Israel In den sozialen Medien kursieren die Bilder der Gräuel der Hamas. Was sagen sie über das Selbstverständnis des palästinensischen Widerstands aus?
Die Hamas schießt Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel
Foto: Mahmud Hams/AFP/Getty Images
Das jüngste Trauma Israels beginnt mit einer Flut: In den frühen Morgenstunden des letzten Tages des jüdischen Festes Sukkot, auf den Tag genau 50 Jahre nach Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges, wird die israelische Bevölkerung vom Raketenalarm aus dem Schlaf gerissen. Gut 5.000 Geschosse der islamistischen Hamas werden von Gaza aus abgefeuert, während ein marodierender Mob an Terroristen im Süden des Landes verrichtet, was mit Fug und Recht Pogrom genannt werden kann. Ein böses Erwachen – oder viel eher ein Albtraum, der bis zum heutigen Tage anhält: die „al-Aqsa-Flut“ – so der Name, den Hamas und islamischer Dschihad ihrem verbrecherischen Angriff verliehen haben.
Zeitgleich bricht eine weitere Flut los: die der Bilder. In Echtze
In Echtzeit verfolgen wir alle, wie das unüberwindbar geglaubte israelische Sicherheitssystem kollabiert. Wie Terroristen den Grenzzaun erst zerschneiden, dann mit Bulldozern einreißen. Wie schwer bewaffnete Kämpfer in schwarzer Montur kolonnenweise in südisraelische Städte wie Sderot oder Magen eindringen, morden und israelische Zivilisten verschleppen.Videos von Enthauptungen, von verängstigten Familien und von entführten Kindern in Käfigen fluten binnen kürzester Zeit die Newsfeeds – unklar, was echt und was falsch ist. Voller Entsetzen schlägt uns die Brutalität der Angreifer entgegen. Eine Brutalität, die schnell ein ganzes Arsenal an vergleichbaren Bildern wachruft: russische Milizen, die 2014 in den Donbass einmarschieren, oder jüngst auch aserbaidschanische Soldaten auf ihrer Mission, Bergkarabach von Armeniern zu säubern. Nicht zuletzt erinnern die schwarz vermummten Kämpfer, die unter „Allahu Akbar“-Rufen auf Zivilisten schießen und sie kaum bekleidet auf Pick-up-Trucks treiben, an den Islamischen Staat. Kurzum: Dem gängigen Vokabular nach, sehen wir hier Terroristen. Kämpfer ohne Recht und vor allem ohne Menschlichkeit. Bereit für „the last battle“ – wie es aus einigen dschihadistischen Tiktoks raunt.Schon 2021 war Tiktok ein Motor der EskalationWir sehen Videos, in denen die Selbstdarstellung des palästinensischen „Befreiungskampfes“ ganz gezielt auf den zentralen Affekt des Terrors setzt – die Angst. Spürbar ist das vor allem in den Bildern des Massakers an unbekümmert tanzenden Festivalbesuchern in der Wüste Negev. Das unmittelbare Zusammentreffen von unschuldiger Ekstase, Vulnerabilität und grenzenloser Gewalt sorgt weltweit für Entsetzen. Insbesondere die deutsche Festivalteilnehmerin Shani Louk, deren zur Entstellung deformierter Körper voller Hohn und Verachtung durch die Straßen Gazas gefahren, bejubelt und bespuckt wurde, ist schon jetzt zum Symbol für die Unmenschlichkeit der Hamas geworden.Auch auf Tiktok, wo Louks eigenes Profil noch eine erschütternd gespenstische Präsenz fristet, verbreitet sich ihr Bild immer weiter. Neben Bekundungen der Anteilnahme begegnen einem hier vor allem Kommentare des Hasses, abgründige Witze und Fetischisierungen sexualisierter Gewalt. Aus ihnen spricht die gleiche Häme und Entmenschlichung der Opfer, die Menschen in Gaza oder Berlin-Neukölln auf die Straße treibt, um tote Zivilisten zu bejubeln. Präsentiert man sich in dieser Form, nimmt man willentlich in Kauf, als Antisemit zu gelten – denn es ist die Entmenschlichung der Juden, die den Antisemiten erst befähigt, blindlings zu hassen.Es dieser offen