Wieder wird es nichts mit dem Kampf für die Freiheit Palästinas. Doch heute sind es keine Raum-Absagen oder Demo-Verbote, die den pro-palästinensischen Aktivist*innen einen Strich durch die Rechnung machen. Stattdessen beendet Berlins erster Regen seit Wochen die kleine Kundgebung vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin Brandenburg (OVG). Rund 30 Menschen mit Palästina-Schals und BDS-Pappschildern drängen sich nun schutzsuchend gegen die mächtigen Mauern des Gerichtsgebäudes. Ob man nicht wenigstens in den Vorraum dürfe? Doch der Sicherheitsmann bleibt hart.
Ob das Gericht juristisch helfen kann, entscheidet sich an diesem Freitagmorgen drei Etagen weiter oben. Im Großen Sitzungssaal klagt ein ungleiches Trio aus pro-palästinensischen Aktivist
n Aktivist*innen gegen den Bundestag: der deutsch-palästinensische Unternehmensberater Amir Ali, der Oldenburger Lehrer Christoph Glanz und die deutsch-jüdische Rentnerin Judith Bernstein, die wegen Krankheit von ihrer Tochter Sharon Blumenthal vertreten wird.In einer Resolution hatte der Bundestag im Mai 2019 „Argumentationsmuster und Methoden“ der Boycott-Divestment-Sanctions-Bewegung (BDS) für antisemitisch erklärt, ihren Anhängern Finanzen und Räume entsagt und Länder und Gemeinden aufgefordert, es ihm gleichzutun. BDS ist eine Solidaritätsbewegung, die einem Aufruf von mehreren Gruppen der Zivilgesellschaft in Palästina/Israel nachkommt und sich dafür einsetzt, Vertreter und Institutionen des Staates Israel zu boykottieren. Die Bundestagsresolution sei ein gefährlicher Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Versammlungs-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, argumentiert Kläger-Anwalt Ahmed Abed. Nicht mehr als eine völlig legitime und rechtlich nicht bindende Meinungsäußerung, halten die Anwälte des Bundestages, Christian Mensching und Christian Johann, entgegen. Eine Bewertung, der sich in erster Instanz im Oktober 2021 auch das Verwaltungsgericht Berlin anschloss.Antisemitismus oder Freiheitskampf?Die Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) geht zurück auf eine Initiative von 170 palästinensischen NGOs aus dem Jahr 2005. Deren Forderung: Israel solle so lange international isoliert werden, bis es die Besatzung des Westjordanlands beende, palästinensische Flüchtlinge zurückkehren lasse und allen Menschen in Israel und Palästina gleiche Rechte gewähre. Dabei beschränkt sich BDS nicht auf Sanktionen gegenüber israelischen Politiker*innen oder den Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten. Stattdessen fordert die Kampagne die Isolation des Staates als ganzen, und setzt sich auch für den Boykott von Personen und Institutionen in Kultur, Sport oder Wissenschaft ein, wenn diese die Politik der Regierung mittragen.Spätestens seitdem die israelische Regierung BDS zur strategischen Bedrohung des Landes erklärt hat und ihrerseits Millionen in den Kampf gegen die Kampagne steckt, ist die Debatte auch in Deutschland angekommen. In Politik, Kultur, Medien und vor Gerichten wird seitdem diskutiert: Bedeutet BDS einen Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser oder gegen das Existenzrecht Israels? Eine Kampagne in Tradition der südafrikanischen Anti-Apartheidbewegung oder einen nach Vorbild der NS-Parole „Kauft nicht bei Juden“? Ist BDS Antisemitismus oder Freiheitskampf?Das „End Israeli Apartheid“-Shirt geht dem Richter dann doch zu weitUm all das geht es in Saal 301 des OVG Berlin Brandenburg nicht. Stattdessen dreht sich die Verhandlung vor allem um eine Frage: Ist ein Verwaltungsgericht überhaupt der richtige Ort, um über mögliche Grundrechtseinschränkungen durch den Bundestag zu verhandeln? Wäre das Bundesverfassungsgericht nicht die geeignetere Adresse für solch eine grundsätzliche Frage?Aber nicht nur bei der Rechtsauffassung prallen an diesem Tag Welten aufeinander. Während die einen kämpferische Slogans in die Kameras und Mikros von ZDF, SWR und Al-Jazeera sprechen, heißt es bei den anderen nur: „Kein Kommentar“. Man möge sich doch bitte an die Pressestelle der