Steve Markachenko, ein 25 Jahre junger Mann aus Carmel im Norden Israels, hatte sich darauf gefreut, an diesem Wochenende das Nova-Musikfestival in einem Wüstenkibbuz zu besuchen, um dort das jüdische Erntedankfest Sukkot zu feiern. Er und seine Freundin Elisa Levin, 34, fuhren am Freitagabend vier Stunden Richtung Süden. Am Samstagmorgen um 6.30 Uhr tanzten sie unter Tausenden von jungen Partygängern, die den Sonnenaufgang genossen, ohne zu ahnen, dass sich ihr Leben für immer verändern würde. Zunächst schienen die Sirenen Teil der Trance-Musik zu sein, so die Überlebenden. Dann tauchten am Himmel Dampfschwaden von Raketen auf: Die Menschen gerieten in Panik, weil sie im Freien gefangen waren, und eilten zu ihren Autos. Und dann begannen die Gewehrschüsse.
Mindestens 260 Leichen wurden auf dem Gelände des nächtlichen Festivals entdeckt. Dutzende weitere wurden noch vermisst, einige von ihnen womöglich als Geiseln in den Gazastreifen gebracht. Der Angriff war einer der schlimmsten Einzelvorfälle während der Offensive der militanten palästinensischen Gruppe Hamas, der Operation „al-Aqsa-Flut“ – ein Tag, der als Israels 9/11 in die Geschichte eingehen wird.
Auf dem Rave sahen einige dabei zu, wie ihre Freunde vor ihren Augen starben; andere stellten sich stundenlang tot, bis sie Stimmen auf Hebräisch hörten und wussten, dass Hilfe gekommen war. Videos vom Tatort zeigen leblose Körper auf dem Boden, einen zerschossenen Lieferwagen und Männer und Frauen, die von bewaffneten Kämpfern weggezerrt werden. Schreie erfüllen die Luft.
Das Auto steht fünf Kilometer vom Ort des Festivals entfernt
Ein erschütterndes Video zeigt eine israelische Frau, die um ihr Leben flehte, als sie von ihrem Partner getrennt und von zwei Hamas-Kämpfern auf einem Motorrad weggefahren wurde. Sie wurde als Noa Argamani identifiziert, eine Studentin.
Wo Steve Markachenko und Elisa Levin sind, ist nicht bekannt. Wohl war es ihnen gelungen, dem anfänglichen Chaos zu entkommen, so Steve Markachenkos Bruder Dima. Das GPS-System ihres Autos zeigt an, dass sich das Fahrzeug noch etwa 5 km vom Ort des Festivals entfernt befindet. Doch seit etwa 6.15 Uhr, als Levin ihren Bruder anrief, hat niemand mehr etwas von dem Paar gehört.

Foto: Twitter
„Wir wissen gar nichts. Die Heimatfront, die Polizei, die Armee, niemand kann uns irgendwelche Informationen geben. Wir waren in jedem Krankenhaus des Landes, nichts. Und die Straße ist blockiert, sodass wir nicht zu ihrem Auto gehen können“, sagte der 32-Jährige. „All diese Technologie, all das, was wir getan haben, um uns zu schützen, die Armee, all das bedeutet nichts. Dieses Land ist ein Witz.“
Sie finden ihre Angehörigen auf Videos der Hamas
Markachenko ging am Sonntag zum Zentrum für vermisste Personen, das in einer Polizeistation in der Nähe des Flughafens von Tel Aviv eingerichtet wurde. Er ließ dort den Namen seines Bruders registrieren und gab DNA-Proben ab. Mit ihm gingen an dem Sonntag Hunderte Menschen in Stille in dem Zentrum ein und aus. In einer eigentlich tief gespaltenen Gesellschaft scharten sich Israelis aller politischen Richtungen und Glaubensrichtungen – säkulare, ultraorthodoxe, nationalistisch-religiöse, aschkenasische, mizrachische und palästinensische Bürger Israels – um das Gebäude, vereint in Sorge und Trauer.