zur Schau gestellte Abgrund, der den Sound des Traumatischen durch Augen, Köpfe und Herzen der Israelis jagt, und es ist dieser Modus der Darstellung, der nun auch in den sozialen Medien des Westens ganz unverstellt die selbst ernannten Freiheitskämpfer für Palästina als mörderische Antisemiten präsentiert.Doch ist dieser Modus wirklich neu? Blickt man auf die jüngsten Entwicklungen in der Inszenierung von palästinensischem Aktivismus und „Widerstand“ in den sozialen Medien, findet man die Antwort: Er ist neu. Aber nur für die, deren Bild der Palästinenser immer eins war: das der Opfer.Placeholder image-1Werfen wir einen Blick zurück in das Jahr 2021: Auch hier tobte Krieg in Gaza. Vermeintlich ausgelöst durch die umstrittene Räumung von Palästinensern im Ost-Jerusalemer Viertel Sheikh Jarrah. Zunächst eskalierten die Proteste von israelischen Ultranationalisten und palästinensischen Extremisten in Jerusalem, dann folgten Raketen aus Gaza. Die israelische Antwort: Bombardements. Schon damals entlud sich unter dem Hashtag #savesheikhjarrah ein internationaler Aufschrei in den sozialen Medien. Schnell wurde der Impuls kämpferisch als #electronicintifada bezeichnet und trieb weltweit Menschen in Solidarität auf die Straßen. Ein nicht geringer Teil dieser Proteste verfiel antisemitischer Hetze und mündete in Angriffen auf Menschen und Institutionen, die als jüdisch markiert wurden. Entsprechende Studien der Anti-Defamation League (ADL) belegten einen 75-prozentigen Anstieg antisemitischer Gewalttaten in den USA, die im Zusammenhang mit den Protesten standen.Zentraler Motor der Eskalation – sowohl in Jerusalem als auch weltweit – waren die sozialen Medien. Allen voran die Videoplattform Tiktok. Von der Weltöffentlichkeit kaum beachtet, wirkte Tiktok nicht nur als Brandbeschleuniger des Konflikts und dazugehöriger antisemitischer und rassistischer Verzerrungen. Als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, trug die Plattform auch direkt zum Ausbruch des Krieges bei. In der sogenannten „attack-a-jew-challenge“ filmten sich palästinensische Jugendliche, wie sie orthodoxe Juden in Jerusalem ohrfeigten oder mit Kaffee überschütteten. Der Aufruf der Challenge? Tu es mir nach! Schnell zirkulierten die höhnischen Videos auch in den Telegram-Channels ultranationalistischer israelischer Gruppierungen wie Lehava. In ihren Augen ein weiterer Anlass, Wut und Hass auf die Straße zu tragen.#globalizetheintifadaNach Ausbruch des Krieges verbreiteten sich Millionen von Videos auf Tiktok, die getreu dem Motto #globalizetheintifada zeigen sollten, warum und wie die unterdrückten Palästinenser den militärisch ungleich gewichtigeren Feind Israel bekämpfen. Zentral in der Medialisierung des palästinensischen Widerstands und der Mobilisierung globaler Solidarität war damals zweierlei: zum einen das vor allem an westliche Mediendiskurse gerichtete Bild des kolonial unterdrückten und rassistisch diskriminierten Volkes. Hier wurde vor allem Content verbreitet, der mit Hashtags wie #wecantbreathesince1948 oder #PLM (Palestinian Lives Matter) versehen war und bildsprachlich wie auditiv die referenzielle Nähe zu antirassistischen Protestwellen der Gegenwart suchte.Zum anderen richtete man sich an die islamische Welt. Hier gab man sich kämpferisch: Als Verteidiger von Al-Aqsa in Jerusalem, einer der zentralen religiösen Stätten des Islams, stilisierte man den Kampf gegen Israel als Teil eines Heiligen Krieges, der die Palästinenser zurück ins Zentrum der Umma al-islāmīya heben sollte. Denn aus dem waren sie gefallen, nachdem viele der arabischen Staaten im Zuge der Abraham Accords