Westbank: Omar al-Khmour trug einen Brief bei sich, gefaltet und zerfranst
Reportage Palästinenser*innen tragen Abschiedsbriefe an ihre Eltern bei sich. Ein Verhalten, das umso verbreiteter ist, je explosiver die Situation. Sie wollen eine letzte Botschaft hinterlassen, sollten sie bei israelischen Angriffen getötet werden
Omars Mutter Samira al-Khmour in ihrem Haus im Flüchtlingslager Dheisheh mit Jamal, auf dessen Pullover das Konterfei seines Freundes Omar zu sehen ist
Foto: Klaus Petrus
Vielleicht lag er ohnehin wach, hatte trübe Gedanken oder konnte einfach nicht von seinem Smartphone lassen. Vielleicht aber schlief er tief zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens, als das israelische Militär mit gepanzerten Jeeps ins Flüchtlingscamp Dheisheh südlich von Bethlehem in der Westbank eindrang und das Feuer eröffnete. Da rannte er womöglich mit Freunden auf die Straße, stellte sich ihnen in den Weg, warf Steine und Flaschen gegen die Fahrzeuge. Oder er hatte damit nichts zu tun, ging aus Neugier vor die Tür und geriet zwischen die Fronten, eine Handvoll bewaffneter Palästinenser hier, israelische Armee ihnen gegenüber. Obschon das wohl eher nicht zutrifft, denn in der Hosentasche des 14-jährigen Omar al-Khmour fand man e
n einen Brief, gefaltet und zerfranst, in dem stand: „Und sollten sie mich töten, Mutter, bitte sei nicht traurig.“Tatsache ist, der Junge wurde am 16. Januar 2023, 6.40 Uhr, gut 150 Meter von seinem Elternhaus in Dheisheh entfernt von einem gezielten Schuss eines israelischen Scharfschützen in den Kopf getroffen und erlag Stunden später im Spital von Beit Jala seiner Verletzung. Tags darauf wurde Omar al-Khmour auf einer Bahre als Märtyrer durch die Straßen getragen, Tausende liefen mit. In einem Video ist Omars engster Freund Jamal zu sehen, und Samira, die Mutter, wie sie ihren Sohn auf die Wange küsst, bevor er begraben wird. „Wir nannten ihn Baklava, wie das Gebäck. Weil er so süß war, so lieb, weil er sich immer sorgte um alle anderen. Er bewunderte seine Brüder, holte mir das Gemüse vom Markt. Nun bin ich allein.“Den „Märtyrern Palästinas“ folgen„Vergib mir, Mutter, und weine nicht“ – die letzte Zeile aus Omars Brief, den er offenbar schon Wochen vor seinem Tod bei sich getragen hatte. Samira wusste nichts davon – bittere, wütende, pathetische Worte des Abschieds sind es, für den Fall, dass die Israelis ihn töten sollten. Jetzt hält Samira das zerknitterte Blatt mit den Schriftzügen ihres Sohnes in der Hand und schüttelt den Kopf. „Er wollte nicht sterben, er wollte leben.“Er habe mit Omar darüber gestritten, erzählt der Freund Jamal, ebenfalls 14 Jahre alt. „Lass diesen Unfug, das bringt bloß Unglück“, habe er gesagt, als er von dem Abschiedsbrief erfuhr. Omar habe bloß erwidert: „Wir folgen den Märtyrern Palästinas.“ Am Tag des Begräbnisses hat Jamal den Satz – „Wir folgen dem Weg unserer Gefangenen, wir folgen den Märtyrern Palästinas“ – vor der Trauergemeinde verlesen. Der Vater des Toten hat es fotografiert und an die Familie, an Verwandte und an Freunde seines Sohnes geschickt. Sie sollten davon wissen.In jenem Brief war auch von Uday al-Tamimi die Rede, einem 22-jährigen Palästinenser, der im November nach einer Attacke auf israelische Sicherheitskräfte zwölf Tage lang auf der Flucht war, bevor er erschossen wurde. Al-Tamimi wurde in den sozialen Medien zur Ikone einer kommenden Intifada. Auch er hatte vor seinem Tod einen Brief verfasst, in dem es heißt: „Ich weiß, dass ich den Märtyrertod sterben werde. Und ich weiß, es werden nach mir Hunderte kommen, die wie ich zu den Waffen greifen.“ Natürlich hätte er mit Omar über Uday geredet und über diesen Brief, sagt Jamal. Sie wollten nicht einfach dasitzen und nichts tun wie alle anderen ringsherum, die Brüder, die Väter, die Lehrer an der Schule.120 Getötete vor DscheninMittlerweile tauchen immer mehr von diesen Abschiedsbriefen auf, oft kämpferisch und anklagend, aber ebenso voller Angst und Verzweiflung. Und mit ihnen wird an die Toten erinnert. Allein dieses Jahr sind bisher 120 Palästinenser getötet worden, darunter 44 Kinder. Zusammen mit den Toten des Vorjahres sind das insgesamt fast 400, so viele wie seit Ende der Zweiten Intifada 2005 nicht mehr. Diese Zahlen kursierten, bevor der israelische Angriff auf die palästinensische Stadt Dschenin am 1. Juli begann und dort auch dicht besiedelte Wohngebiete aus der Luft angegriffen wurden, eine Operation, wie es sie seit 20 Jahren nicht gegeben hat. Die Vereinten Nationen sind „alarmiert“.In der Westbank würden die Menschen immer wieder davon hören, wie israelische Siedler palästinensische Bauern vertreiben oder Soldaten in Jerusalem auf betende Menschen einprügeln, meint Tahseen Elayyan, Anwalt für die Menschenrechtsorganisation al-Haq, die von der israelischen Regierung seit Ende 2021 als „terroristisch“ eingestuft wird. Die Abschiedsbriefe der Jugendlichen sind für ihn eine Botschaft an die eigenen Leute, nicht aufzugeben. Diese Hinterlassenschaft lese sich anders als das Bekenntnis eines Selbstmordattentäters. Parolen finde man darin kaum, ebenso wenig Zitate aus dem Koran. „Vielmehr sprechen sie die Versäumnisse der älteren Generation an und fragen: Wieso lasst ihr all das mit euch geschehen?