Im Kriegszustand: Israel steht vor der größten Herausforderung seit 1973

Gaza/Israel Befürchtungen sind berechtigt, dass ein bewaffneter Konflikt in Aussicht steht, der Jerusalem, die Westbank und den Libanon erfasst, sollte die Hisbollah eingreifen. Die Erinnerungen an Gewalt in israelischen Städten 2021 werden wach
Raketen aus dem Gazastreifen haben Wohnhäuser in Tel Aviv getroffen. Mehr als 200 Israelis sowie mindestens 300 Palästinenser sind seit Beginn des Großangriffs der Hamas bereits ums Leben gekommen
Raketen aus dem Gazastreifen haben Wohnhäuser in Tel Aviv getroffen. Mehr als 200 Israelis sowie mindestens 300 Palästinenser sind seit Beginn des Großangriffs der Hamas bereits ums Leben gekommen

Foto: Amir Levy/Getty Images

Es war vor 50 Jahren, als sich Israel nach dem überraschenden und gemeinsamen Angriff Ägyptens und Syriens einer Bedrohung seiner Existenz ausgesetzt sah. Seinerzeit, am 6. Oktober 1973, begann der „Jom-Kippur-Krieg“ oder auch „Oktoberkrieg“.

Nun, in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober 2023, am letzten Tag eines hohen jüdischen Feiertages, scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Zehntausende Israelis werden von Raketeneinschlägen und Luftsirenen geweckt, als Militärverbände der palästinensischen Gruppe Hamas zur größten Herausforderung ausholen, vor der Israel seit den schicksalhaften Tagen im Jahr 1973 steht.

Zum ersten Mal in den 75 Jahren seit Gründung des israelischen Staates gelang es palästinensischen Streitkräften, vorübergehend die Kontrolle über Gebiete innerhalb der Grünen Linie zu übernehmen, jenseits der vermeintlichen Grenzen eines unabhängigen palästinensischen Staates. Mehr als 200 Israelis sowie mindestens 300 Palästinenser sind bereits ums Leben gekommen, wobei die Zahl der Todesopfer wahrscheinlich noch deutlich steigen wird. Man muss einen Tag nach dem Beginn der Offensive davon ausgehen, dass Dutzende israelischer Zivilisten in ihren Häusern als Geiseln festgehalten werden oder in den Gazastreifen verschleppt worden sind.

Überraschung auf beiden Seiten

Die Entführung und der Tod von drei Israelis im besetzten Westjordanland führte 2014 zu einem wochenlangen Krieg zwischen der Hamas und Israel. Im Augenblick jedoch stellt sich die Lage völlig anders da, im arabisch-israelischen Konflikt ist bisher nichts Vergleichbares passiert. Während es 1973 einen Schlagabtausch zwischen konventionellen Streitkräften gab, der kaum israelisches Kernland berührte, sind die Folgen für die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten dieses Mal gravierender und schrecklicher.

Führer der Hamas, der islamistischen Bewegung, die 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm und seither nicht mehr abgab, haben oft erklärt, dass sie „zu einem Zeitpunkt und an Orten unserer Wahl“ auf Israel und seine Politik reagieren würden. Doch dass damit ein solches Ausmaß an Luft- und Bodenangriffen gemeint sein könnte, hat die Israelis, aber ebenso viele Palästinenser überrascht.

Was losbrach, war eine „Al-Aqsa-Flut“

Angeblich handelt es sich vorzugsweise um eine Reaktion auf die jüdische Präsenz während der erwähnten Feiertage auf dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee an der Bruchlinie in Jerusalem, mit der die heiligste Stätte des Judentums und des drittheiligsten Ortes des Islam getrennt werden. Freilich hat sich die Hamas bei schwerwiegenderen Verstößen gegen den Status quo Jerusalems mit weniger schwerwiegenden Angriffen zufriedengegeben.

Dennoch wird die jetzige Operation von ihr als „Al-Aqsa-Flut“ bezeichnet und löst Befürchtungen aus, ein Flächenbrand könnte die Folge sein, der Jerusalem, das Westjordanland und den Libanon erfasst, sollte die Hisbollah eingreifen. Die Erinnerungen an die Gewalt in israelischen Städten, die während des letzten Krieges mit der Hamas im Jahr 2021 zu beobachten war und Araber und Juden aufeinandertreffen ließ, ist noch sehr frisch.

Der Sicherheitsapparat hat versagt

Auf jeden Fall deutet der Angriff auf ein schwerwiegendes Versagen der Geheimdienste hin, des israelischen Sicherheitsapparats insgesamt. Offenkundig war man dort der Auffassung, dass die Hamas auf keinen umfassenden Krieg aus sei. Nach Wochen voller Gewalt und Unruhen am Trennungszaun hatten sich beide Seiten gerade unter Vermittlung von Katar, Ägypten und den Vereinten Nationen auf einen Waffenstillstand geeinigt.

Ein Teil des israelischen Kalküls schien darin zu bestehen, dass die Hamas eine wirtschaftliche Lebensader des Gazastreifens aus den vergangenen zwei Jahren nicht gefährden wollte – die gut 18.500 Arbeitsgenehmigungen für Männer aus der abgeschotteten Region für das Baugewerbe und die Landwirtschaft in Israel.

Die Ereignisse stellen auch eine gewaltige Herausforderung für die rechtsextreme Regierung Israels dar, die seit ihrem Amtsantritt im vergangenen Dezember für innenpolitisches Chaos, das hauptsächlich durch ihre Reform der Justiz ausgelöst wurde, sowie für eskalierende Spannungen mit den Palästinensern gesorgt hat. Für die Extremisten im Kabinett von Premierminister Benjamin Netanyahu scheint sich nun ein mehr als ausreichender Vorwand für eine Rückkehr zum offenen Krieg in der Region ergeben.

Normalisierung mit Riad nun wohl gescheitert

Tatsache ist: Das Westjordanland leidet unter der schlimmsten Gewaltwelle seit 20 Jahren, die auf eine dritte Intifada oder einen palästinensischen Aufstand hinauslaufen. Vieles spricht dafür, dass die Führer von Hamas und des Islamischen Dschihad zu ihren eigenen Bedingungen zuschlagen wollten. Dies dürfte auch mit dem Versuch zu erklären sein, sich selbst – nicht die korrupte und schwache Palästinensische Autonomiebehörde in der Westbank – als wahre Vertreter des palästinensischen Volkes zu positionieren.

Was gegenwärtig geschieht, wird mit Sicherheit die sich abzeichnende Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien, der Heimat der beiden heiligsten Stätten des Islam und dem geopolitischen Anker der Religion, zum Scheitern bringen. Was ein Weg sein konnte, die Akzeptanz des jüdischen Staates in der gesamten muslimischen Welt zu begünstigen, dürfte jetzt in Frage stehen.

Es sei daran erinnert: Hamas hat auch in den 1990er Jahren auf Gewalt zurückgegriffen, um den Oslo-Friedensprozess zwischen Israel und der Fatah, Regierungspartei der Autonomiebehörde, zu missbilligen. Weniger klar ist, was die Hamas langfristig erreichen will und wie viel Koordination und Unterstützung ein so großer Angriff von externen Kräften wie der Hisbollah oder dem Iran erhalten hat. Zumindest ist der Angriff ein klares Signal dafür, dass die von Israel seit 16 Jahren betriebene Blockade des Gazastreifens nicht nachhaltig war.

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Geschrieben von

Bethan McKernan | The Guardian

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