Die Orte der Stadt

Reflexion Die Sicht auf eine Stadt kann sich ändern. Plötzlich werden Orte wichtig, die nicht in urbanen Gute-Laune-Blogs angepriesen werden.

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Verblasster Lieblingsort in der Stadt: Die City-Hochhäuser wurden 2019 abgerissen
Verblasster Lieblingsort in der Stadt: Die City-Hochhäuser wurden 2019 abgerissen

Foto: imago images/Christian Ohde

Schunkelnder Hafen, tutender Hans Albers, sündige Möwen, kreischende Reeperbahn, hippes Astra und abgestandene Szene-Viertel. Die Stadt steht und fällt mit ihren Klischees. Hätte man mich vor 15 Jahren nach meinem Lieblingsort in der Stadt gefragt, hätte ich eine Bank genannt, die mit einwandfreien Blick auf Hafen, Blohm & Voss und die riesenhaften Eier der städtischen Kläranlage aufwartete. Heute ist dieser an Klischee kaum zu überbietende ehemalige Lieblingsort bestimmt eine Berühmtheit auf sozialen Kanälen und urbanen Gute-Laune-Blogs.

Mittlerweile schärft sich der Blick auf die große Stadt ein wenig, was wohl auch damit zusammenhängt, dass ich nicht mehr ganz so urban lebe wie damals. So wandeln sich auch meine städtischen Lieblingsorte oder Orte, die fehlen. Ob Zufall oder nicht, sie befinden alle dicht nebeneinander auf rund 9.000 m² Stadt, ohne Elbblick versteht sich.

Die etwas dunkleren Seite des Hauptbahnhofs. Dort wo die Weihnachtsdeko zur besinnlichen Zeit nicht ganz so opulent ausfällt und auch keine saisonalen Weihnachtsdörfer mit Rindenmulch-Boden himmelhochjauchzen. Dort wo sich saisonübergreifend immer ein Hauch von urinalem Odeur mit Aufback-Brezel-Duft vermengt. Dort wo Junkies saubere Spritzen im Drop Inn erhalten. Wo grüne Busse für 3,99 nach in die Hauptstadt fahren.

City-Hochhäuser

Die City Hochhäuser sind weg. Denkmalschutz hin oder her. Nicht zeitgemäß. Kein Jugendstil. Weg damit. Manche mögen meinen Geschmack für fragwürdig halten, waren die vier mausgrauen Quader doch ach so häßlich und ungesund. Vielleicht waren sie das. Ich fühlte mich immer wie in einer dieser surrealen Kullissen eines Jaques Tati-Films der 1950er, nur dass alles etwas gammliger war. Und die Verschalung der ehemals weißen Quader hätte auch wirklich nicht sein müssen. Im Oktober ließen sie ein letztes Mal die grauen Hüllen fallen. Gezwungenermaßen, die vier Relikte der Nachkriegsmoderne wurden abgetragen. Und für einen kurzen Moment sahen sie auch wieder weiß aus, wie auf der Postkarte aus dem 1950ern. Die vier Häuser waren mit einer halboffenen und damals wahnsinnig modernen Einkaufsgalerie verbunden, die bis zuletzt spektakuläre Foto-Motive preisgab. In den letzten Jahren wurden die Ladenräume noch für subkulturelle Zwecke zwischengenutzt. Auch der Behördengang an sich, die City-Hochhäuser beheimaten das Bezirksamt Mitte, hatte etwas. Nachdem man durch unzählige Stockwerke des nachkriegsmodernen Treppenhauses, vielleicht in überhasteter Monsieur Hulot-Manier, entlang endloser, filigraner Treppengeländer mit schwarzem PVC-Handlauf und vorbei an bunten Mosaikbildern mit Wirtschaftswunder-Menschen hoch gerast ist, also nachdem man alle Stockwerke unter sich gelassen hatte, formte sich die Stadt zu einem leicht gewölbten Pfannkuchen, flankiert vom mausgrauen Nachbar-Quader. Auch hatte ich in diesem Wirtschaftswunder-Bau, wie so oft bei Behördengängen, auch mit behördlichen Menschen zu tun, die meine Erinnerungen an die Hochhäuser auch nicht verschlechterten. Der Sachbearbeiter mit Strickkäppi und einem liebevoll drapierten Büro mit türkis-rosa Tisch-Sets sollte einfach mal erwähnt werden. Der mich mit meinem Anliegen so herzlich begrüßt hatte, ehe sich das Gespräch seinen Weg vom eigentlichen Anliegen weg hin zur Bewegung 2. Juni, Brockdorf und hinein in einen kurzen Exkurs über die Frankfurter Schule bahnte. Nun sind sie weg. Die Menschen sind nur umgezogen, die vier Quader werden durch einen etwas plumpen Backsteinbau ersetzt, der sich offiziell ganz wunderbar in die Szenerie der Fritz-Schumacher-Kontorhäuser fügen soll. Naja.

