitung: „Richten Sie bitte aus, er soll sich schnell melden, sonst verzögert sich wirklich alles hier.“Freitagabend, als wir aus der Synagoge kommen und ich dem Kind die Kippa vom Kopf nehme, fragt es: „Mama, was ist, wenn jetzt jemand kommt und auf uns schießt?“ Ich blicke in die Dunkelheit und sage: „Es kommt niemand.“
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