Interview Er war der Repräsentant der Europäischen Union für Palästina. Seit kurzem ist Sven Kühn von Burgsdorff im Ruhestand – und erläutert seine Sicht auf den Nahost-Konflikt und die Gründe für dessen jüngste Gewalteskalationen
Palästinensischer Protest gegen den israelischen Militäreinsatz in Jenin: Gaza, Anfang Juli 2023
Foto: Yousef Masoud/dpa
Israel, ein „Apartheidstaat“? Gegen diese Gleichsetzung mit seinem Heimatland hatte sich der südafrikanische Autor Benjamin Pogrund stets verwahrt – jüngst schrieb er, viel beachtet, im Guardian: „Jetzt glaube ich, dass es in diese Richtung geht.“
So weit geht der Diplomat Sven Kühn von Burgsdorff im Freitag-Gespräch nicht, weist aber die Hauptverantwortung für die neuerliche Welle der Gewalt im Nahen Osten Israel zu. Kühn von Burgsdorff ist seit kurzem im Ruhestand, zuletzt hat er die Europäische Union in Palästina vertreten.
der Freitag: Herr Kühn von Burgsdorff, Palästina war die letzte Station Ihrer Karriere als EU-Diplomat, nach Mosambik, Haiti und dem Südsudan. Was haben Sie in Palästina gelernt,
ropäische Union in Palästina vertreten.der Freitag: Herr Kühn von Burgsdorff, Palästina war die letzte Station Ihrer Karriere als EU-Diplomat, nach Mosambik, Haiti und dem Südsudan. Was haben Sie in Palästina gelernt, was Ihnen die vorherigen Stationen nicht beibringen konnten?Sven Kühn von Burgsdorff: Die Frustrationsschwelle so lange auszuhalten und das Gefühl zu haben, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Und die Wichtigkeit, die öffentlicher Diplomatie bei der Beeinflussung von Aktions- und Handlungsspielräumen in der europäischen Politik, aber auch in der Politik allgemein zukommt.Warum wird die Frustrationstoleranz hier auf die Probe gestellt?Weil wir seit 75 Jahren keinen Fortschritt bei der Lösung des ältesten Konflikts des 20. und 21. Jahrhunderts sehen. Im Gegenteil, wir haben hier eine ständige Verschlechterung, wenn es um den Anspruch der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit geht. Dieser wurde systematisch unterminiert, insbesondere seit der Unterzeichnung der Oslo-Verträge 1993. Israel hat Völkerrecht schlichtweg ignoriert. Das betrifft aber auch das Versagen der palästinensischen Führung, Einheit, demokratische Legitimation und Rechenschaftspflicht wie -fähigkeit herzustellen, also das, was wir im Englischen als „good governance“ beschreiben. Und es ist natürlich auch die Frustration hinsichtlich der Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft, Völkerrecht einzuklagen und sicherzustellen, dass die verantwortlichen Pflichtenträger es auch respektieren.Placeholder authorbio-1Wer trägt die Verantwortung dafür, dass dieser Konflikt immer aussichtsloser statt friedlicher wird?Hauptpflichtenträger ist Israel als Besatzungsmacht, aber natürlich gibt es auch Pflichtenträger auf der palästinensischen Seite, sowohl die Palästinensische Autonomiebehörde, die seit Oslo etabliert wurde, wie auch die De-facto-Autoritäten von Hamas, die den Gazastreifen regieren. Wichtigster Pflichtenträger und Verantwortlicher für das Nichtlösen des Konflikts aber ist Israel. Dafür gibt es viele Gründe. Ein wichtiger ist, dass sich, wie repräsentative Umfragen aus dem vergangenen Jahr zeigen, nur noch elf Prozent der israelischen jüdischen Bevölkerung einer Zwei-Staaten-Lösung verpflichtet fühlen, während sich fast zwei Drittel der israelischen jüdischen Bevölkerung als rechts definieren. Ergebnis: Wir haben in Israel eine Regierung, die so weit rechts außen steht, dass sie sich der völkerrechtswidrigen Annexion des Westjordanlands verpflichtet fühlt und den Palästinensern keine eigene Staatlichkeit zubilligt.Warum tut sich die EU so schwer damit, in diesem Konflikt zu agieren?Der Grund, warum wir zu keinem Dialog mit Israel kommen, ist simpel: Die israelische Regierung wendet nationales Recht an, wenn es um Ostjerusalem oder das Westjordanland geht, und wir wenden internationales Recht an. Da die israelische Regierung nationalem Recht den Vorrang gibt, haben wir in diesen