Gaza-Krieg auf TikTok: Gehirnwäsche für Kinder oder alte Panik in neuer Form?
Kommunikation Junge Menschen vertrauen sozialen Medien wie TikTok mehr als Politikern, wenn es um den Krieg zwischen Israel und Hamas geht. Ist das angesichts der Art von Politik, mit der sie aufgewachsen sind, ein Wunder?
Es ist einfach, auf TikTok zu schimpfen. Fragt sich nur, was all diese jungen Leute dorthin ge- und aus der vermeintlich vernünftigen Offline-Welt der Erwachsenen vertrieben hat.
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In einem berühmten Meme aus den Simpsons, das aus zwei Bildern besteht, fragt sich Schuldirektor Skinner: „Bin ich so weltfremd?“ „Nein“, versichert er sich selbst dann. „Es sind die Kinder, die falsch liegen.“ So ist es das Einfachste der Welt, Ansichten junger Menschen abzutun, wenn sie unsere eigenen Überzeugungen in Frage stellen. Noch einfacher ist selbiges, wenn diese Ansichten hauptsächlich auf einer Social-Media-Plattform geäußert werden, die man auch als gesetzlosen Raum voller Fehlinformationen und Clickbaiting abtun kann. Während also palästina- und gazabezogene Inhalte auf TikTok explodieren, gibt es die vorhersehbaren Reaktionen. Einige davon sind ziemlich krass.
Ein Republikaner nennt TikTok „digitale
kTok „digitales Fentanyl“Die republikanische Präsidentschaftskandidatin Nikki Haley forderte das Verbot von TikTok, als sie in einer Vorwahldebatte sagte, dass „für alle 30 Minuten, die jemand TikTok anschaut, er jeden Tag 17 Prozent antisemitischer und mehr für die Hamas eingenommen wird, wenn er das tut“. Zuletzt bezeichnete ein republikanischer Kongressabgeordneter, TikTok als „digitales Fentanyl“, das jungen Amerikanern eine gegen ihr Land und dessen Verbündete gerichtete Gehirnwäsche verpasse. Im Telegraph heißt es, die Bedrohung durch die App sei „real“.TikTok antwortete, dass der Algorithmus einfach so funktioniert. Es „ergreift nicht Partei“, sondern personalisiert lediglich den Newsfeed der Nutzer, um mehr Inhalte anzuzeigen wie die, mit denen sie interagieren. Und da Israel, Palästina und Gaza die Nachrichtenlage zu dominieren begannen, suchten und konsumierten die Nutzer natürlich mehr Inhalte zu diesen Themen. Das hat zu einer ganzen Flut von Videos geführt.Wichtigste App für die 18- bis 24-JährigenEinige sind informativ, wie z. B. „Gaza map breakdowns“, die Aufschlüsselungen von Karten des Gazastreifens. Andere sind schlecht recherchiert und Propaganda beider Seiten. Wieder andere unterstützen die eine oder die andere Seite in aggressiver Art und Weise. Innerhalb dieser Interaktionen gibt es Nuancen, wie z. B. die Aufschlüsselung der Unterstützung nach Standort und Altersprofil. Das Gesamtbild zeigt jedoch ein viel größeres Interesse an Inhalten, die Palästina unterstützen; die Aufrufe, die mit pro-palästinensischen Hashtags verbunden sind, übertreffen bei Weitem solche wie #istandwithisrael.Dies als „Gehirnwäsche“ abzutun, bedeutet nicht nur, Millionen junger Menschen abzuschreiben, sondern auch eine ganze Entwicklung der sozialen Medien, die nicht nur eine Modeerscheinung ist, sondern eine neue Art, Nachrichten und Informationen zu konsumieren. TikTok ist die am häufigsten heruntergeladene App der 18- bis 24-Jährigen, und die Art und Weise, wie sie die Plattform nutzen, um sich im Alltag zurechtzufinden, bedeutet, dass sie nicht mehr nur für virale Tanzvideos genutzt wird, sondern zunehmend als Suchmaschine wirkt, die die Nutzer anstelle von Google verwenden.TikTok und Instagram dienen zunehmend als Suchmaschine und machen Google KonkurrenzInstagram hat sich auf die gleiche Weise entwickelt. Prabhakar Raghavan, Senior Vice President von Google, räumte ein, dass diese Apps in Googles Territorium eindringen, und sagte, dass laut Googles eigenen Studien „fast 40 Prozent der jungen Leute, wenn sie nach einem Ort