Was und wie wir die Dinge sehen, bestimmen die Medien mit. Vor allem die sogenannten Leitmedien. Mitunter verengen sie auf gefährliche Weise das Blickfeld
Illustration: der Freitag
Was sind Leitmedien? Es sind diejenigen Medien, die im Ranking der von den Medien am meisten zitierten Medien vorne liegen. Uff! In dieser umständlichen Formulierung deutet sich ein Problem an: Leitmedien sind Leitmedien, weil sie sich zu Leitmedien machen. Das Kriterium ist die zugeschriebene Relevanz, nicht etwa Unabhängigkeit, aber auch nicht Reichweite. Relevanz misst sich in der Quantität der Zitierung – durch andere Leitmedien. Am meisten zitiert wurde 2022 der Spiegel.
Weiter findet man da FAZ, SZ, Handelsblatt, Funke Mediengruppe, die ARD, aber auch Bild. Der Deutschlandfunk taucht in der Top 20 dieser von Media Tenor durchgeführten Erhebung nicht auf. Dafür überraschenderweise der Tagesspiegel. „Das exklusive Interview mit dem ukrainischen
Deutschlandfunk taucht in der Top 20 dieser von Media Tenor durchgeführten Erhebung nicht auf. Dafür überraschenderweise der Tagesspiegel. „Das exklusive Interview mit dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, hat dem ‚Tagesspiegel‘ einen ordentlichen Zitate-Schub gebracht“, erklärte Media Tenor-Chef Roland Schatz den schönen Erfolg der Kollegen.Verführbare MasseMelnyk hat viele Interviews geben, als er noch Botschafter der Ukraine in Deutschland war. Ein neues Interview mit Melnyk sagte in der Regel nichts Neues. Aber es garantierte Relevanz. Nun kann man natürlich fragen, ob sich nach dem x-ten Interview nicht auch in der überzeugtesten Redaktion eine gewisse Ermüdung einstellte. Ob nicht kurz der Gedanke aufblitzte, dass auch ein Interview mit dem russischen Botschafter interessant sein könnte. Nicht, weil der Nachrichtenwert besonders groß wäre, sondern weil es dem Leser Einblicke ins russische „Narrativ“ geben könnte, dazu gleich mehr, und weil es eine Herausforderung für jeden Journalisten wäre, diese Einblicke zu gewähren.Aber so „denken“ Leitmedien nicht (ein Interview erschien im April in der MOZ). „Leitmedien“ denken so, dass eine durch moderne Hexen und Friends-Generäle verführbare Masse vor Irrwegen bewahrt werden muss. Dies geschieht gerne durch abfragende Interviews mit „Experten“. Ein aktuelles Beispiel: Spiegel Online interviewt die Sozialpsychologin Pia Lamberty über den gefährlichen Glauben an Verschwörungsmythen. Ein Ausschnitt: „Im Falle des Angriffs auf die Ukraine geht es darum, die Nato anstelle von Russland als Aggressor darzustellen. Es reicht, Behauptungen über ‚Biolabore‘ zu streuen und so Verunsicherung in die Faktenlage zu bringen.“Vermutlich wird ein solches Interview keinen einzigen verstrahlten Menschen, der an die geheime Existenz von Biolaboren in der Ukraine glaubt, vom Gegenteil überzeugen. Allerdings gibt es vernünftige Menschen, die nicht an diese Labors glauben, aber doch der NATO und dem Westen in der Vorgeschichte des Kriegs eine Mitschuld am Lauf der Dinge geben. Eine streitbare, aber nicht extreme Position. Wieso wird diese Position durch die Antwort von Frau Lamberty quasi delegitimiert? Die Frage stellte sich Spiegel Online offensichtlich nicht.NeusprechKein Einzelfall. Ich beobachte, dass Skepsis keine große journalistische Tugend mehr ist. Aber wäre es nicht eine lohnende Herausforderung, diese Skepsis zu fördern – und in ihren Übersteigerungen zu reflektieren? Die Öffentlichkeit würde es den Leitmedien danken. Das Vertrauen in sie sinkt in der Bevölkerung seit Jahren, wie Umfrage um Umfrage belegt. Dass überhaupt nur noch eine Minderheit die klassischen Leitmedien konsumiert, kann man als Problem sehen, dass von den Leitmedien selbst kaum problematisiert wird.Sie bleiben gegenüber den neuen, reichweitenstarken digitalen Angeboten wie den Nachdenkseiten oder Weltwoche Daily relevant – indem sie solche Quellen einfach nicht zitieren. Gewinner des Vertrauensverlusts in die Leitmedien ist zudem das schnell geschriebene Sachbuch, das