Coronalyrik – auch das noch! Was wird dabei wohl herauskommen? Larmoyante Selbstbespiegelung, die nichts als die bloße Aktualität zum Anker hat? Gewiss gibt es solcherlei dichterische Auswüchse. Aber es lassen sich auch Beispiele des Gelingens wie etwa Volker Brauns neuer Band Große Fuge finden. Statt ausschließlich die pandemische Tristesse zu beschreiben, rückt er die Pandemie pointiert, bisweilen äußerst provokativ in historische Kontexte – insbesondere immer dort, wo es um die Freiheit und das Verhältnis der/s Einzelnen zum Staat geht.
Am Anfang der Menschheitstragödie Corona steht jedoch die gigantische Einsamkeit: „Das ist deine Kunst jetzt / Allein zu sein, mit allen, und ernst / Auf dich gestellt wie der Stein.“ Er ruht in einer Zeit der „Totenstille“. Wir alle gleichen ferner einem „KÖRPER (…) BRÜCHIG WIE DRECKIGER / FEUCHTER SAND ZUSAMMENGESUNKEN AM TISCH / NUR NOCH IN FORM UND HALTUNG EINEM MEN- / SCHEN ÄHNLICH / So sehe ich die Menschheit treiben.“
Dass sich diese dystopischen Bilder und darüber hinaus die Einschränkungen der persönlichen Autonomie als keineswegs singulär erweisen, zeigen Brauns zugespitzte Retrospektiven. Vielleicht um kein Tor für Populismus und Quergedenke zu öffnen, stellen sie niemals einen direkten Bezug zur derzeitigen Pandemie her. So findet sich unter seinen Miniaturen etwa eine über Ulrike Meinhof, die man als LeserIn erst nach und nach mit der derzeitigen Debatte über die legitimen oder nicht legitimen Grundrechtseingriffe in Verbindung bringt. Noch weiter fällt der Gedankensprung in dem Text Kyborg aus, der im Spiel mit transhumanistischen Visionen von Mensch-Maschine-Konstellationen letzthin von der Freiheitsbegrenzung des Körpers berichtet. Wenn vom „Mauerstreifen“ und der „Reichsbahn mit dem Toten“ die Rede ist, wird selbst in Zeiten eines globalen Virus klar: Ungefährdet war unsere leibliche Existenz noch nie.
Durchaus ein wenig polemisch, all diese geschichtlich voneinander entlegenen Phänomene in einen Topf zu werfen – könnte man meinen! Doch wer Braun kennt, weiß, dass mehr hinter dieser Vermengungsstrategie steckt. Geboren 1939 in Dresden, wächst der spätere Dramatiker und Lyriker, dessen künstlerisch-politische Ambitionen in der Tradition Bertold Brechts stehen, in der DDR auf. Indem er sich mit dem Sozialismus sowohl kritisch als auch mitunter feierlich auseinandersetzte, erlangte er den Ruf eines differenziert denkenden Intellektuellen.
Mekong / Ausgelöffelt
Nun diverse, eher lose auf Corona verweisende Diskursversatzstücke zu verknüpfen, hat daher wohl einen Grund: Er will der Polyphonie Ausdruck verleihen. Nur so ergibt auch der klug gewählte Titel des Bandes Sinn. Allgemein steht die Fuge für einen Zwischenraum, die Musik definiert sie hingegen genauer als eine mehrstimmige Komposition, wobei ein Thema in verschiedenen Tonlagen variiert wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich die jetzige Pandemie nur als kleine Station in einer Geschichte über die Menschen und ihre Beziehungen zum Staat lesen. Aus der Vogelperspektive auf die Erde erscheint sie gar als Krise en miniature. Während die Gesellschaft um Ausgangssperren streitet (und jetzt über Öffnungsmodalitäten), breitet sich buchstäblich auch in diesem Gedichtband der Klimawandel aus. Die Gletscher schmelzen. Derweil mutet „der Mekong / Ausgelöffelt“ an und „findet sein Delta nicht mehr“.
Angesichts all dieser Erschütterungen bedient sich Braun einer Sprache, die an einen kurvigen, zahlreiche Bruchstücke mitreißenden Fluss mit harten Ufern erinnert. Dass die Sätze teils an der Versgrenze gebrochen werden und sich manchenteils jedweder grammatikalischen Ordnung entziehen, ist daher nur konsequent. Sicherlich verzichten die Texte auf eine zeitliche Distanz zur Pandemie. Stattdessen sind sie eruptiv und Ausweis einer authentischen Gegenwartsdiagnose: Die Welt liegt im Chaos. Dieses in Worten fassbar zu machen – genau darin besteht das Verdienst von Brauns poetischer Schlagkraft.
Info
Große Fuge Volker Braun Suhrkamp 2021, 53 S., 16 €
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