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Manche Menschen wussten, wo ihre Angehörigen verblieben waren, nachdem sie ihre verängstigten Gesichter in Hamas-Videos gesehen hatten, die offenbar im Gazastreifen gedreht worden waren. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 100 Israelis, sowohl Soldaten als auch Zivilisten, nach Gaza verschleppt worden sind.
In der Vergangenheit hat die Hamas gefangene Israelis als Druckmittel eingesetzt, um die Freilassung ihrer Mitglieder in israelischen Gefängnissen zu erwirken, doch ist es ihr bisher nie gelungen, mehrere Menschen gleichzeitig zu ergreifen. Der Soldat Gilad Shalit, der fünf Jahre lang im Gazastreifen festgehalten wurde, ist 2011 im Austausch gegen mehr als 1.000 palästinensische Gefangene freigelassen worden.
„Mein Cousin, seine Frau und ihre achtjährige Tochter sind in Gaza. Sie haben auch einen 15-jährigen Jungen, aber wir wissen nicht, wo er ist“, sagte Nitzan Eli Akin, 51. Seine Familienmitglieder wurden mit vorgehaltener Waffe aus dem Grenzkibbuz Nahal Oz verschleppt. Am Samstagmorgen hatten sie noch geschrieben, dass sich Terroristen in ihrer Gemeinde aufhielten. „Es ist etwas Blut an ihrer Kleidung, aber ihre Gesundheit scheint ok zu sein. Wir flehen jeden an, uns zu helfen, sie sicher zurückzubringen.“
So viele Tote wie während der fünfjährigen Intifada
Die Israelis sind an Krieg gewöhnt, aber das Ausmaß und die Grausamkeit des Angriffs vom Samstag haben die Sicherheits- und Geheimdienste des Landes überrascht, die noch letzte Woche davon ausgingen, dass die Hamas derzeit nicht an einem umfassenden Konflikt interessiert sei. Jetzt stehen sie vor dem fünften Krieg in den 16 Jahren, seit die Islamisten die Kontrolle über den Streifen übernommen haben und Israel und Ägypten eine strenge Luft-, Land- und Seeblockade verhängt haben.
Der Raketenbeschuss diente als Deckung für den verheerenden und beispiellosen Bodenangriff, bei dem Hamas-Kämpfer 29 Punkte der israelischen Hightech-Verteidigungsanlagen durchbrachen, bevor sie mit Lastwagen und Motorrädern in 22 nahe gelegene israelische Gemeinden vordrangen.
Die Terroristen schossen wahllos auf Menschen auf der Straße, bevor sie in Häuser eindrangen, wo sie Geiseln nahmen. Mindestens 700 Israelis wurden getötet. Ähnlich viele Zivilisten wurden während der gesamten fünfjährigen Intifada nach 1987 oder während des palästinensischen Aufstands in den 2000er Jahren getötet – diesmal an nur einem einzigen Tag. Der Angriff der Hamas ist damit der tödlichste in der Geschichte des Landes.

Foto: Hatem Ali / picture alliance / Associated Press
Die IDF evakuiert Israelis aus einer Pufferzone um Gaza. In der Nähe der Stadt Aschkelon waren die Autobahnen in Richtung Norden voll. Gegen Mittag dröhnten zwei F-16-Kampfjets über den Verkehr und flogen in Richtung Mittelmeer, um dann nach Süden in Richtung Gaza abzubiegen.
Bei israelischen Luftangriffen auf das belagerte Palästinensergebiet sind nach Angaben der Hamas mindestens 370 Menschen getötet worden. Die Spur der Zerstörung, die die Hamas in den Gemeinden im Süden Israels hinterlassen hat, war indessen leicht zu verfolgen. In der Ha-Tamar-Straße in der Kleinstadt Ofakim war fast jedes Haus mit Einschusslöchern übersät, jedes Auto zerschossen. In einem Luftschutzbunker waren die Wände mit Blut bedeckt.
Aus dem Angriff wächst die Wut
In Ofakim wurde ein Ehepaar als Geisel genommen und kam frei, nachdem eine Spezialeinheit die Geiselnehmer getötet hatte. Der Nachbar George Elkhazov, 23, sowie seine Eltern und seine Schwester berichteten, dass ein bewaffneter Hamas-Mann mit einer Panzerfaust an ihrer Tür geklingelt hatte. Nachdem sie ihn durch die Kamera der Gegensprechanlage gesehen hatten, kauerte die Familie 17 Stunden lang hinter der Küchenwand, bis die Schießerei vorbei war. „Nach zwei Stunden erhielt ich einen Anruf, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich zum Reservistendienst einberufen worden war“, sagte Elkhazov. „Ich war derjenige, der fragte: ‚Wo seid ihr? Warum helft ihr uns nicht?‘“
„So etwas darf nie wieder passieren“, sagte Dima Markachenko, dessen Bruder Steve seit dem Angriff auf das Musikfestival nicht mehr gesehen wurde. „Wir müssen Gaza vernichten. Dieses Mal ein für alle Mal.“ Die überwältigende Stimmung in Israel ist derzeit der Schock – gepaart mit einem wachsenden Gefühl der Wut.
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