Zwei Seiten, mehr brauchten die Mitglieder des jüdischen Volksrats nicht, um Geschichte zu schreiben. Natürlich hatten die 37 Männer und Frauen über jedes einzelne Wort diskutiert, wochenlang, denn: Wo zwei Juden, da drei Meinungen. Doch am Ende musste es schnell gehen. Als Sir Alan Cunningham, der letzte britische Hochkommissar für Palästina, am 14. Mai 1948 das Land verließ, versammelte sich die provisorische Regierung des Jischuw, des jüdischen Gemeinwesens im Mandatsgebiet, im alten Kunstmuseum am Rothschild-Boulevard in Tel Aviv. Am Nachmittag trat David Ben-Gurion vor die Weltöffentlichkeit und las die Erklärung vor. Im Namen aller Juden verkündeten die Unterzeichner „kraft unseres natürlichen und historischen Rechtes
75 Jahre Israel: Linke, feiert diesen Staat!
Israel Seit 75 Jahren trotzt der jüdische Staat seinen Feinden. Den Linken ist er ein Dorn im Auge. Warum sie damit Israels historischen Stellenwert als Symbol der Hoffnung verkennen – und warum das besonders für sie ein Grund zum Feiern wäre

Fortschritt ist möglich, und diese vier Israelis wissen es: Sukkot 1949
Foto: Robert Capa/International Center of Photography/Magnum Photos/Agentur Focus
es und aufgrund des Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen die Errichtung eines jüdischen Staates im Lande Israel – des Staates Israel“. Es war vollbracht: Nach 2.000 Jahren in der Diaspora gab es wieder einen jüdischen Staat. Die jüdische Bevölkerung feierte auf den Straßen.Doch das Land wurde im Krieg geboren. Die in der Unabhängigkeitserklärung zum Frieden ausgestreckte Hand schlugen die arabischen Staaten und Führer genauso aus wie den Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 und alle vorangegangenen Vermittlungsversuche. Am Tag danach zogen die Armeen Ägyptens, Jordaniens, Syriens, des Libanon und des Irak los, um zu vollenden, woran die Briten Erwin Rommel wenige Jahre zuvor bei El-Alamein noch gehindert hatten: die Juden aus Palästina ins Meer zu treiben. Der jüdisch-arabische Bürgerkrieg eskalierte zur größten Bedrohung jüdischen Lebens seit dem Kriegsende drei Jahre zuvor.Doch Israel hielt stand – dank Waffenhilfe aus den nominell sozialistischen Staaten Osteuropas und getrieben vom unbedingten Überlebenswillen seiner Bevölkerung. Auf den militärischen Sieg folgte indes ein ökonomisches Desaster. Mit dem Abzug der Briten war es endlich möglich, all die Überlebenden aus Europa aufzunehmen, die man zuvor nur heimlich ins Land hatte schmuggeln können. Dazu kamen bis zu 900.000 Juden aus den islamischen Staaten der Umgebung, die vor Pogromen flohen und vertrieben wurden. Unzählige Menschen lebten in Flüchtlingslagern, die Versorgungslage war miserabel.Wendepunkt SechstagekriegWas folgte, ist ein Wunder – Israel entwickelte sich zu einem blühenden, hochmodernen Land, zur einzigen Demokratie im Nahen Osten und tatsächlich zu dem, was es sein wollte und musste: zum besten Schutz jüdischen Lebens auf der Welt. Damit steht es für eine unvergleichliche wirtschaftliche, ökonomische und politische Erfolgsgeschichte, die Grund genug wäre, nun, 75 Jahre später, zu feiern. Doch in der Linken, ob in Europa oder weltweit, wollen das die meisten nicht sehen.Das war nicht immer so. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung herrschte unter Linken eine eher positive Haltung gegenüber dem Staat der Überlebenden der Shoah. Auch die Sowjetunion und ihre Satelliten waren proisraelisch eingestellt. Erst später änderte der Ostblock seine Außenpolitik, paktierte mit den Arabern gegen die USA und entwendete den innerjüdisch gebrauchten Begriff des Antizionismus, um eine judenfeindliche Haltung unter Linken global populär zu machen. Für die nichtkommunistische Linke wurde der Sechstagekrieg 1967 zum Wendepunkt. Mit dem schwachen, bedrohten Israel zu sympathisieren war leicht gewesen. Doch starke, militärisch erfolgreiche Juden – das passte nicht ins Weltbild.Seither ist eine antiisraelische Haltung unter Linken weit verbreitet, teils sogar hegemonial. Das hat nicht nur mit kulturell tradiertem, zum Antizionismus modernisiertem Antisemitismus zu tun. Es liegt auch daran, dass jene Katastrophe, die der Staatsgründung vorausging, unverstanden blieb. Wer nicht versteht, was Nationalsozialismus und Shoah bedeuten, wird auch nicht verstehen, was Israel bedeutet.Der Aufbau parastaatlicher Strukturen im Jischuw begann schon