Zentralbibliothek

Wären die Cityhochhäuser gesprengt und nicht so ordnungsgemäß abgetragen worden, wären sie nicht in sich zusammen gesackt sondern nach Osten abgedriftet, so wäre vielleicht ein weiterer wichtiger Ort zu Schaden gekommen. Die Zentralbibliothek. Ein opulenter Bau des neuen 20. Jahrhunderts, der ehemals das Hauptpostamt beherbergte.

Ein Segen für alle urbanen Eltern, die neben Mistwetter auch Inndoor-Spielplatz und Smalland des ersten City-IKEA der Stadt scheuen. In der Bibliothek vermengen sich alle Bevölkerungsströme. Trotz Fülle finden alle ihre Ecke. Die Kinderbibliothek mit rasenden Besuchern auf Socken, Kissen, Vorleseräumen und Bühne. Je höher man steigt umso ruhiger und leerer. Ausstellungen, Lernräume, Café, Tandem-Kurse in Spanisch, Dialog in Deutsch. Ein Gemisch aus Uni, Mehrgenerationen-Haus, Treffpunkt, ein Raum für Alle, zum begegnen und zurückziehen, ein Raum wie er selten geworden ist, in der großen Stadt. Einen Ort, den ich gleichermaßen gerne mit und ohne Kinder besuche. Was ich im Übrigen von vollen Cafés nicht behaupten kann.

Museum für Kunst und Gewerbe

Überquert man von hier die Kurt-Schumacher-Allee, steht man vor dem Museum für Kunst und Gewerbe. Ein geordnetes Sammelsurium von Kunst und Kunstgewerbe, beeindruckende Ausstellungen, Installationen, knarzende Dielenböden. Ich würde mich in der Beschreibung verlieren oder vielem nicht gerecht werden, versuchte ich das Museum mit seinen 500.000 Exponaten zu beschreiben. Mein Lieblingsort im Lieblingsort ist die Abteilung der Moderne. Vor rund zehn Jahren stand ich erstmals vor ihnen, konnte den Blick kaum abwenden. Ein Raum in nachtblau, Spot auf die Ganzkörper-Masken. Es sind keine Masken im herkömmlichen Sinn, es sind superheldenhafte Kreaturen in kräftigen Farben, die mir bestimmt gleich ins Gesicht sprangen oder sich im expressionistischen Tanz verloren. Kreaturen, die mir klarmachten, was zwischen 1933 und 1945 zerstört wurde und auch in der persil-weißen Verdrängungs-Operette der 1950er Postkarten-Romantik keinen Platz hatte – ein künstlerisches Aufbäumen, eine Ekstase und Passion, die heute um die 100 Jahre alt ist. Diese bewundernswerten Werke wurden in einem unglaublich schnelllebigen Zeitfenster zwischen Kaiser und Hitler geschaffen – zwischen 1919 und 1924. Lavinia Schulz und ihr Mann Walter Holdt lebten für die Kunst. Sie entwarfen die Ganzkörper-Kostüme und gaben in ihnen expressionistische Tanzvorführungen, wie etwa auf den legendären, ausufernden, konventionslosen Künstlerbällen im Curiohaus. Gustav Gründgens und die Mann-Geschwister Klaus und Erika waren nur drei aus einer Schar Vergnügungsdurstiger, Lebenshungriger, Neugieriger, Experimentierfreudiger.

Aber genau dieses Künstlerpaar zeigte auch die dunkle, hungernde Seite der 1920er. Lavinia Schulz und Walter Holdt fristeten ein Dasein in einer feuchten Kellerwohnung, schliefen in Hängematten. Alles für die Kunst, die sie leider nicht ernährte. An einem Junitag im Jahr 1924 erschoss die völlig verarmte Lavinia Schulz ihren Mann und dann sich selbst. Gleich ein Jahr nach dem Tod des Künstlerpaares initiierte das Museum für Kunst und Gewerbe eine Gedenk-Ausstellung, ehe Künstler und Kunstwerke aus der Wahrnehmung wichen. Erst Mitte der 1980er fielen Holzkisten auf dem Museums-Dachboden auf. Der Inhalt hat jetzt seinen Platz in der Abteilung der Moderne vor einer nachtblauen Wand. An die Künstler erinnert nicht weit von hier ein schnödes Emaille-Schild. Am Gewerkschaftsgebäude unweit des heutigen Drop Inns. Dort lebten sie vor 100 Jahren in einer Kellerwohnung und schliefen in Hängematten.

Die Räume der Stadt

Und ganz nebenbei zeigen mir meine Lieblingsorte was wichtig ist: andere Sichtweisen und Ausblicke, Wissen, Geschichten, Schicksale, Ausdruck durch Kunst und Menschen, die sich hier begegnen, austauschen und die Orte zu dem machen, was sie sind, Räume der Menschen einer Stadt.

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