Fragen kaum Dialogfähigkeit. Israel muss als Besatzungsmacht sicherstellen, dass die ihm unterstellte Bevölkerung Schutz erhält, es muss für das soziale und ökonomische Wohlbefinden sowie für Rechtsstaatlichkeit und die öffentliche Ordnung sorgen. Dazu ist es als Besatzungsmacht verpflichtet. Der Aufgabe kommt es aber nicht nach.Inwiefern nicht?Es gibt kaum Beispiele dafür, dass gewalttätige israelische Siedler zur Verantwortung gezogen und verurteilt werden. Das gilt im Übrigen auch für die vielen israelischen Soldaten und Polizisten, die bei den täglichen gewalttätigen Eingriffen in die Lebenswirklichkeit der Palästinenser die Verhältnismäßigkeitsregeln verletzen. Das erklärt auch den hohen Anstieg an Todesopfern in der palästinensischen Bevölkerung in den letzten zwei, drei Jahren. Das Ausmaß von Hausabrissen, der Vertreibung von Palästinensern, der Ausdehnung von illegalen Siedlungen, exzessiver Siedler-Gewalt und der Todesfälle von Palästinensern bei militärischen Operationen der israelischen Armee ist derzeit höher und dramatischer als je seit dem Ende der zweiten Intifada.Auf der anderen Seite erleben wir gerade auch immer mehr Angriffe von Palästinensern gegen israelische Soldaten oder auch die Zivilbevölkerung.Ja, die verstärkte Gewaltausübung des israelischen Militärs führt zu einer Gewaltspirale, die von den Palästinensern mit Gegengewalt beantwortet wird. Aber wenn man nicht versteht, was der Grund für diese tief sitzende Enttäuschung von Millionen von Palästinensern ist, die seit dreieinhalb Generationen unter Besatzung und Entrechtung leben, versteht man eine wesentliche Ursache der Gewaltbereitschaft nicht. Der erste Schritt muss von den Israelis kommen. Sie sind die Besatzungsmacht und in diesem extrem asymmetrischen Konflikt mit stärkster militärischer Macht ausgestattet.Israel erklärt die militärischen Operationen und die immer restriktiver werdende Besatzung mit der eigenen Sicherheit.Die beste Garantie für die langfristige Sicherheit Israels ist, den Palästinensern ein Leben in Würde, Wohlstand und Frieden zu ermöglichen. Dazu muss man wissen, dass das exponentielle Bevölkerungswachstum in Palästina sowie die Klimakrise, die sich dort extrem auswirkt, die Ressourcenknappheit in den nächsten Jahren dramatisch verschlechtern werden. Wenn man die Palästinenserfrage nicht löst, wird es nicht nur eine Verarmung, sondern auch eine Radikalisierung sowie einen massiv ansteigenden Migrationsdruck geben. Das würde die Sicherheit Israels genauso gefährden wie die Sicherheit der Nachbarstaaten im arabischen Raum. Wir als Europäer, als nächste Nachbarn, werden davon ebenfalls betroffen sein. Insofern sind wir, als gute Freunde Israels, die Ersten, die sagen müssten: „Leute, werdet vernünftig – so kann es nicht weitergehen.“ Machen wir das? Nein, machen wir leider nicht.Warum machen wir das nicht?Ich glaube, Sie wissen als deutsche Journalistin selbst, dass der Holocaust wie ein Damoklesschwert über dem nationalen Bewusstsein der Deutschen schwebt. Und zu Recht tut er das. Aber es kann nicht sein, dass wir aufgrund dieser historischen Schuld ignorieren, dass in Palästina eine zweite Schuld existiert: die Schuld einem Volk gegenüber, das auch Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit, auf Menschenrechtsschutz, auf Völkerrechtsschutz hat. Und gerade weil wir kritische und aufrechte Freunde Israels sind, müssen wir uns auch ganz bewusst mit den Defiziten der israelischen Regierung auseinandersetzen. Wenn Freunde nicht mehr offen miteinander reden können, dann sind sie keine Freunde mehr.Sie sagten eingangs, öffentliche Diplomatie spiele eine große Rolle. Was meinen Sie?Es geht vor allem über die Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft. Ich habe großes Vertrauen in die Mobilisierungsfähigkeit von Zivilgesellschaft. Wenn die Palästinenserfrage ein wirkliches Bedürfnis der Menschen wird, wenn ihr Nichtlösen zu einem Vorwurf wird, der politische Konsequenzen für Politiker und Politikerinnen mit sich bringt, dann