Dritter Jahrestag des Hanauer Attentats: Ferhats Mutter kämpft weiter
Rassismus Die Bildungsinitiative Ferhat Unvar kämpft gegen den Rassismus im Bildungssystem. Serpil Temiz Unvar hat die Initiative nach dem Hanauer Attentat gegründet. Ein Besuch
„Solange man sich an sie erinnert, sind sie nicht vergessen“, sagt Serpil Temiz Unvar
Foto: Thomas Lohnes/Getty Images
Jedes Mal, sagt Serpil Temiz Unvar, jedes Mal, wenn die Namen der getöteten jungen Menschen in den letzten drei Jahren auf Veranstaltungen und Demos genannt und gerufen wurden – jedes Mal ist sie dann gedanklich in der Tatnacht auf der Polizeiwache.
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov – ihre Namen wurden den betroffenen Angehörigen nach einer langen und schlaflosen Nacht der Ungewissheit am Morgen des 19. Februar von einem Polizeibeamten genannt. „Wir wurden nachts in einen Bus gesetzt und keiner durfte aussteigen, bis wir bei der Polizeiwache waren. Dort angekommen, ließen sie mich ohne polizeiliche Beg
iliche Begleitung noch nicht einmal auf die Toilette. Ich weiß immer noch nicht, warum wir in dieser Nacht so intensiv überwacht wurden. Stunden später haben sie uns um 06. 30 Uhr morgens die Namen unserer toten Kinder vorgelesen, so als ob sie Gegenstände wären.“Zwei Mal wird die 47-jährige Mutter von vier Kindern bei diesem Gespräch weinen müssen, das ist das erste Mal. Serpil Temiz Unvar sitzt auf dem braunen Ledersofa in den Räumen der Bildungsinitiative Ferhat Unvar am Freiheitsplatz in Hanau. An den Wänden hängen viele Bilder, unter anderem ein gemaltes Porträt ihres Sohnes Ferhat und Poster mit Sprüchen wie „Groß sind die Träume, doch klein diese Welt“.Zusammen mit vielen Freiwilligen, Ehrenamtlichen und Freunden ihres Sohnes Ferhat Unvar, mit 23 Jahren von einem Rechtsextremen getötet, hat sie diese Initiative gegründet, damit andere Jugendliche nicht den gleichen Rassismus im Bildungssystem ertragen müssen, dem ihr Sohn ausgesetzt war. „Mein Sohn gehörte zu Deutschland. Unsere Kinder wurden hier getötet, dass ist ein Teil der Geschichte dieses Landes.“ Unvar, die viele Jugendliche aus der Bildungsinitiative „Serpil anne“, also Mutter Serpil nennen, ist im Osten der Türkei aufgewachsen und zog nach dem Oberschulabschluss mit der Mutter und ihren Brüdern nach Frankreich zu ihrem Vater, der dort bereits lebte. Erst 1995 kam sie mit ihrem damaligen Mann nach Hanau.„Die immer gleichen Migrationsgeschichten“, kommentiert sie ihren Werdegang nur knapp und lächelt. Überhaupt lacht sie sehr viel, wenn sie in ihrem zweiten Zuhause ist, wie sie die Räume der Bildungsinitiative Ferhat Unvar nennt.Aber sie kann auch sehr ernst werden, wenn sie anfängt zu erzählen. Doch erst einmal gibt es Tee in bauchigen Gläsern, den später weitere Freunde, die vorbeischauen, ebenfalls gleich in die Hand gedrückt bekommen. Sie spricht darüber, was für einen Stellenwert Bildung in unserer Kultur hat. „Lehrer und Schulen sind für uns fast heilig, das weißt du“, sagt sie und fügt ein „leider“ hinzu. Meistens habe sie bei Schulproblemen Ferhat die Schuld gegeben. Auch wenn sie verstand, was er durchlitt. Nach seinem Tod habe sie mehrere Wochen lang keinen klaren Gedanken fassen können, mehrere Freunde hätten sie zu beschwichtigen versucht. „Sie meinten: lass es doch gut sein.“ Je mehr sie solche Äußerungen gehört habe, desto öfter dachte sie sich: Nein. Ich bleibe hier.Der Täter war ihr NachbarNoch sind es wenige Tage bis zum dritten Jahrestag des rechtsextremen Attentats von Hanau. Der Täter tötete in der Nacht des 19. Februar 2020 neun Menschen, seine Mutter und sich selbst. „Ich wusste nicht, dass der Täter ein Nachbar war“, sagt sie.Ihr Sohn Ferhat, schwer von den Schüssen im Bauch getroffen, konnte sich noch hinter den Tresen des Kiosks schleppen, das zeigen Aufnahmen einer Videokamera. Die Polizisten, die den Kiosk kurz nach den Schüssen betreten, seien davon ausgegangen, dass er tot sei. Ein Polizist sei mehrmals über ihn hinweggestiegen, ohne sich zu vergewissern, ob er noch lebe.