Dass dem Westen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, ist ein Gefühl, das politische Beobachter schon länger verspüren. Dass der Ukraine-Krieg in weiten Teilen der Welt anders gesehen wird als im Auswärtigen Amt, ist bekannt. Noch stärker breitet sich dieses Gefühl nun durch den Krieg zwischen Israel und der Hamas aus. Schon bei dieser Wortwahl würde wohl ein Gutteil der Menschheit nicht mitgehen, geschweige denn, dass es sich bei der Hamas um eine „radikalislamische Terrorgruppe“ handele, wie das Wording in unseren Medien lautet. Dieses genormte Sprechen verstimmt viele, weil der bevormundende Ton nervt, schließlich sind wir mündige Bürger, die das Phänomen schon einzuordnen wissen.
Was aber, wenn darin die h
arin die halb verzweifelte, halb trotzige Geste aufscheint, dass man sich als letzte Insel der Aufklärung in einem Meer von Unvernunft wähnt? Ich habe keine Ahnung, wie sehr man sich etwa beim Deutschlandfunk bewusst ist, dass man ein Minderheitenprogramm ausstrahlt. Das zielt noch nicht einmal auf die Massen im „Globalen Süden“ oder in den BRICS-Staaten, sondern auf die hiesige Bevölkerung. Gewiss wird man mitbekommen haben, dass die Umfragen eine andere Tendenz haben als die Stoßrichtung der Berichterstattung, die sich ja praktisch mit der Politik der Koalition deckt.Herz, Schmerz und AnalyseDas war im Ukraine-Krieg so, das ist in der Beurteilung wesentlicher Fragen zum Gaza-Kieg so: weniger Waffenlieferungen, weniger Israeltreue etc. Besonders unangenehm ist es beim Antisemitismus. Auf die geringe und steife Solidarität der Bevölkerung mit den jüdischen Mitmenschen reagieren die Vernunft-Medien mit Sollensforderungen: Da muss mehr kommen! Und von Herzen! Man ist geneigt, ihnen zuzurufen: So schmerzhaft es auch ist, eure Aufgabe ist nicht die Klage, sondern erst mal die Analyse, also die Beantwortung der Frage, warum die Lage ist, wie sie ist.Eine Antwort, die heute schnell gegeben wird und irgendwie immer passt: Das „Narrativ“ ist schuld, das „Framing“. Nun gibt es offenkundig einander ausschließende Erzählrahmen. Hierzulande, weltweit. So labelt die englische Version des von Katar finanzierten Senders Al Jazeera ihre Berichterstattung aus Gaza mit „genocide“ und nennt die israelische Armee eigenmächtig „IOF“ – „Israel Occupation Forces“. Immerhin gibt es hier noch ein kohärentes „Narrativ“. Der mittlerweile größte Gegner der wertebasierten westlichen Publizistik hat überhaupt keins: die Videoplattform TikTok. Der zur chinesischen Gruppe ByteDance gehörende Megaplayer ist ins Gerede gekommen, weil ein Video von Osama bin Laden aus dem Jahr 2001 geteilt wurde, in dem dieser seinen antisemitischen „Brief an das amerikanische Volk“ verlas. Das Video ist mittlerweile gelöscht.Im Oktober veröffentlichte TikTok Zahlen: Hierzulande nutzen monatlich 20,9 Millionen Menschen die Plattform. „64 Prozent der TikTok-Nutzer*innen in Deutschland sagen, dass TikTok ihnen dabei hilft, sich frei auszudrücken und eine/r von zwei Nutzer*innen berichtet, sich durch TikTok als Teil einer Gemeinschaft von Menschen mit ähnlichen Interessen und Werten zu fühlen.“ Nun sind unter „ähnlichen Interessen“ in den wenigstens Fällen politische gemeint. Vielmehr tangieren sie die Themenbereiche Beauty, Sport, Fashion oder Musik, was die Blasenbildung scheinbar harmlos macht. Aber es ist komplexer.TikTok, erklärt mit Sigmund FreudMan sagt, dass Palästina auf TikTok gewonnen hat. Auch in meinen Account spült es ständig Videos von großen Demonstrationen für die palästinensische Sache aus aller Welt rein, wobei man sich ja nie ganz sicher sein kann, ob da nicht auch Fakes dabei sind. Nervtötend (für mich) ist die Untermalung mit dem schwedischen (!) Song Leve, leve Palestina, begleitet vom Getrommel sehr weißer Frauen, umtanzt von Indigenen, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob das Palituch nicht eine besonders perfide Form von Cultural Appropriation darstellen könnte.Was für andere Nutzer als neue antiimperialistische Internationale ins Bild rückt (und „den Eliten“ Angst macht), ist indessen nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Fluss auf TikTok. Neben Videos und Vlogs von Fußballlegenden, tanzenden Schönheiten oder Vorträgen eines Hobbyethnologen namens René Romanov tauchen bei mir patriotische russische Lieder auf und kleine Gruppen orthodoxer Juden, die am Rande der Demos Plakate gegen Israel hochheben – Sag mir, was dir der Algorithmus reinspült, und ich sag dir, wer du bist. Und ich bin viele.TikTok zerstört im Grunde die Vorstellung eines kohärenten Narrativs überhaupt. Etwas waghalsig könnte man sagen, dass TikTok das „Es“ in unserem psychomedialen Haushalt bildet, die öffentlich-rechtlichen Medien das „Über-Ich“. Not täte nun die Ausbildung von „Ich-Stärke“, meint nach Sigmund Freud: „Die Anforderungen des Es, des Über-Ich und der Realität in Einklang zu bringen“. Gibt es ein Medium, das diese Aufgabe leisten könnte?