zum Mittagessen suchen, nicht zu Google Maps oder zur Google-Suche gehen. Sie gehen zu TikTok oder Instagram“.Wer diese Entwicklungen ignoriert, geht auch davon aus, dass alle Informationen auf TikTok schlechter, selbst erzeugter und höchst manipulativer Müll sind. Die Realität ist, dass Nachrichten über Gaza aus den Mainstream-Medien häufig gekürzt und auf TikTok weiterverbreitet werden, was ihre Relevanz und ihren Konsum erhöht. Zuletzt war der meistgesehene Clip auf dem TikTok-Konto von CNN, das mehr als drei Millionen Follower hat, ein Clip, in dem der Nachrichtensprecher Jake Tapper Mark Regev, den Chefberater von Benjamin Netanjahu, wegen der Tötung der Familie eines CNN-Mitarbeiters in Gaza durch israelische Luftangriffe zur Rede stellt. Auf dem TikTok-Konto des Guardian war das meistgesehene Video der vergangenen Wochen mit mehr als sieben Millionen Aufrufen das eines Demonstranten, der US-Außenminister Antony Blinken unterbricht und einen Waffenstillstand fordert.Die Art von moralischer Panik wegen TikTok ist wenig neu. Soziale Medien sind anfällig für Manipulationen, aber jüngere Menschen haben sich schon immer von den Konflikten angezogen gefühlt, die einem Totem gleich in Lager Gläubiger und Nichtgläubiger aufteilen; oft reagieren sie allergisch auf vermeintlich hegemoniale Regierungsinteressen und Überzeugungen älterer Generationen. Neu ist, dass es einfach mehr dieser jungen Menschen am selben Ort gibt, hunderte Millionen von ihnen, die Zugang zu anderen Menschen aus verschiedenen Ländern haben. Sie können sich gegenseitig mit Informationen und Interaktionen versorgen, wie das an einem physischen Ort nicht möglich wäre, und ein Bedürfnis befriedigen, das von den Mainstream-Medien, die ohnehin nur wenige dieser Menschen direkt konsumieren, nicht befriedigt werden kann.Neu ist auch das Gefühl, dass sich das Fenster einer ganzen Ära der öffentlichen Meinungsbildung zur Außenpolitik im Allgemeinen und zum Nahen Osten im Besonderen schließt. Für einen heute 18-Jährigen ist der 11. September 2001 ein historisches Ereignis, das völlig losgelöst ist von der moralischen und ideologischen Rhetorik des „Kampfes der Kulturen“, die die Zeit danach beherrschte. Ihre jüngsten Erfahrungen mit der Innenpolitik in den USA und in Großbritannien sind geprägt von hoher Volatilität, instabilen Führungen und einer Pandemie, die die Grenzen und die Korruption der politischen Klasse vorgeführt hat.Eine von Donald Trump, Boris Johnson und Corona-Lockdowns geprägte JugendIn den USA ist die jüngste Vergangenheit (und vielleicht auch die nahe Zukunft) geprägt von Donald Trump und seinen zahlreichen juristischen und persönlichen Verfehlungen sowie von der ersten Wahl, bei der die Ältesten von ihnen wahlberechtigt waren und die im Sturm auf das Kapitol, angefeuert vom scheidenden Präsidenten, gipfelte. Großbritannien prägt seit dem Brexit eine Politik, in der die Tür zum Amtssitz des Premierministers eine Drehtür ist, einer nach dem anderen kommt und geht, und der letzte, Pardon, der vorletzte von ihnen sich so einiges herausgenommen hat, während der Rest des Landes brutal mit einem Lockdown abgeschottet wurde – was das Leben in Schulen und an Universitäten in einer Weise verwüstet hat, die wir in ihren Ausmaßen wohl immer noch nicht ganz begriffen haben.Man kann mit den politischen Ansichten junger Menschen nicht einverstanden sein und dem, wie sich diese Ansichten in den sozialen Medien bilden, mit Misstrauen begegnen. Aber eine Auseinandersetzung damit zu verweigern, wie diese scheinbar vernünftige Offline-Welt der Erwachsenen sie verjagt hat, kommt dem gleich, was sich Principal Skinner aus den Simpsons versichert: „Steckt mein Kopf etwa im Sand?“, fragt er. „Nein – es ist nur die Welt, die so dunkel geworden ist.“
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