Vater reich, Sohn adelig, Enkel arm

Brasilien Aus dem Gastland der Frankfurter Buchmesse gibt es zwei Familienromane: Der eine ist raffiniert, der andere laut und vulgär
Ausgabe 38/2013
Vater reich, Sohn adelig, Enkel arm

Foto: Keystone, Hulton Archive / AFP/ Getty Images

Das Schicksal, der Determinismus, der die zarte Flamme des menschlichen Willens bedroht, bildet in den beiden Romanen eine Grundströmung. Vergossene Milch von Chico Buarque ist die Saga einer jener Familien, deren Stammbaum sich wie die Straßenpläne von Rio de Janeiro oder São Paulo liest und zugleich ein steter Weg in Verfall und Armut. Weniger ausgreifend ist Daniel Galeras Flut, in der sich der Protagonist auf die Suche nach Sinn und Vorfahren durch den südlichen Bundesstaat Santa Catarina macht. Beide Romane erzählen aus einer Gesellschaft, in der Korruption und Gewalt alltäglich sind und der Staat oft abwesend erscheint.

Chico Buarque, 1944 geboren, ist Musiker, Poet und Schriftsteller. Zu Zeiten der brasilianischen Militärjunta im Exil, setzte er sich immer wieder für die Landlosenbewegung MST ein. In seinem jüngsten Roman entwirft Buarque nun ein Panorama von den Wurzeln der portugiesischen Kolonialisierung und dem Königreich bis zur Gegenwart und hält sich dabei an das brasilianische Sprichwort: Vater reich, Sohn adelig, Enkel arm. „Wenn ich hier rauskomme, heiraten wir auf der Fazenda, dem Ort meiner glücklichen Kindheit, da draußen am Fuß der Berge.“ So beginnt der Monolog des Eulálio Montenegro d’Assmupção, „dann bekommen Sie die Spitzenwäsche, die Kristallgläser, das Geschirr, den Schmuck und den Namen meiner Familie.“ Allerdings lebt all das nur noch in den Erzählungen eines Nachtwandlers.

Eulálio d’Assmupção, geboren 1907, verwitwet, Vater, Großvater und Urgroßvater, hält traurige Reden, machmal nur noch an sich selbst gerichtet, in denen sich ein Leben summiert, das allen Anlass hat, sentimental zu sein, das ans Ende gekommen ist und sich trotzdem gegen das Fortschreiten der Zeit wehren will. Denn seiner Familie geht es nicht gut. Eulálio selbst war eher passiv, hat die Dinge, die sich gegen ihn verschworen haben, hingenommen: „Aber vielleicht“, resümiert er schon früh, „war mein Leben schon lange, bevor ich alt und krank wurde, ein bisschen so, ein lästiger leiser Schmerz, der mich die ganze Zeit piesackte, und plötzlich ein brutaler Schlag.“

Dünner Schleier

Buarques Roman ist eine pessimistische Revision der Geschichte Brasiliens, die das Bild einer Gesellschaft, in der Kolonisierung, Militärherrschaft und Gewalt einem das Leben vermiesen, in einer eleganten und eigenwilligen Konstruktion zeichnet. Ein kleiner, leiser Roman, in dem der starrsinnige Glaube an frühere Privilegien den Niedergang kontrastiert.

Daniel Galeras Flut ist weder klein noch leise und selten elegant. Vielmehr zerfließt der Roman in alle Richtungen: Der namenlose Protagonist macht sich nach dem Freitod seines Vaters auf, der Geschichte des Großvaters in Garopaba, einer Küstenstadt, nachzuforschen. Dabei trifft er auf einen Mythos: Der hitzköpfige Großvater, angeblich ermordet während eines Volksfestes, ist der schlummernde Schrecken in der Geschichte der Stadt.

Auch hier: Schicksal. Stückweise verstehen wir, dass sich Galeras Protagonist, ein Schwimmtrainer, entschieden hat, das eigene Tun stehe nichtig vor dem Schicksal. Deshalb hat er sich dem Sport zugewendet, da sich „das dauernde Gefühl, ein Mensch zu sein, durch die extreme körperliche Anstrengung und die Verwandlung seiner Gedanken in Schritte und Schwimmzüge, in Lunge und Herz, ganz von allein auflöst“. So wird der Protagonist fremd, in Garopaba und in der Welt. Zugleich ist jeder, der ihm begegnet, auch ein Fremder: Der Namenlose leidet unter Prosopagnosie, er kann sich keine Gesichter merken. Eine seltsame Figur, deren Faszination sich rasch erschöpft. Die Dialoge sind oft nur ein dünner Schleier über den Gedanken des Autors. Und davon hat Galera, ein jüngerer Schriftsteller und Übersetzer, eine ganze Menge: Religion, Esoterik, allgegenwärtige Korruption, Gewalt … Aber in diesem Roman will man sie nicht verhandelt sehen.

Vergossene Milch. Roman eines Landes Chico Buarque, Karin von Schweder-Schreiner (Übers.). S. Fischer 2013, 208 S., 19,90 €

Flut Daniel Galera, Nicolai von Schweder-Schreiner (Übers.). Suhrkamp 2013, 424 S., 22,95 €

Lennart Laberenz ist Autor und Filmemacher

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