4.000 Meter unter Wasser: Eine Meeresforscherin erzählt vom Leben in der Tiefe
Interview Phantominseln und Riesenmaulhai: Julia Schnetzer forscht am Alfred-Wegener-Institut über die Ozeane – und weiß, was helfen kann, die Biodiversität unter Wasser zu retten
Julia Schnetzer ist Meeresbiologin, liebt Haie und weiß, was sonst noch in der Tiefe lauert
Foto: Verena Bruening für der Freitag
Es gibt Schätzungen, wonach es im Meer etwa eine Million verschiedene Tier- und Pflanzenarten gibt. Zwei Drittel davon sollen unentdeckt sein. Ständig tauchen neue Arten auf, auch ein Haifisch, der in fünf Jahrzehnten nur wenige Mal gesichtet wurde. Was lauert in der Tiefsee? Und wieso fliegen wir ins All, während wir über die Weltmeere noch so wenig wissen? Julia Schnetzer ist seit Kindheitstagen vom Ozean begeistert. In Podcasts wie Sag mal, du als Biologin teilt sie ihr Wissen in einfacher Sprache. Auch ihr Buch Wenn Haie leuchten erklärt, warum die Unterwasserwelt noch ein Mysterium für den Menschen ist.
der Freitag: Frau Schnetzer, die Oberfläche des Planeten besteht zu 70 Prozent aus Wasser. Trotzdem sind nur ungefähr fünf Prozent vom
Trotzdem sind nur ungefähr fünf Prozent vom Meeresgrund erforscht. Woran liegt das?Julia Schnetzer: Geld! Oder eher an fehlendem Geld, so ist es ja meistens in der Wissenschaft. Aber nicht nur das: Das Meer zu erforschen, ist schwieriger, als sich in den Wald zu setzen und Vögel zu beobachten. Im Schnitt sind die Ozeane 4.000 Meter tief, in der Antarktis ein bisschen weniger. Klingt nicht viel? Dann denken Sie mal an einen Berg, der vier Kilometer hoch ist. Da wird Ihnen schnell klar, dass man da ’ne ordentliche Strecke vor sich hat ...Elon Musk will auf den Mars fliegen, da werden wir ja wohl ein bisschen tauchen können.Pff. Sie unterschätzen die Schwierigkeiten in der Meeresforschung! Wissen Sie, wann Jacques-Yves Cousteau den Atemregler bei Tauchflaschen mit entwickelt hat? Irgendwann in den 1940ern – keine hundert Jahre her. Erst seit damals kann der Mensch richtig tauchen, mit Sauerstoffflasche und allem. In dieser kurzen Zeit ließ sich nicht alles erkunden.Der Marianengraben, die tiefste Stelle der Welt, ist 11.000 Meter unter dem Meeresspiegel.Genau. Es braucht viel technische Ausstattung, um in so tiefe Gefilde zu gelangen. Zumal nur in die ersten 200 Meter unter der Wasseroberfläche noch Lichtstrahlen fallen – danach wird es stockfinster. Nur damit Sie sich die Probleme da unten mal vorstellen können: Am Boden des Marianengrabens herrscht so viel Druck, als würden zwei ausgewachsene Elefanten auf Ihrem kleinen Zeh stehen. Das wäre sehr schmerzhaft.Wie lange wird es noch dauern, das ganze Meer zu kartieren?Das Projekt „Seabed“ hat sich vorgenommen, bis 2030 den gesamten Meeresboden zu vermessen, also in hoher Auflösung. Was man so hört, sind die auf einem guten Weg.Nicht nur der Meeresgrund gibt Rätsel auf. Auf unseren Karten sind noch heute „Phantominseln“ verzeichnet, die es nie gab.Ja, total abgefahren, oder? Das sind Inseln, die zwar auf Karten existieren, aber nicht in der Realität. 