Demokratie Zwar konnten Araber:innen sich in der Vergangenheit an Israels höchste Instanz der Rechtsprechung wenden, wenn ihre Rechte verletzt wurden – Viele Gesetze, mit denen Besatzungsrecht durchgesetzt wurde, blieben dabei jedoch unangetastet
Ein Recht auf Rückkehr bleibt den 1947/48 vertriebenen Palästinensern bis heute verwehrt
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Benjamin Netanjahus Finanzminister Bezalel Smotrich tritt für einen „Transfer“ möglichst „aller Araber“ aus Israel in arabische Länder ein. Dies, wie vieles andere auch, konterkariert die verbreitete Lesart, es handle sich bei Israel um die bislang „einzige Demokratie im Nahen Osten“. Die deutsch-israelische Historikerin Tamar Amar-Dahl schreibt in ihrem Buch Der Siegeszug des Neozionismus, man habe es eigentlich mit einer Ethno-Demokratie zu tun. Formal gleiche Israel eher den USA, bevor Native Americans und Afroamerikanern die vollen Bürgerrechte zuerkannt wurden.
Die seit Monaten andauernden Proteste Hunderttausender Israelis gegen die Unterordnung des Obersten Gerichts unter Beschlüsse von Knesset und Regierung blenden ausgere
ung blenden ausgerechnet den Sachverhalt aus, um den es den rechtszionistischen Kräften in Netanjahus Koalition eigentlich geht: Hindernisse abzuräumen und palästinensischen Widerstand in der Westbank zu brechen. Itamar Ben-Gvir, Minister für öffentliche Sicherheit, hat freie Hand dabei, eine Nationalgarde aufzustellen, die Begehrlichkeiten von Siedlern nach palästinensischem Land entschiedener unterstützt als die zumindest formal an Regeln gebundene Armee. Dass sich immer mehr Reservisten und sogar 100 Kampfpiloten den Protesten gegen die Justizreform angeschlossen haben, deutet darauf hin, dass in den Streitkräften die Befürchtung wächst, zu Militäraktionen herangezogen zu werden, die auf internationaler Ebene noch mehr geächtet werden als bisher. Amtssprache Arabisch obsoletDa Israel keine Verfassung hat, war das Oberste Gericht die einzige Instanz, mit der auch Palästinenser zuweilen noch Rechte durchsetzen konnten. Die Betonung liegt auf „zuweilen“. Das 2017 erlassene „Boykott-Gesetz“, wonach diejenigen, die zum Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten aufrufen, für den entstandenen Schaden einen Ausgleich zahlen sollten, annullierte das Oberste Gericht 2018. Erfolg hatte die Klage von Palästinensern gegen die illegal errichtete Siedlung „Sill Watt Hope“. Am 9. Juni 2020 kippten die Richter das 2017 erlassene Gesetz zur Legalisierung von Siedlungen in Judäa und Samaria, wie das Westjordanland in Israel offiziell heißt. Die Begründung lautete, das Recht auf Eigentum, Gleichheit und Würde von palästinensischen Landeigentümern werde unverhältnismäßig eingeschränkt. Diese bemerkenswerte Entscheidung hat jedoch nicht verhindert, dass nach wie vor ungenehmigte Siedlungen auf palästinensischem Boden errichtet werden und schon vor der Justizreform unbehelligt blieben. 2002 erließ die „Regierung der nationalen Einheit“ unter Ariel Scharon eine „Notverordnung“, die verhindern sollte, dass Palästinenser aus besetzten Gebieten durch Heirat mit arabischen Israelis deren Staatsbürgerschaft erlangen. 2003 wurde diese Verordnung von der Knesset als „Staatsbürgerschaftsgesetz“ bestätigt und alljährlich verlängert, bis sie am 6. Juli 2021 vom Obersten Gericht annulliert wurde. Laut der Historikerin Amar-Dahl geschah dies aber nur, weil sich die Auffassung durchsetzte, dass die Zusammenführung palästinensischer Familien auch mit dem 2018 verabschiedeten und vom Obersten Gericht gebilligten „Nationalstaatsgesetz“ unterbunden werden könne. Mit diesem Gesetz wurde im Übrigen Arabisch als zweite Amtssprache abgeschafft. Nicht gekippt wurde das „Kaminitz-Gesetz“ von 2012, das den Abriss angeblich illegaler palästinensischer Gebäude ermöglicht, wie auch das 2016 erlassene „Anti-Terror-Gesetz“. Es verfügt, jedweden palästinensischen Widerstand im Keim zu ersticken. Unangetastet blieb ein weiteres Gesetz von 2016, das den Ausschluss arabischer Abgeordneter erlaubt, wenn sie irgendetwas an der offiziellen Gesetzgebung kritisieren.Auch das „Nakba-Gesetz“ blieb stets gültig, was näherer Betrachtung bedarf. Die Knesset erließ dieses Dekret 2011, um Palästinensern, die auf dem von Israel beanspruchten Territorium leben, zu untersagen, ihrer „Katastrophe“ – der „Nakba“ von 1948 – öffentlich zu gedenken. Der „Nakba-Tag“ fällt auf den 15. Mai, unmittelbar nach dem Jahrestag der israelischen Staatsgründung von 1948. Als die vollzogen wurde, griffen fünf arabische