Ein junger Mann Ende 20, er heißt Švabo, wahrscheinlich Jahrgang 1988, wie der Autor. Nach der Schule hat er Serbien verlassen, wo der Krieg sich trotz allem fortgesetzt hat, vor allem in den Köpfen der Menschen.
Švabos Familie ist zerrüttet. Er hasst seinen Vater, das „Beamtenarschloch“, einer der „stummen Schurken, ohne die kein von Menschen gemachtes System langfristig überleben könnte“. Die Mutter: schwach, unterwürfig, nostalgisch. Švabos Verbündete war die Großmutter. Sie unterstützte seinen Entschluss, abzuhauen nach Wien, gab ihm ihr gespartes Geld, damit er dort neu anfangen konnte. Nun ist sie gestorben. Nach zehn Jahren Exil kehrt der Erzähler zum ersten Mal zurück in die Plattenbauvorstadt Belgrads. Mit dem „Gastarbeiter-Express“, über Ungarn.
Es ist die Zeit der Flüchtlingszüge über die Balkanroute. Die aus den nahöstlichen Kriegsgebieten Geflüchteten sitzen fest an der ungarisch-serbischen Grenze, werden kaserniert, sterben an Hunger und Krankheiten. Für den, der im vollgestopften Bus seiner Heimat entgegenfährt, beginnen sich die Zeiten seltsam zu vermischen. Immer, so scheint es ihm, sind Menschen auf der Flucht, eine feste räumliche und zeitliche Ordnung gibt es in dieser aus dem Gleichgewicht geratenen Welt nicht mehr.
Sein Sitznachbar im Bus ist ein sonderbarer Mensch. Er ist, wie er sagt, Elektriker, ebenfalls Serbe, ebenfalls auf dem Weg in die Heimat; gleichzeitig aber ein Chronist und selbsternannter Intellektueller, der ein Buch über die zerstörten Menschen des ehemaligen Jugoslawiens zu schreiben behauptet. Als eine aus Wirklichkeit und Traum zusammengesetzte Gestalt, begleitet dieser serbische Vergil den Erzähler in die Hölle namens Heimat. Er verändert sein Aussehen, sein Alter, an einer Stelle hat er die Stimme des Vaters. Am Ende taucht er noch einmal auf, stirbt dann kurz und schmerzlos.
Eine Bagatelle aus Fleisch
Auf der Beerdigung dann die überraschende Entdeckung: Es ist doch Zeit vergangen. Sein Vater ist alt geworden. Der hinterhältige Autokrat ist nun eine „fleischgewordene Bagatelle“. Abends sitzt er im Jugendzimmer seines Sohnes und liest „die Russen“ Tolstoi und Dostojewski. Fast hat sein Charakter etwas Nachgiebiges bekommen. Seine Mutter, die jahrzehntelang Unterdrückte, herrscht nun im Haus. Aber es macht sie nicht sympathisch. Anders als gedacht fühlt der Erzähler sich von ihr entfremdet. Am Ende ist unklar, ob er zurückfährt, ob er die Heimat noch einmal verlassen kann und ob nicht das Niemalsangekommensein den eigentlichen, den authentischen Modus seines Lebens darstellt.
Beim Lesen drängen sich William Faulkners Sätze auf: „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.“ So sieht es im Kopf von Traumatisierten aus. Insofern ist Die guten Tage nicht nur ein Beitrag zur Nachgeschichte des Jugoslawienkrieges, sondern zu Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart. Ein neuer Menschentyp kündigt sich an: der Migrant. Er kann zum internationalen Jetset gehören oder zu den Armseligen, die von Krieg, Klima und anderen Katastrophen durch die Welt getrieben werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie nirgendwo ankommen. Sie hören nie auf, sich zu bewegen und zu fliehen.
Den Traumatisierten ist die Geschichte wie ein Traum – ein Alptraum. Ob man aus ihm erwacht, bleibt am Ende offen. Das schlägt sich auch stilistisch nieder. Der Wahrnehmung des Traums entspricht das unverbundene Nebeneinander, die Parataxe. Überall dort, wo sich Dinić ihr überlässt, wo er aufzählt und nebeneinander stellt, liegen die Stärken seines Romans. Über Belgrad schreibt er: „Ich hatte den Wald meiner Kindheit verloren, die von mir eigens gestampften Wege im Dickicht, die brütende Hitze von über neunhundert Tagen des Belgrader Sommers, die Ausdünstungen abgestandener Pisse in irgendwelchen dunklen Straßenecken vermischt mit dem Geruch zahlloser Grillstände, die ausgegilbten Farben der Vorstädte wie in den 35-mm-Filmen aus dem ehemaligen Jugoslawien.“ Umgekehrt erscheint die Darstellung unausgewogen, ja fast ungeschickt, wo der Erzähler sich beurteilend und organisierend einmischt. Das aber fällt bei diesem eindrucksvollen Debüt nicht sehr ins Gewicht.
Info
Die guten Tage Marko Dinić Paul Zsolnay 2019, 240 S., 22 €
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