gut 30 Jahre vor der Staatsgründung und somit lange vor der Shoah. An guten Gründen für einen jüdischen Staat im historischen Siedlungsgebiet der Juden hatte es freilich schon vorher nicht gemangelt. Die antijüdische Politik des Zarenreichs und der sich zum Antisemitismus modernisierende Antijudaismus in Westeuropa hatten längst deutlich gemacht: Alle Bemühungen der Juden darum, in Europa friedlich leben zu können, waren zum Scheitern verdammt. Der Zionismus war die Reaktion darauf. „Die Katastrophe, die in unserer Zeit über das jüdische Volk hereinbrach und in Europa Millionen von Juden vernichtete“, wie es in der Unabhängigkeitserklärung heißt, hatte diese Notwendigkeit aufs Bitterste bestätigt. Man kann den Staat Israel nicht anders als unter dieser Prämisse betrachten.Die Shoah hat die Welt verändert, und sie musste auch die Linke verändern. Noch im Krieg spürten dies die deutschen Exilanten im kalifornischen Exil, zu denen auch Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Bertolt Brecht gehörten. So notierte etwa Friedrich Pollock, der Ökonom des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, schon im Dezember 1941: „In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht.“ Zu jener Zeit kursierten bereits Gerüchte über Massenmorde an der Ostfront.Spätestens mit Kriegsende war klar: Ein Abgrund hatte sich in der Geschichte aufgetan, und dieser Abgrund war für Marxisten ein Problem. Der Nationalsozialismus und seine Verbrechen erschütterten ihr Weltbild nicht nur, sie widerlegten es. Proletariat, Fortschritt, Revolution – alle zentralen Begriffe der Linken waren beschädigt. Denn statt den Weg zur sozialistischen Weltrepublik zu ebnen, lief die deutsche Arbeiterbewegung, auf der so viele Hoffnungen ruhten, in großen Teilen zum Faschismus über. Der Klassenwiderspruch wurde nicht ins Reich der Freiheit aufgelöst, sondern die Klassen gingen bereitwillig in der Volksgemeinschaft auf. Und statt einer sozialistischen Revolution, die das Kapital abschaffte, wütete eine deutsche Revolution, die die Juden und mit ihnen gleich die Zivilisation abschaffen wollte.Im Laufe der Zeit gingen die meisten Linken jedoch zur Tagesordnung über. Sie sahen im Nationalsozialismus etwa die „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (so die Dimitroff-These), in der der Antisemitismus die Rolle eines Opiums fürs Volk einnahm. Aber der Nationalsozialismus war mehr als das. Er war die konkrete Revolution gegen das abstrakte Kapital, das mit den Juden identifiziert wurde. Ihre Vernichtung war keine Randerscheinung, sondern das Telos der Naziherrschaft.Weil die Emanzipation aller ausblieb, weil der Fortschritt nicht zur Freiheit, sondern zu absoluter Unfreiheit, zu Auschwitz führte, ist die Heilsgeschichte der Menschen suspendiert. Was die Linke also versäumte, ist die Trauerarbeit um die eigene Revolution. Wenn der Kommunismus aber, wie Marx sagt, das „aufgelöste Rätsel der Geschichte ist“, ist Israel dessen Schibboleth. Es ist der bewaffnete Einspruch gegen das Scheitern der Aufklärung und seine Existenz Ausweis der Hoffnung, dass die Befreiung aller noch möglich ist, dass die Geschichte des menschlichen Fortschritts eben nicht in Auschwitz ihr Ende fand.Das ist der historische Gehalt des Staates Israel, der von den konkreten Aktionen seiner Regierungen unberührt bleibt. Deswegen misslingt es auch, Israel an herkömmlichen Maßstäben zu messen. Linke sind schließlich gegen Staaten, Nationen, gegen Waffen und Gewalt – doch Israel ist, als Notwehr, der einzige Staat, der überhaupt ein Existenzrecht hat, und seine überlegene Bewaffnung der Garant jedes ernst zu nehmenden „Nie wieder“.Vor diesem Hintergrund entpuppt sich der palästinensische Widerstand gegen die jüdische Präsenz im Nahen Osten als Konterrevolution. Dabei ging es nie nur um einen eigenen Staat – den hätten jene Araber, die sich ab den 1960ern als Palästinenser neu erfanden, schon viele Male haben können –, sondern vielmehr um die Vollendung dessen, was den Nazis nicht gelungen war: ein judenreines Palästina „from the river to the sea“ zu schaffen. Die israelischen Streitkräfte sind somit de facto die schlagkräftigste antifaschistische Gruppe der Gegenwart.„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“ Die Konsequenz dieses Satzes von Adorno sollte zur Maxime für jeden Linken werden: bedingungslose Solidarität mit Israel.