wird es Veränderung geben. Da geht es auch um die Apartheid-Diskussion und um die Frage, ob die israelische Besatzung eigentlich eine völkerrechtliche Verletzung darstellt, weil sie eben nicht mehr temporär ausgerichtet ist.Die Apartheid-Diskussion wird in den USA deutlicher geführt als in Europa und in Deutschland.Meine Meinung dazu: Das müssen internationale Gerichte entscheiden. Es gibt eine klare Apartheid-Definition, und das müsste eigentlich eine Entscheidung sein, die dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag überantwortet werden sollte. Aber zu sagen: Man kann nicht darüber reden, weil das dann antiisraelisch, oder schlimmer, antisemitisch wäre, kann ich nicht nachvollziehen. Denn das würde bedeuten, dass für Israel keine völkerrechtlichen Maßstäbe zu gelten hätten. Wie wollte man das rechtfertigen?Bei diesem Thema kochen die Emotionen hoch, ob privat oder in der Öffentlichkeit. Da hält man sich vielleicht lieber zurück, bevor man etwas Falsches sagt.Ja, aber da geht es auch um Zivilcourage. Damit meine ich Politiker, Diplomaten, Akademiker, Künstler – aber auch Journalisten. Entweder stehe ich zu meinen Prinzipien, die übrigens verfassungsrechtlich verankert sind, oder ich stehe nicht dazu. Ich verstehe natürlich den ... nennen wir es mal Pragmatismus, den Politiker an den Tag legen müssen, wenn sie Karriere machen wollen. Diplomaten müssen sich natürlich auch im Rahmen ihrer Diensttätigkeit zurückhalten. Aber das heißt nicht, dass wir uns in der Zivilgesellschaft, in öffentlichen oder akademischen Diskussionen Fußfesseln anlegen. Das hielte ich für den schlechtesten Dienst, den wir einem befreundeten Staat, dem wir eine historische Verantwortung schulden, leisten können.Lassen Sie uns noch einmal auf die Gewalt zu sprechen kommen. Sie eskaliert immer mehr.Es gibt seit dem Ende der zweiten Intifada keine anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen, die es nach Völkerrecht erlauben würden, dass man mit massiven militärischen Operationen im besetzten Gebiet vorgehen könnte. Sowohl im Westjordanland wie in Gaza handelt es sich um Gebiete, wo Israel als Besatzungsmacht die Verpflichtung hat, das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen und den physischen Schutz der ihm unterstellten Bevölkerung sicherzustellen. Gibt es also Fälle, wo dort Attentäter oder Terroristen vermutet werden, dann kann Israel als Besatzungsmacht mit Polizeimaßnahmen eingreifen. Das schließt nach geltendem Völkerrecht aber eindeutig massive Militäreinsätze in Brigadestärke mit Raketenbeschuss aus Apache-Helikoptern und Drohnen auf besetzte Gebiete in zivilen Siedlungen aus, so wie den der israelischen Armee kürzlich im Flüchtlingslager von Jenin. Das ist eine Verletzung des internationalen humanitären Rechts. Deswegen haben einige Juristen ja sogar von Kriegsverbrechen gesprochen.Bringen diese Militäroperationen vielleicht doch zumindest ein vorläufiges Ende der Gewalt?Gewalt erzeugt Gegengewalt. Wenn die israelischen Militäroperationen so erfolgreich wären, wie kann es dann sein, dass es immer noch ein hohes Gewaltpotenzial bei den Palästinensern gibt? Die einzige Lösung, die ich sehe, ist keine militärische. Es ist eine, die den Palästinensern die Möglichkeit gibt, ihren eigenen Staat zu einem funktionierenden Gemeinwesen aufzubauen, und dass man ihnen hilft, in Frieden, Würde und Wohlstand zu leben. Das ist die einzige Form, mit der man Sicherheit für Israel und für die Palästinenser schaffen kann. Irgendwann wird Israel das auch realisieren. Die Frage ist nur: Wie lange wird es dauern? Wie gewaltsam muss der Konflikt noch werden, bevor das alle kapieren? Vor allem die israelische Regierung. Aber auch wir Europäer, bevor wir endlich verstehen, dass wir uns da engagieren müssen, und zwar viel mehr als bisher. Als aufrichtige Freunde Israels und als wirkliche Freunde des palästinensischen Volkes. Unser politisches Nichtstun verlängert nicht nur den Leidensprozess, es ist auch nicht in unserem eigenen Sicherheitsinteresse.