begonnen hatten, Abkommen mit dem Staat Israel abzuschließen. So richtete man sich 2021 an mehrheitlich islamische Länder Südostasiens, wie Indonesien und Malaysia, die keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhielten. Ob als dschihadistischer Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen die „zionistischen Okkupatoren“ oder subtiler, in die Bildsprache des Kampfes des muslimischen Davids gegen den jüdischen Goliath verpackt, verbreiteten sich hier Videos mit enormer Reichweite. Im religiös gerechtfertigten Rachefeldzug gegen Israel stellte sich der palästinensische Widerstand an die Spitze des Dschihad – ein Bild, das vor allem der immer dominanter werdende Palestinian Islamic Jihad beschwor.Heute ist es genau dieses Bild, das sich zwischen den verschiedenen Strömungen der Bilderflut durchgesetzt hat. Ein Bild, das bewusst Kampfbereitschaft, Barbarei und Unmenschlichkeit signalisiert. Damit beendet es die Schizophrenie der Selbstdarstellung palästinensischen Widerstands, tilgt den Opfer-Diskurs, verzichtet auf die Sympathien von Menschenrechtsaktivisten und gibt sich letztlich offen dem einen Ziel hin: Israel als die jüdische Heimstätte zu vernichten. Was zuvor nur in der Peripherie des westlichen Mediendiskurses erschien, rückt plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Doch warum (erst) jetzt?Das mag auf den ersten Blick am Abebben der Aufmerksamkeit im Zuge des russischen Überfalls und weiterer Konflikte und Kriege wie im Iran, in Afghanistan, in Bergkarabach, in Kurdistan oder dem Kosovo liegen. Oder banal gesagt: In der Aufmerksamkeitsökonomie wächst die Konkurrenz. Der Mehrwert von Menschenrechtsdiskurs und Opferhaltung nimmt ab – auch ein Resultat des zunehmenden Erfolgs faschistischer und autoritärer Regime im Culture War.Warum noch auf Menschenrechtsaktivisten im Westen setzen?Vor allem aber steht hinter der Offenbarung dieses Selbstbildes eine Veränderung im Machtgefüge des Nahen und Mittleren Ostens: die innere Zerrissenheit Israels, das Aushebeln des israelischen Sicherheitsapparats, zuvor kaum verzeichnete Geländegewinne im Süden Israels und nun auch die Verfügungsgewalt über Hunderte Geiseln als „Verhandlungsmasse“. Das alles bildet nur eines der Standbeine des neuen Selbstbewusstseins, mit dem Terror zur Schau gestellt wird.Das andere fußt auf der weitreichenden Unterstützung des Irans. Beflügelt von der zahnlosen Politik des Westens, ist dieser längst zum militärtechnologischen und ideologischen Rückgrat seiner Proxy-Krieger in den palästinensischen Gebieten aufgestiegen. Die Anzeichen mehren sich, dass die Überwindung des israelischen Grenzzauns ebenfalls erst durch die Unterstützung des Irans – so der Historiker Michael Wolffson im Interview mit dem Deutschlandfunk –, möglich geworden sein kann. Warum also auf die Gunst von Menschenrechtsaktivisten im Westen setzen, zu denen man zumeist ideologisch sowieso konträr steht, wenn im offen ausgetragenen dschihadistischen Jähzorn so viel mehr vermeintliche Katharsis für das reale Leid der Palästinenser steckt? Warum Schwäche mimen, wenn endlich Stärke bewiesen werden kann.Die Fahne Palästinas richtet sich wie immer nach dem Wind. Doch der zieht nicht mehr gen Westen. Offen bleibt nur die Frage, ob dieser Wetterwechsel auch im Westen spürbar ist. Geht man nach dem Thermometer Tiktok, so heißt es da in palästinasolidarischen Clips: „Decolonization is always messy.“ Noch immer gefangen in der Bilderflut der vergangenen Jahre, gibt es für solche Floskelritter kein Erwachen, nicht mal ein böses.Placeholder authorbio-1
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