Mehr als nur eine Tragödie: Benjamin Netanjahu zerstört die Identität seines Landes

Meinung Mit der Justizreform wird ein seit der Staatsgründung geltendes Versprechen gebrochen, wonach ein vorzugsweise jüdischer auch ein demokratischer Staat sein kann
Ausgabe 30/2023
Israelische Polizei hindert Demonstranten, die Straße zur Knesset zu blockieren, wo das Parlament über die Justizreform abgestimmt hat
Israelische Polizei hindert Demonstranten, die Straße zur Knesset zu blockieren, wo das Parlament über die Justizreform abgestimmt hat

Foto: Ohad Zwigenberg/AP/picture alliance

Israel ist derzeit nicht existenziell bedroht. Es wird kein autoritäres Regime gebraucht, das allein garantieren kann, den israelischen Staat zu erhalten. Wenn sich eine ultrarechte Regierung dennoch zu exemplarischer Selbstermächtigung aufschwingt, dann ohne Not, aber in selbstgewissem Hochmut. Mit der Justizreform, die in Teilen gerade durch die Knesset ging, wird ein Versprechen gebrochen, das jahrzehntelang zu halten schien: Ein vorrangig jüdischer Staat ist kein Gottes-, sondern ein demokratischer Staat. Tugenden wie Pluralität und Gewaltenteilung sind fast so viel wert wie dessen Existenz an sich. Israel zu schützen, hieß stets, nicht nur sein Daseinsrecht, sondern gleichsam sein Werteverständnis zu wahren. Davon zehrten Legitimität und Identität.

Ist das nun perdu? Oder wie viel ist davon perdu, wenn theokratisch anmutende Machthaber mit messianischer Inbrunst angreifen, was bisher als uneinnehmbar galt? Entlädt sich der Geltungsdrang von Extremisten, die als Erlöser Israels paradieren, aber nicht ewig regieren? Oder ist es mehr? Benjamin Netanjahu wollte sich an Minister wie Yariv Levin, Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir ketten, die weniger Politiker als Überzeugungstäter sein wollen. Nur durch den Pakt mit dieser Klientel konnte er noch einmal Regierungschef werden, nur wenn dieser Pakt hält, bleibt er es. Insofern war es von vornherein aussichtslos, der Justizreform durch einen Kompromiss Affront und Provokation nehmen zu wollen. Wenn der kategorische Imperativ zur Ultima Ratio einer Regierung wird, muss ein solches Ansinnen scheitern und Millionen von Andersdenkenden brüskieren, die seit Monaten auf die Straße gehen, um das Unheil abzuwenden.

Es wäre verfehlt, dies als „Tragödie“ zu beklagen. Tragödien haftet das Unerwartete oder Unvermeidliche eines Schicksalsschlages an. Ein solcher ist Israel nicht widerfahren. Die Hybris der Nationalreligiösen hat ihre Vorgeschichte und mit mehr als einem halben Jahrhundert der Willkür in den besetzten Gebieten zu tun. Wer kaum Skrupel kennt, das palästinensische Volk als zweitklassiges Übel zu betrachten und notfalls mit Gewalt aus dem Weg zu räumen, betreibt Raubbau an seiner demokratischen Konstitution. Der muss dem irgendwann Tribut zollen. Wenn man sich fragt, bei welchen Entscheidungen die Exekutive dem Obersten Gericht künftig ein Einspruchsrecht verweigern darf, kommen einem Beschlüsse in den Sinn, die den Siedlungsbau forcieren, das Existenzrecht von Palästinensern missachten und eine Annexion der Westbank vorantreiben. Da waltet kein Schicksal, sondern Kalkül.

Vorübergehend oder für immer wird Israel damit den arabischen Autokratien ähnlicher, die seine Umgebung bevölkern. Das muss nicht den Keim neuer Kriege in sich tragen. Im Gegenteil, wenn sich Systeme nivellieren, kann das die Beziehungen davon geprägter Staaten normalisieren. Ist das Verhältnis zu Ägypten wie Jordanien seit Längerem entspannt, trifft das dank der „Abraham Accords“ mittlerweile ebenso auf die Arabischen Emirate, Bahrain, den Sudan und Marokko zu. Die Regierung Netanjahu hat soeben den Anspruch Rabats auf die Westsahara anerkannt, ohne sich um das Völkerrecht und UN-Beschlüsse zu scheren. Wer selbst annektiert, ermuntert andere zur Annexion. Schwer vorstellbar, dass Yitzhak Rabin oder Shimon Peres auch nur im Traum daran gedacht hätten, sich derart Anerkennung in arabischen oder nordafrikanischen Staaten zu verschaffen. Sie dürften gewusst haben, was es bedeutet, wenn sich Israel zu verstümmeln beginnt.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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