2012 sollte vor einem Forschungsschiff, das zwischen Australien und Neukaledonien unterwegs war, die Insel Sandy Island auftauchen – tat sie aber nicht. Stattdessen lachten sich die Forscher einen ab, als ihr Schiff bei Google Maps die Pixel durchkreuzte, die Sandy Island darstellen sollten.Wieso gibt es solche Inseln noch?Da haben sich Seeleute vor ein paar Hundert Jahren wohl vertan und Inseln auf Karten eingetragen, die es nicht gab. Vielleicht war es nebelig und man hat Schatten oder optische Täuschungen für Inseln gehalten. Vielleicht wollten manche Seefahrer einfach den Fame eines Entdeckers. Aber wenn so etwas erst mal kartiert ist, vor allem, wenn die Insel in wenig befahrenem Gebiet liegt, dann muss ja jemand den Fehler irgendwie melden. Ehrlich, ich wüsste nicht, wo ich hier in Bremen eine Phantominsel melden könnte. (lacht)Placeholder infobox-1In Ihrem Buch habe ich gelesen, dass wir bis 2020 den Blauwal für das größte Lebewesen aller Zeiten gehalten haben – dann hat man eine neue Quallenart entdeckt, die 46 Meter lang ist.Na ja, das war auch ein bisschen Cheating, weil diese Perlenketten-Qualle streng genommen ein Mehr-Individuen-Organismus ist, wie ein siamesischer Zwilling. Aber der Rang des größten Lebewesens aller Zeiten wurde dem Blauwal schon 2017 abgelaufen: Da hatte man ein neues Dino-Skelett entdeckt, das größer war als er.Ist es nicht seltsam, dass so grundlegende Gewissheiten wie „größtes Lebewesen aller Zeiten“ in der Biologie andauernd umgeworfen werden? Das ist in anderen Disziplinen nicht so.Stimmt. Und das ist der Unterschied zwischen der Biologie auf der einen und Mathe oder Physik auf der anderen Seite: Neue Naturgesetze tauchen nicht ständig auf – unbekannte Tierarten schon.Wie kann es sein, dass der Riesenmaulhai erst 1976 entdeckt wurde?Der Name ist irreführend, weil bei dem nur das Maul riesig ist. (lacht)Aber trotzdem: Bis 2018 wurde er nur 117-mal gesichtet. Nicht viel für 50 Jahre ...Das finde ich auch krass! Deswegen habe ich darüber geschrieben in meinem Buch. Beim Riesenmaulhai liegt es wohl daran, dass der nur nachts an die Oberfläche kommt und sich tagsüber in tieferen Gegenden aufhält. Und über Tiefseefische erfährt man in der Regel nur etwas, wenn man sie zufällig fängt. Oder wenn tote Exemplare an die Küste gespült werden.Wie hat der technische Fortschritt die Entdeckung neuer Arten verändert?Damals war es schwieriger: Erst muss ich einen unbekannt aussehenden Fisch fangen, dann seine Merkmale beschreiben und erklären, warum der jetzt anders ist als andere Fische und eine neue Art bilden soll. Durch die DNA-Sequenzierung wurde das in den letzten 20, 30 Jahren enorm erleichtert. Jetzt können wir die DNA angucken und sehen: Ist das dieselbe Art – oder wie nah verwandt sind die beiden Arten? Das geht mittlerweile so weit, dass wir DNA-Fetzen aus dem Wasser holen können, also Haare oder Hautpartikel, die Tiere hinterlassen haben, und dann wissen, welche Fische an dieser Stelle geschwommen sind.Auf einen Liter Wasser kommen 38.000 verschiedene Bakterienarten. Das Meer ist irre lebendig.Irgendwie leuchtet es ein, dass da mehr los ist als auf dem Land, oder? Alles Leben kommt aus dem Wasser, da haben wir eine viel längere Evolutionszeit. Es kann aber auch sein, dass in 20 Jahren ein Spot auf dem Land entdeckt wird, der eine höhere Biodiversität aufweist.Was sind die größten Gefahren für das Meer heute: Verschmutzung, Überfischung, Lärm oder die Erderwärmung?Hm, schwer zu sagen. Ich