„Er hat noch nach seinem Handy gegriffen“, sagt Unvar. Nachdem sie sich ein Blatt von einer Küchenrolle auf dem Tisch abgerissen hat, kann sie nur schwerlich weiterreden. „Am meisten schmerzt mich, dass er in seinem letzten Moment allein war.“ Sie atmet tief ein und wischt sich mit dem Blatt über die Augen. Die Idee für die Bildungsinitiative Ferhat Unvar kam ihr wenige Tage nach der Todesnachricht ihres Sohnes. „Als Ferhat ging“, sagt sie, „habe ich nur gedacht: Das kann doch nicht sein, dass wir umsonst gelitten haben?“Und sie konnte nicht mit sich vereinbaren, dass an die getöteten jungen Menschen nur an den Jahrestagen des Attentats erinnert wurde. „Das passt nicht zu meinem Ferhat“, erzählt sie, „er hatte keine Angst. Niemals.“ Unsere Generation, sie deutet auf sich, ist schwer zu mobilisieren, aber die Jugendlichen seien anders, sie hätten ähnliche Diskriminierungserfahrungen wie Ferhat erfahren und erlebten diese noch weiterhin. „Und deshalb muss ich ihnen von Ferhat erzählen und ihnen zuhören“, ist sich Unvar sicher.Die jungen Menschen aus der Initiative wurden zu Demokratietrainer*innen ausgebildet. Im Juni 2021 beginnen sie aufgrund der Pandemie mit Zoom-Workshops in Schulklassen. Aber nicht nur an Jugendliche richte sich die Bildungsinitiative, die im Juni 2021 die jetzigen Räumlichkeiten bezog, sondern auch an Frauen. Als alleinerziehende Mutter sei ihr bewusst, wie sehr die Frauen sich noch um die Erziehung der Kinder kümmerten. Noch in der Planungsphase ist ein weiteres Projekt, in dem sie Mütter, junge Freiwillige aus der Initiative und Lehrerinnen und Lehrer an einen Tisch bringen will, damit sie sich über Rassismus und Diskriminierungen im Schulsystem austauschen können.„Ich denke nie an Hindernisse, sondern immer nur an Lösungen“, sagt Unvar. Am Geburtstag von Ferhat, am 14. November 2020, verkündet sie die Gründung. Noch weiß sie damals nicht, wie sie das Projekt mit Leben erfüllen wird, sie hat viele Ideen und junge Mitstreiter*innen, meist Freunde und Bekannte von Ferhat, die mit ihr die neuen Räumlichkeiten am Freiheitsplatz beziehen, die Wände streichen, putzen und Stühle sowie einen großen Tisch für die Treffen aufbauen. Immer wieder hätten sie sich davor im Keller ihres Wohnhauses getroffen, um die Arbeit der Initiative zu planen. Kurz nach der Ankündigung erhalten sie die ersten Anfragen und improvisieren die Teamarbeit. „Aber die Jugendlichen haben ja alle zu tun, die müssen zur Schule oder zur Arbeit“, erzählt Unvar. Dieses Unfertige mobilisiert ihr Organisationstalent, auf das sie sich verlassen kann: „Ich denke immer nur nach vorn.“ Derzeit würden ein Projektkoordinator, dessen Stelle mit bundesweiten Spenden bezahlt wird, drei halbe Stellen aus Landesmitteln und viele Ehrenamtliche die Initiative tragen.Doch es mangele an einer stabilen staatlichen Förderung. „Allein für die Anträge braucht man eine Vollzeitstelle“, ist Unvar leicht erbost, aber sie ist sich sicher, dass ihr Herzensprojekt größer und größer wird. Ein halbes Jahr nach der Gründung beginnen sie mit den ersten Antirassismus-Workshops. Nicht nur Schulen, auch Organisationen fragen an.Zusammenbringen – ihr Ding„Mindestens ein junger Mensch aus der Initiative muss dabei sein“, sagt Unvar. „Denn junge Menschen vertrauen jungen Menschen.