Bundestagsverwaltung wenden. Doch auch diese antwortet nur knapp: Man wolle sich erst nach der schriftlichen Urteilsbegründung äußern.Während die Vertreter des Bundestages in schwarzen Roben über ihren Akten sitzen, posieren die BDSler mit „Free Palestine“-Shirt vor der Richterbank für die Fotografen. Nur der Slogan „End Israeli Apartheid“ auf dem Shirt von Amir Ali geht dem Richter dann doch zu weit. Man einigt sich darauf, dass er während der Verhandlung seine Jacke anbehält. Ob man nicht doch noch eines der persönlichen Statements verlesen dürfe? Man sei doch extra angereist. Doch der Richter bleibt hart. Man habe sich doch bereits schriftlich sehr umfassend geäußert.Gerichte entscheiden immer wieder zugunsten der BDS-AktivistenWie umfassend, lässt sich in etwa an der Dicke der Aktenordner auf den Tischen beider Parteien ablesen. Über 40 Fälle entzogener Räume, abgesagter Veranstaltungen und verbotener Kundgebungen listen die BDS-Aktivist*innen und ihr Anwalt dort auf. Immer wieder hätten sich kommunale Behörden bei ihren Verboten explizit auf die BDS-Resolution des Bundestages bezogen.In vielen Fällen haben Gerichte den Aktivist*innen im Anschluss recht gegeben. Raumverbote wurden wieder gekippt, Äußerungen, in denen sie als Antisemiten bezeichnet wurden, untersagt. Erst im Mai dieses Jahres gab das Frankfurter Verwaltungsgericht einer Klage von Judith Bernstein gegen den früheren Bürgermeister der Stadt Uwe Becker recht. Dieser hatte Bernstein in einer Pressemitteilung auf der Website der Stadt als „Sympathisantin judenfeindlicher Israelhasser“ bezeichnet. Auch das Bundesverwaltungsgericht urteilte im Januar 2022: Städte dürften Diskussionen über Israelboykotte in kommunalen Räumen nicht pauschal verbieten, da dies unzulässig in die Meinungsfreiheit eingreife.Das Gericht urteilt, nicht zu urteilenZeigen diese Gerichtsentscheide nicht, dass der Rechtsstaat funktioniert? Dass die BDS-Resolution des Bundestages doch nicht so mächtig ist, wie die Kläger*innen meinen? „Es kann doch nicht sein, dass wir hunderte Male klagen und immer wieder recht bekommen. Dann muss doch etwas mit dem BDS-Beschluss nicht stimmen“, sagt Amir Ali, nachdem der Richter nach längerer Diskussion den drei Aktivist*innen doch ein kurzes Abschlussstatement gestattet.Als Sharon Blumenthal ihr Statement verließt, wird es dann doch noch einmal politisch: Ihre Mutter habe den Großteil ihrer Familie im Holocaust verloren, verlege Stolpersteine, bekäme nun nicht einmal mehr Räume für Preisverleihungen und müsse sich als Judenhasserin bezeichnen lassen. Es sei zynisch, sie immer wieder auf den Rechtsweg zu verweisen. „Meine Mutter ist schwer krebskrank. Ich befürchte, sie wird das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben.“Placeholder image-1Nach rund anderthalb Stunden endet die Verhandlung und das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Kaum eine Stunde später ist auch dies schon vorbei. Hatten Verhandlung und Beratung in erster Instanz noch bis in den Abend gedauert, ist vor dem OVG um kurz nach halb zwei schon alles gesagt: Auch diesmal weist der Richter die Klage der BDS-Aktivist*innen zurück und eröffnet dennoch eine neue Perspektive. Während das Berliner Verwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit der Bundestagsresolution explizit bejahte, sieht sich das OVG hierfür gar nicht zuständig. Stattdessen erklärt es die Angelegenheit zu einer Sache für das Bundesverfassungsgericht. Wegen der „grundsätzlichen Bedeutung“ des Falles lässt es außerdem Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht zu. Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger.Von einem Erfolg will Anwalt Ahmed Abed im Abschluss genauso wenig sprechen wie von einer Niederlage. Wie weit sie denn noch gehen wollen? „Bis zum Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“. Aber allein bis zur Revisionsverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht könne es zwei Jahre dauern, sagt er im Nieselregen vor den Toren des Gerichtsgebäudes. BDS-Aktivist*innen sind heftigere Niederschläge gewohnt.