würde mal sagen: der Klimawandel. Einfach, weil das den gesamten Ozean betrifft. Das kannst du nicht verstecken, weil der CO2-Gehalt steigt überall und versauert das Wasser. Bei der Überfischung ist klar, was wir machen müssen: weniger fischen. Bei der Verschmutzung auch: mehr recyclen. Aber der Klimawandel ist nicht so greifbar, die Lösung nicht eindeutig.Warum versauert CO2 das Meer?Quick and dirty erklärt?Ja, bitte.Weil sich das CO2 im Wasser löst und dabei durch eine chemische Reaktion Kohlensäure entsteht, die das Wasser sauer macht. Das killt Korallenriffe und viele Tiere.Weltweit gelten über 35 Prozent der kommerziell genutzten Fischarten als überfischt. Das ist auch ein Problem.Klar. Es gibt sogar eine Studie der Ecological Society of America, wonach der Walfang einen erheblichen Anteil am Klimawandel hat. Großwale sollen bis zu 90 Prozent zurückgegangen seien. Wale sind aber wichtig für das Leben von Phytoplankton, weil in der Wal-Kacke wichtige Nährstoffe fürs Plankton drin sind, vor allem Eisen und Phosphat. Plankton kann CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen, ziemlich viel sogar. Aber weniger Wale bedeuten weniger Dünger fürs Plankton, ergo mehr CO2.In der Nordsee hatten fast 93 Prozent der tot aufgefunden Eissturmvögel Plastik in den Mägen. Auch das ist ein Riesenproblem.Ja. In Bremen, wo ich wohne, stellen wir alle zwei Wochen den gelben Sack vor die Tür. Wenn es windig ist, weht der ganze Plastikmüll durch die Straßen und landet auch in der Weser. Die ist hier ganz um die Ecke von meiner Wohnung. Ich war auch 2021 an der Weser, als durch eine Springflut sieben Dixie-Klos im Wasser gelandet sind. So was kann am Ende ja auch im Meer landen. Aber das Problem könnten wir, im Gegensatz zum Klimawandel, einfacher lösen: weniger Plastik, weniger Konsum, dafür bessere Produktdesigns. Und natürlich weniger Kapitalismus.Was Sie aus Bremen schildern, zeigt, dass es längst nicht nur die Entwicklungsländer sind, die das mit der Müllentsorgung nicht draufhaben und deswegen die Ozeane verschmutzen. Oder?Absolut. Ich war letztes Jahr im Februar für eine SWR-Produktion in Warnemünde. Das war eine Sendung zum Thema Plastikmüll in der Ostsee. Und der Strand sah auf den ersten Blick total sauber aus! Dann haben wir angefangen zu sammeln – und haben so unfassbar viele kleine Teile gefunden. Da war anscheinend kurz vorher ein Feuerwerk gezündet worden und der ganze Sand war voller winziger Plastikteile.Können wir mithilfe von Geo-Engineering im Meer den Klimawandel stoppen?Tatsächlich arbeite ich gerade an einem Projekt mit Seetang in der Karibik, wo es darum geht, CO2 mittels Algen aus der Atmosphäre zu ziehen.Welche Algenart ist das?Sargassum heißt die.Ist das nicht derzeit eine riesige Pest in Mexiko? Weil die ganzen Strände braun davon sind, kommen weniger Touristen.Ja, das ist richtig schlimm. Die verrotten da, stinken und töten das Ökosystem. Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador versucht das Problem seit Jahren in den Griff zu kriegen. Aber wir wollen die Algen ja nicht an die Strände spülen, sondern züchten und dann in der Tiefsee versenken – nachdem sie CO2 aufgenommen haben. Man kann Sargassum auch als Rohstoff nutzen, um fossile Brennstoffe zu ersetzen. Es muss keine Plage sein.