selbst zum journalistischen Akteur wird. Es wäre noch in der Corona-Krise unmöglich gewesen, dass ein Buch, das die Medien selbst kritisch beobachtet, als Nummer 1 auf der Spiegel-Bestseller-Liste stand. Aber so ist es gekommen mit der Vierten Gewalt von David Precht und Harald Welzer.Ausgangspunkt der beiden Autoren war die Beobachtung, dass „veröffentlichte Meinung und öffentliche Meinung“ auseinanderdriften, wobei unter der veröffentlichten Meinung abermals die Leitmedien verstanden werden. Das Thema Waffenlieferungen legt diese Diskrepanz ebenso offen wie die Frage nach Verhandlungen oder ihrer Vorformen.Im Oktober 2022 fragte das Meinungsforschungsinstitut Forsa, ob der deutsche Bundeskanzler weiterhin mit Putin sprechen soll. 87 Prozent waren der Meinung, Scholz solle das tun, nur 11 Prozent waren dagegen. Diese Zahlen spiegelten sich nicht in den Leitmedien wider. Für die ersten drei Kriegsmonate ist der „Bias“ durch eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung erhärtet worden: „Die meisten deutschen Leitmedien haben in den ersten drei Monaten des Ukraine-Krieges überwiegend für die Lieferung schwerer Waffen plädiert und diplomatische Verhandlungen als deutlich weniger sinnvoll charakterisiert.“Ein Gutteil der Leitmedien betreibt in den strittigen Fragen einen Kampagnenjournalismus. Man erinnere sich an die hysterisch geführte Debatte um die Lieferung von Leopard-2-Panzern – obwohl Militärexperten wenig später in den selben Medien einräumen durften, dass die Panzer nicht kriegsentscheidend sein dürften und sich Scholz‘ viel kritisiertes Zögern als kluge Politik erwiesen hat.Medien dagegen werden von vielen klugen Menschen gemacht und agieren doch immer wieder „dumm“: Sie lernen schwer dazu. Aus den Erfahrungen aus der Corona-Krise könnte man zum Beispiel lernen, dass Prognosen von Experten mit starken Vorbehalten zu versehen sind. Aber das scheint in den Redaktionen nur den Lerneffekt zu haben, dass man die Irrtümer eines Erich Vad ausbreitet, was natürlich okay ist, nicht aber etwa Herfried Münklers wechselhafte Einlassungen.Klügere Militärexperten wie Carlo Masala halten sich mit Prognosen zurück, obwohl sie immer wieder danach gefragt werden. Bei all ihren Defiziten, „lügen“ die deutschen Medien natürlich nicht absichtlich, und gleich gar nicht systematisch, und sie befolgen auch nicht irgendwelche Regierungsanweisungen. Das tun sie unter den Bedingungen von Zensur und Propaganda. Also in Russland, aber auch in der Ukraine, (etwa wenn es um Opferzahlen geht).Bei uns passiert etwas vergleichsweise Harmloses. Precht und Welzer nennen es „Cursor-Journalismus“; dorthin steuern, wo die anderen stehen. Ich würde immer noch von „Framing“ sprechen. „Framing“ ist es, wenn jeder Beitrag mit der Formulierung „der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine“ versehen wird. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die russische Rede von der „Spezialoperation“ sprengt sogar das „Framing“ es ist eine Art Neusprech.Aber der notorische Hinweis auf den „russischen Angriffskrieg“ wird von vielen als betreuter Journalismus wahrgenommen. Das Framing erfolgt innerhalb eines „Narrativs“. Ein Narrativ ist einfach eine sinnstiftende Erzählung. Tatsächlich agieren die Leitmedien seit dem 24. Februar in einem einfachen, dadurch nicht falschen Narrativ. Es lautet: „Russland hat die Ukraine überfallen. Russland ist der Aggressor, die Ukraine das Opfer“ So simpel das Narrativ ist, es ruft eine aufwändige journalistische Architektonik hervor, die ein wenig an Rudolf Steiners Imperativ erinnert: Bloß keine Ecken und Kanten!No goAnders gesagt, das Narrativ kann nur auf Kosten von Einbußen der journalistischen Standards aufrechterhalten werden. So wäre es unter normalen Umständen ein No Go für ein Qualitätsmedium, über einen langen Zeitraum hinweg die Verlautbarungen eines Staatsoberhauptes und seiner Berater als Nachrichtenquelle selbst zu taxieren. Genau das aber geschieht mit Selenskjys Videobotschaften