“ Im vergangenen Jahr hätten sie bundesweit über 60 Workshops angeboten, davon 15 in Hanau. Aber sie hat weitere Pläne. Sie will die internationalen Verbindungen stärken und plant, Anfang März nach Griechenland zu fahren.Dort will sie die Mutter von Pavlos Fyssas treffen. Der griechische Hip-Hopper und antifaschistische Aktivist wurde 2013 von einem Mitglied der mittlerweile verbotenen neonazistischen Partei Goldene Morgenröte erschossen. Ihr schwebt ein internationales Netzwerk von Betroffenen vor, deren Angehörige durch Anhänger von Rechtsextremen getötet wurden. Noch in diesem Jahr plant sie eine Reise in weitere Länder, im kommenden Jahr will sie dann die Hinterbliebenen aus dem Ausland nach Hanau einladen. „Meine Aufgabe auf dieser Welt ist es, Menschen zusammenzubringen“ sagt Unvar. Konkurrenzdenken, auch unter migrantischen Organisationen, läge ihr fern. Sowieso sei die Bildungsinitiative keine migrantische Organisation, sondern eine „Selbstorganisation“, wie sie es nennt, weil Ferhat nicht nur Freunde mit ausländischen Wurzeln gehabt hätte, die sich nun engagierten.Mit den vielen Freiwilligen aus der Initiative lebe Ferhat weiter. Die junge Generation wolle keinen Rassismus mehr dulden. „Die wachsen doch ganz anders auf. Ferhats Freunden mit deutschen Wurzeln war der Rassismus genauso peinlich, weil es ihren Freund betraf“, erzählt Unvar.Erwartet sie sich noch etwas von dem hessischen Untersuchungsausschuss, der die Versäumnisse des 19. Februar 2020 aufarbeiten soll? „Nein, vom Untersuchungsausschuss erwarte ich nichts mehr. Ich erwarte nur noch von der Gesellschaft etwas“, sagt sie nur. Auch die Idee für ein Mahnmal, das an die rassistische Tat erinnern sollte, wurde im vergangenen Jahr sang- und klanglos abgeblasen, weil die Angehörigen darauf bestanden, dass es auf dem zentralen Marktplatz in Hanau stehen sollte. Nach einem langwierigen Auswahlprozess war sich Bürgermeister Claus Kaminsky (SPD) laut einem Bericht der Zeit aber sicher, dass die Hanauer nur ein Denkmal auf dem Marktplatz akzeptieren würden, das der Gebrüder Grimm.Bei ihrer Antrittsrede im vergangenen Jahr sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD): „Ich kann Ihnen, liebe Frau Unvar, und allen Familien der Opfer von Hanau sagen: Wir werden Ihre Kinder nie vergessen, und wir werden alles tun, um die Menschen, die in unserem Land bedroht und angegriffen werden, besser zu schützen.“Zum ersten Mal wird Unvar da laut: „Und dann? Was passierte dann? Ich frage dich, was passierte dann?“ Warme Worte reichten ihr nicht. „Wir werden hier geboren, wir leben hier, wir sterben hier, wir sind ein Teil dieses Landes“, sagt Unvar. Und bevor das nicht jeder verstanden habe, würden die Opferfamilien weiter darum kämpfen, hör- und sichtbar zu bleiben.Die Medienaufmerksamkeit ist ihnen leider aus anderen Gründen auch weiterhin gewiss: Der 75-jährige Vater des Täters belästigt und bedroht seit Oktober 2022 die Opfer-Angehörigen. Unvar fragte er, wie sie sich denn solch ein Haus leisten könne. An einer nahe gelegenen Schule habe er die dortigen Schüler bedroht. Serpil Temiz Unvar hat ein Kontaktverbot erwirkt, welches bis zum Frühjahr gilt. Der Vater ignoriere das Verbot aber und lauere ihr weiterhin auf. „Ich weiß nicht, wer hier wen beschützt“, sagt Unvar.Am 19. Februar findet auf dem Hanauer Marktplatz um 11.30 Uhr das offizielle Gedenken der Stadt mit Vertreter*innen aus Politik und Gesellschaft statt, Bundesinnenministerin Nancy Faeser wird teilnehmen. Die Initiative 19. Februar, eine Gruppe rund um die Angehörigen und Freunde der Getöteten, wird um 16 Uhr auf dem Marktplatz demonstrieren. Parallel wird an diesem Tag ein Karnevalsumzug durch Hanau ziehen. „Unglücklich“ nennt das Unvar und zuckt mit den Schultern. „Es soll jeder tun, wonach ihm an dem Tag ist.“Ferhats Mutter wird am 19. Februar die Namen der Getöteten hören und gedanklich kurz zum Moment zurückkehren, als der Polizist auf der Wache den Familien die Namen der Toten alphabetisch verliest: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov. Aber „solange man sich an sie erinnert, sind sie nicht vergessen“.
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