Armeen an. In einem bis heute verbreiteten Narrativ wird die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung mit diesem Angriff in Verbindung gebracht. Als sich die arabischen Truppen zurückzogen, hätten Tausende von Palästinensern panisch ihre Heimat verlassen, so die Legende. Manchmal wird behauptet, es sei versucht worden, sie zurückzuhalten.Unterbelichtet bleibt, dass die planmäßige Vertreibung von Palästinensern schon ein halbes Jahr zuvor begann. Eine von palästinensischen Forschern im Libanon erstellte Liste der Vertreibungen hält fest, dass am 25. Dezember 1947 986 Menschen aus Al-Mas’udiyya und am 31. Dezember 418 aus Al-Muwaylih vor Gewalt flohen – beide Dörfer lagen im Bezirk Jaffa. Wie der israelische Historiker Benny Morris schreibt, gab die jüdische Terrororganisation „Haganah“ Ende Dezember einen ersten tödlichen Schuss auf einen Tankstellenbesitzer im dörflichen Gebiet um die Ortschaft Lifta im Distrikt Jerusalem ab. Damals lebten dort nur muslimische und einige christliche Bauern.Dem palästinensischen Historiker Arif al-Arif zufolge drangen am 28. Dezember 1947 Terroristen mit Gewehren und Maschinenpistolen in ein Café in Lifta ein, töteten sechs Personen und verwundeten sieben. Es folgten Razzien und Sprengungen von Häusern. Benny Morris konstatiert, es sei das Ziel erreicht worden, die Palästinenser aus Lifta zu vertreiben. Die Bilanz verzeichnet 2.958 Menschen, die aus Lifta und Umgebung weggehen mussten. Laut Geschichtsschreibung der „Haganah“ ging es um die Sicherung des westlichen Ausgangs von Jerusalem. Am 7. Februar 1948 lobte David Ben-Gurion, damals Vorsitzender der Jewish Agency, später erster Ministerpräsident Israels, auf einer Versammlung der Mapai-Partei: „Durch euren Einzug in Jerusalem über Lifta-Romema, durch Mahane Jehuda, die King George Street und Mea Sharim gibt es keine Fremden mehr, aber einhundert Prozent Juden.“ Bis zum 30. April 1948 – also zwei Wochen vor der Staatsgründung und dem arabischen Angriff – waren aus 111 kleineren Orten Palästinas mehr als 80.000 Menschen vertrieben worden, nicht mitgezählt all jene, die nicht länger in den Städten Tiberias, Haifa, Jaffa und Jerusalem bleiben konnten. Signalwirkung für die Massenflucht hatte das Massaker in dem westlich von Jerusalem liegenden Dayr Yasin am 9. April. In Friedrich Schreibers und Michael Wolffsohns Buch Nahost. Geschichte und Struktur des Konflikts ist zu lesen, dass die Bewohner 1942 mit der benachbarten jüdischen Siedlung Givat Schaul einen „Freundschaftspakt“ geschlossen und sich nicht an einen antijüdischen Aktionen beteiligt hätten. „Die Terrormilizen Etzel und Lechi griffen das Dorf am Morgen des 9. April 1948 gemeinsam an. Da sich einige Einwohner wehrten, konnten die Angreifer nur den Ostteil des Ortes erobern. Darauf kam ein Palmach-Trupp der ‚Haganah‘ den beiden Milizen zu Hilfe und eroberte alles. Als der abgezogen war, fielen die Etzel- und Lechi-Männer über die Dorfbewohner her und erschossen wahllos Männer, Frauen und Kinder. 254 Menschen fielen dem Massaker zum Opfer.“ In den Monaten vor und nach der Staatsgründung flohen insgesamt 750.000 Menschen in die Nachbarländer. Die, die blieben, sind seither Bürger zweiter Klasse. Immerhin erhielten sie die israelische Staatsbürgerschaft. Palästinenser in den von Israel im Sechstagekrieg 1967 eroberten Gebieten gelten hingegen offiziell als „Jordanier“. Die denkbare Perspektive, die besetzten Territorien gegen ein umfassendes Friedensabkommen mit den arabischen Staaten aufzugeben, wurde von rechtszionistischen Kreisen erfolgreich bekämpft. Es kam zum weitgehenden Scheitern der beiden Oslo-Abkommen aus den frühen 1990er Jahren, wonach der von Jassir Arafat geführten PLO in einigen Städten und Gebieten der Westbank und in Gaza Verwaltungsautonomie zugestanden wurde. Faktisches Ergebnis davon war, dass sich der israelische Staat der humanitären Pflicht als Besatzungsmacht bezüglich Ernährung und Gesundheitsversorgung entledigte. Bald begann der Bau illegaler Siedlungen. Und der Mord an Jitzchak Rabin 1995 leitete die von rechtszionistischen Bewegungen betriebene Marginalisierung der Friedensbewegung ein.Offensichtlich, um dem inflationär um sich greifenden Antisemitismus-Vorwurf zu entgehen, hat das Präsidium des Evangelischen Kirchentags 2023 entschieden, das Aufstellen einer vom „Verein Flüchtlingskinder im Libanon e. V.“ 2008 erstellten, permanent überarbeiteten Nakba-Ausstellung erstmals nicht zu autorisieren. Die UNO hingegen hat den Nakba-Tag 2023 in ihr offizielles Programm aufgenommen.