seit Monaten, vornehmlich in den „Ukraine-Tickern“, einem Genre, das eine gründliche Untersuchung verdient hätte.Die Journalistin Gemma Pörzgen hat den Unterschied zwischen Russland und der Ukraine prägnant benannt: Die Russen machen Propaganda, die Ukrainer PR. Die Propaganda wird im Westen zwar nie zur PR, aber die PR doch gelegentlich zur Propaganda. Erinnert sei an die Sache mit den Goldzähnen. Unter Berufung auf einen hohen Ermittler der ukrainischen Polizei verbreite sich die Meldung von einer Kiste mit „Goldzähnen“, die schreckliche historische Assoziationen weckte. Es stellte sich heraus, dass die Goldzähne dem lokalen Zahnarzt gestohlen wurden.Für den durchaus proukrainischen Reporter Moritz Gathmann ist dies eines unter anderen Beispielen, die ihn zum Appell führten „auch Informationen, die von höchster ukrainischer Stelle kommen“, mit Vorsicht zu behandeln.Fragwürdig sind auch die Einschätzungen der russischen Kriegsführung durch den britischen Geheimdienst. Öffentliche Verlautbarungen eines Geheimdienstes würden unter „normalen Umständen“ einer aufgeklärten Öffentlichkeit eher ein Schmunzeln abringen. Täuschung der Öffentlichkeit ist geradezu der Arbeitsgrundlage eines Geheimdienstes. Warum wird der Geheimdienst dann trotzdem zitiert? a) Mangels Alternativen. b) Weil die „Erkenntnisse“ des Geheimdienstes durchweg mit dem Narrativ verträglich sind. Die Nachrichten aus dem Kreml sind es nicht. Mir fällt nur ein halbes Gegenbeispiel ein. Das war der Kampf um das AKW Saporischia. Zu naheliegend war es, dass (auch) die ukrainische Seite des AKW beschossen hat.Ein letztes Beispiel. Just als der chinesische „Friedensplan“ öffentlich wurde, berichtete der Spiegel über einen geheimen Waffendeal zwischen Russland und China. Wie viele Quellen gab es? Das erfährt der Leser nicht. Ihm muss der Hinweis nach „SPIEGEL-Informationen“ genügen, die eine Äußerung von US-Außenminister Antony Blinken beweisen soll. Als wäre „SPIEGEL-Informationen“, ein Gütesiegel, das keine Fragen offen lässt. Was ist daran besser als „nach SEYMOUR-HERSH-Informationen“? Nicht zuletzt der Spiegel hatte ja moniert, dass Hersh seine Behauptung, die USA hätten Nordstream II zerstört, „ohne nennenswerte Belege“ veröffentlicht habe. Und wer jetzt sagt, Hersh habe sich in letzter Zeit öfter verhoben, dem sage ich nur: Relotius. Soviel Gemeinheit muss sein.Empathie und AngstZum Schluss möchte ich eine These vortragen, von der ich mir nicht ganz sicher bin, wie weit sie trägt. Sie lautet: Ein Journalismus im engen Korsett des Narrativs hat zur Folge, dass bei vielen Menschen das nicht eintritt, was die gut gemeinte Absicht der Kampagne sein mag: Empathie und Solidarität mit den Angegriffenen zu erzeugen. Vielmehr verschiebt sich der Fokus bei einem nicht kleinen Teil der Öffentlichkeit von der Empathie auf die Medienkritik.Ob wir wollen oder nicht, nehmen wir die Welt durch Medien wahr. Unter günstigen Bedingungen blenden wir diese Medien aus, lassen sie gleichsam still ihre Arbeit machen. Dann macht uns eine Erzählung oder ein Bild emotional betroffen. Aber wenn etwas an der Erzählung hinkt oder das Bild einen zu engen Rahmen hat, dann heftet sich unsere Aufmerksamkeit auf den Rahmen selbst. Das hat im Fall des Ukraine-Kriegs eine kathartische Wirkung. Es gibt ja zwei Gefühlslagen, mit denen wir atemlos in die Ukraine blicken: Angst (vor der Eskalation) oder Empathie (mit den Opfern), beides scheint nur schwer gleichzeitig fühlbar. Jeder möge in sich selbst hineinhorchen.Einen Ausweg aus dieser Beklemmung bilden die Leitmedien, und sie tun es umso mehr, als sie irritieren, und es gute Gründe gibt, diese Irritation zu beklagen. Das mögen auch die Menschen ahnen, die viel Empathie und wenig Angst haben. Es ist eben weder ein Zufall, dass Die vierte Gewalt von Precht und Welzer immer noch ein aktueller Spiegel-Besteller ist – noch dass das Buch und ihre Autoren so heftige Kritik erfahren haben.
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