Verhältnismäßigkeit ist das Zauberwort

Gewaltenteilung Lässt sich der Gesetzgeber zu oft vom Bundesverfassungsgericht vorführen? Alles eine Frage der Interpretation
Ausgabe 33/2015
Die Richter in Karlsruhe haben bisweilen andere Auffassungen als der Bundestag
Die Richter in Karlsruhe haben bisweilen andere Auffassungen als der Bundestag

Foto: Uli Deck/Getty Images

Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte zuletzt die Frage wieder aufgeworfen, ob sich der Gesetzgeber – der Bundestag – zu oft vom Bundesverfassungsgericht vorführen lasse und ob dies in dieser Weise Sache der zwei Senate sei. Unter Leitung des bayrischen Politologen Heinrich Oberreuter kam es darüber zu einer Diskussion in großer kompetenter Runde. Gegenpart Lammerts war der frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm, einer der Klügsten seiner Zunft.

Grimm verzichtete auch auf das gelegentlich zu hörende Argument, es entwickele sich das Recht im Lande durch die Rechtsprechung, dadurch bleibe es lebendiges Recht. Solche Abwertung der Legislative und Infragestellung des Prinzips der Gewaltenteilung hatte 1934 der „Kronjurist des Dritten Reiches“, Carl Schmitt, den Richtern angesonnen. Noch in den 1970er Jahren war – nun freilich von linken Juristen – dergleichen zu vernehmen. Grimm setzte anders an. Er verwies auf die Notwendigkeit, Begriffe aus den Gesetzestexten für heutiges Verständnis zu interpretieren. Es gehe nicht an, die ursprüngliche, historische Bedeutung – etwa von Familie – zugrunde zu legen, wenn man über aktuelle Familienpolitik zu judizieren habe. Da müsse das Bundesverfassungsgericht eben das Grundgesetz auf die heutige Wirklichkeit hin auslegen. Woher freilich die Juristen die Kompetenz zu einer solchen und anderen Interpretationen haben, sagte er nicht. Vom Repetitor, bei dem sie für ihr Examen büffelten, haben sie es bestimmt nicht.

Lammert war klug genug, dem nicht zu widersprechen. Es waren ja auch überwiegend Juristen in der Runde, die sich ungern selber klein machen. Aber Lammert war auch klug genug, von dem Interpretationsgebot her das Thema zur Sprache zu bringen. Bei Interpretationen könne man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, denen jeweils innere Logik nicht abzusprechen sei, sodass man sagen müsse, das eine sei so gut möglich wie das andere. Grimm gab das zu. Wieso dann aber, fuhr Lammert fort, die Auffassung der acht Richter in Karlsruhe ausschlaggebend sein solle für das, was zu gelten habe, die Auffassung des Gesetzgebers in Gestalt der Parlamentsmehrheit aber unterliegen müsse?

Hier nun holte Dieter Grimm das Wundermittel hervor, das immer zum Einsatz kommt, wenn es für einen Verantwortlichen im öffentlichen Leben eng wird. Es ist das Wort „Verhältnismäßigkeit“. Wer mit einer Lage konfrontiert ist, die so vom Gesetz oder von irgendwelchen Vorschriften her nicht vorgesehen ist, und eigentlich von Amts wegen verpflichtet ist, den misslichen Zustand zu beenden, kann davon absehen, wenn er darlegen kann, dass Maßnahmen, die dafür ergriffen werden müssten, unverhältnismäßig seien. Auf allen Ebenen der Exekutive ist dieses Wort zum Lieblingswort der Handelnden, richtiger: der Nichthandelnden, geworden. Auch Kritiker der Exekutive tragen dieses Wort in ihrem Herzen und bewegen es darin. Was damit gemeint ist, ist immer irgendwie plausibel zu machen. Aber ob man auf die Plausibilität abzielt oder sie leugnet, hat immer auch irgendetwas mit Willkür zu tun. Überdies kann man, wenn die Zeit reicht, solche Plausibilität auch herstellen. Boulevardzeitungen – und nicht nur die –, Umfragen, Talkshows: Das Meinungsklima stellt eine mächtige Stütze für die Behauptung dar, diese oder jene Maßnahme, dieses oder jenes Gesetz sei verhältnismäßig oder unverhältnismäßig. Da habe das Bundesverfassungsgericht, sagte Grimm, abzuwägen, welches der konkurrierenden Rechtsgüter bei Beachtung der Verhältnismäßigkeit schutzwürdiger sei. Und da eben habe Karlsruhe das letzte Wort. Der Bundestag könne ja bei Nichtgefallen, sagte Grimm noch, das Grundgesetz ändern. Es gelang ihm, das zu sagen, ohne zu grinsen.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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