“„Wir sind allein, niemand hilft uns“, sagt auch Jamal und zitiert noch einen Satz aus Omars Abschiedsbrief: „Die kommenden Generationen mögen in Freiheit leben.“ Da im Moment das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern kaum konfrontativer sein könnte, ist von einer möglichen Dritten Intifada die Rede, weil der palästinensische Widerstand wieder größer werde. Tahseen Elayyan von al-Haq ist skeptisch. Zwar hätten sich in den vergangenen Jahren im Norden der Westbank bewaffnete Milizen aus überwiegend jungen Männern gegründet, die „Dschenin-Brigaden“ etwa oder die „Höhle der Löwen von Nablus“. Daraus zu schließen, dass der Widerstand auf palästinensischer Seite größer werde, hält Elayyan für falsch. „Es wird übersehen, dass die israelischen Streitkräfte häufiger eine ‚shoot-to-kill policy‘ anwenden.“Nichts zu befürchtenBei Razzien etwa werde nachweislich öfter geschossen. Es seien mehr Scharfschützen im Einsatz. Darüber hinaus werde der Eindruck erweckt, die Toten auf Seiten der Palästinenser wären ausnahmslos Mitglieder organisierter Milizen, so Elayyan. „Was nicht stimmt, wie unsere Studien zeigen. Zwei Drittel der von der israelischen Armee 2022 Getöteten waren Zivilisten, ein Drittel davon Jugendliche und Kinder, die keine Waffen bei sich trugen.“ Die Zahl der Toten auf palästinensischer Seite sei schlichtweg deshalb gestiegen, weil die israelischen Streitkräfte mehr Menschen erschössen, statt sie zu verwunden oder zu vertreiben – und nicht weil der Widerstand an sich gewachsen sei.Dass vermehrt eine „shoot-to-kill policy“ verfolgt werde, habe auch mit der neuen Regierung Israels zu tun, speziell mit Itamar Ben-Gvir, dem Minister für Nationale Sicherheit. „Ein zigmal angeklagter Rassist“, erinnert Elayyan. Tatsächlich stand Ben-Gvir mehr als 50-mal wegen Anstiftung zu Gewalt und Hassreden vor Gericht. Von seiner rechtsextremen Gesinnung zeugen Videos, in denen er dazu auffordert – ohne zu zaudern –, auf palästinensische Steinewerfer zu schießen. Israelische Soldaten, die Palästinenser töten, nennt er „die Helden Israels“. Dazu passe, dass die israelischen Behörden immer weniger Fälle von Tötungen durch die Armee untersuchen, sagt Elayyan. „Die Soldaten dürfen abdrücken, zu befürchten haben sie nichts.“Keine Perspektive im FlüchtlingslagerFür den Menschenrechtsanwalt sind palästinensische Jugendliche anfällig für den Heldenkult der Märtyrer. „In dieser Phase ihres Lebens sind sie unsicher, sie suchen nach Halt. Schule, Sport, soziale Medien – und sonst? Vor allem die Kids aus den Flüchtlingslagern haben kaum Perspektiven. Die Arbeitslosigkeit dort liegt im Schnitt bei 40 Prozent. Sie gehen jeden Tag an den Plakaten der Märtyrer vorbei – klar werden die zu Identifikationsfiguren.“„Ich träume von vielem“, stand auch in Omars letztem Brief. Nun ist sein Gesicht auf einem dieser Plakate zu sehen, gleich am Eingang zum Flüchtlingslager, entlang der Friedhofsmauer, auf dem Markt, vor der Schule und im Haus von Samira und Munir: Omar mit einer Baseballmütze und im Trainingsanzug, darüber die Worte: „Im Namen Allahs, des Barmherzigen“. Sie werde Omar immer vor Augen haben, wo sie auch sei, sagt seine Mutter Samira. „Niemals wird dieser Schmerz ein Ende haben. Und der Schmerz einer Mutter ist die einzige Wahrheit. Töten sie einen von uns, so töten sie uns alle.“ Jamal nimmt Samiras Hand, sie versucht zu lächeln. Jeden Tag komme er vorbei, sagt Jamal in seinem schwarzen Hoodie mit Omars Konterfei. So stehe es im Brief: „Besucht meine Mutter, lasst sie nicht allein.“ Dieser Brief, der so viel Trauer ausgelöst hat und so viel Wut. Jamal wird all das niemals vergessen können, davon ist Samira überzeugt, und irgendwann werde er seinen Kindern davon erzählen, wie sein bester Freund Omar gestorben ist. Sie wünscht sich, dass ihr Sohn der Letzte wäre, der einen solchen Abschiedsbrief schreiben musste und immer bei sich tragen wollte. Und Jamal sagt bloß: „Du wirst schon sehen.“